Bohnen können politisch sein

In Algerien beginnt eine junge Generation von Filmemacherinnen und Filmemachern mit der Aufarbeitung der gewaltvollen Geschichte des Landes. Christopher Resch hat drei von ihnen getroffen.

Von Christopher Resch

Es wäre nicht die erste Revolte, die durch Essen ausgelöst wird. Den Darstellern im Film "Bloody Beans" von Narimane Mari hängt das immer gleiche Arme-Leute-Essen in ihrer Heimat Algiers zum Hals heraus: Rote Bohnen, jeden Tag – ganz im Gegensatz zu den französischen Besatzern. Die haben sogar Fleisch. Also beschließen sie die große Revolte im Kleinen und planen, den Franzosen ihr Essen zu stehlen.

Das Besondere: Die Darsteller sind noch Kinder. "In Algerien gibt es weniger Regeln, die Kinder sind viel freier und wilder. Mein Film handelt deshalb auch davon, was wir verloren haben, und dass wir früher die Kraft hatten, etwas zu verändern", erklärt die Regisseurin Mari. Das klingt deprimierend. Aber genau wie ihre Hauptdarsteller strotzt der Film vor Kraft, steckt voller Witz und Anspielungen. Er trotzt damit den Erfahrungen aus der algerischen Geschichte: der Kolonialzeit, den Toten im Unabhängigkeitskrieg, der dunklen Dekade der 1990er Jahre.

Algerisches Kino im Aufbruch

In den vergangenen Jahren ist im algerischen Kino einiges in Bewegung geraten. Eine junge Generation von Filmemacherinnen und Filmemachern befasst sich intensiv mit der Vergangenheit und deren Auswirkungen auf die aktuelle Situation im Land. "Angesichts zahlreicher gesellschaftlicher Tabus ist das keine Selbstverständlichkeit", lautet die zutreffende Beschreibung der Filmreihe "The Past in the Present – Neue Filme aus Algerien". Das Berliner Kino Arsenal hatte Anfang Mai gemeinsam mit dem Leibniz-Zentrum Moderner Orient und dem Goethe-Institut Algerien sieben Filme aus dem nordafrikanischen Land gezeigt. Alle sind in den vergangenen fünf Jahren entstanden. Es ist ein verdienstvoller Schritt, das algerische Kino auch in Deutschland bekannter zu machen.

Kinoplakat Film "Bloody Beans" der Regisseurin Narimane Mari
Den Darstellern im Film "Bloody Beans" von Narimane Mari hängt das immer gleiche Arme-Leute-Essen in ihrer Heimat Algiers zum Hals heraus: Rote Bohnen, jeden Tag – ganz im Gegensatz zu den französischen Besatzern. Die haben sogar Fleisch. Also beschließen sie die große Revolte im Kleinen und planen, den Franzosen ihr Essen zu stehlen.

Gerade "Bloody Beans", vielleicht der ungewöhnlichste Film in der Auswahl des Arsenal, hat in Form und Inhalt eine spannende Sprache gefunden. Etwa in der Szene auf einem alten christlich-jüdisch-muslimischen Friedhof in Algier, den die Kinder auf ihrem Weg zu den Besatzern überqueren. "Schau mal, das Grab da ist größer als mein Haus", ruft eines der Mädchen.

Die Dominanz und die Ungerechtigkeit hören also selbst im Tod nicht auf. Dass er keine Angst vor dem dunklen Friedhof habe, erklärt ein Junge damit, dass er die Geister den echten Soldaten vorziehe. "Die Realität war schlimmer als jede Vorstellung", erklärt Narimane Mari.

Was geschah im "schwarzen Jahrzehnt"?

Wegen mancher lustiger und teils absurder Szenen habe es ihr Film in Algerien zunächst schwer gehabt. Vor allem bei den Intellektuellen – die gewöhnlichen Leute hätten die Anspielungen auf den Unabhängigkeitskrieg gleich verstanden, sagt sie. Womöglich haben sie sich lebhafter an frühere Hochzeiten des algerischen Kinos erinnert: "In den 60ern und 70ern sind die Algerier gerne ins Kino gegangen.

Vielleicht ist das jetzt das Nachspüren der Vergangenheit", erklärt der Regisseur Karim Moussaoui. Er war mit dem Episodenfilm "Until the Birds Return" bei den Filmtagen vertreten.

Eine der Episoden nimmt Bezug auf den Bürgerkrieg der 1990er Jahre, in dem bis zu 200.000 Menschen starben. Die Angaben schwanken stark, auch weil eine Aufarbeitung der Gräueltaten von Islamisten und Militär in weiter Ferne ist. "Wir müssen Geschichten über das erzählen, was in den 90ern passiert ist", erklärt Moussaoui, geboren 1976. "Und dazu müssen wir uns unsere eigenen Bilder machen, weil wir aus dieser Zeit keine Bilder haben."

Hierfür spielen die Ciné-Clubs eine wichtige Rolle. Die jungen Filmenthusiasten haben in den vergangenen Jahren alte Kinosäle wiederbelebt, algerische Filme sichtbar gemacht und einen Raum für offenere Debatten geschaffen. Durch den andauernden Bürgerkrieg blieb für Kultur lange weder Muße noch Zeit – von staatlichem Geld ganz zu schweigen. "Die Ciné-Clubs waren für uns ein Treffpunkt", beschreibt Moussaoui, zum Netzwerken und für den Austausch untereinander. "Für uns war das sehr wichtig, hier haben wir uns weitergebildet und eine Menge über das Filmemachen gelernt."

Das Leid der jüngeren Generation

Karim Moussaoui war am Aufbau der Clubs ebenso direkt beteiligt wie Djamel Kerkar. Dessen Film "Atlal" nähert sich in ruhigen Bildern von großer Schönheit den Menschen im Ort Ouled Atlal, südlich von Algier. Obwohl sie aus verschiedenen Generationen stammen, hat jeder für sich als 20-Jähriger Leid und Krieg erfahren. Die letzte Szene des Films zeigt ein langsam erlöschendes Lagerfeuer, dahinter eine graue Betonwand.

"Eine komplette Generation wurde durch den Krieg in den 90ern zerstört. Das Ende ist eine Hommage an diese Generation und an all das, was sie opfern mussten", erklärt Kerkar. Und Moussaoui ergänzt: "Natürlich ist diese Vergangenheit für uns sehr präsent. Ein junger Europäer kann das vielleicht nicht nachvollziehen, schließlich gab es in Westeuropa seit 1945 keinen Krieg mehr. Trotzdem, wir Algerier leben deshalb nicht mehr in der Vergangenheit als andere."

"Die Realität war schlimmer als jede Vorstellung", hatte Narimane Mari über eine der Szenen in ihrem Film gesagt. Ist sie das auch heute noch? Einem konkreten Urteil und zu offener Kritik entziehen sich die Filme. Es sei nicht ihre Aufgabe als Filmemacherin, Dinge zu verändern, erklärt Mari. Auch Moussaoui und Kerkar betonen, dass sie Bilder zeigen und Geschichten erzählen wollen. Dennoch: Am Ende sei alles politisch.

Bohnen können politisch sein, und Fürze auch. Denn wenn die Kinder in "Bloody Beans" wegen des gleichförmigen Essens so schrecklich furzen müssen und daraufhin ihre Revolte starten, bezieht der Zuschauer das sogleich auch auf das Jetzt: Brot und Gerechtigkeit waren zwei der zentralen Forderungen der arabischen Revolutionen. Ihren jungen Darstellern habe sie solche Bezüge nicht aufs Auge drücken wollen, sagt Narimane Mari – sie sei ja nicht ihre Geschichtslehrerin. Ohnehin sei es den Kindern mehr um praktische Dinge gegangen.

In einer Szene auf dem Friedhof etwa werden ihre Schatten an eine Mauer geworfen. Aus einem Luftballon wird so eine Waffe, aus einem schmächtigen Jungen ein kräftiger Mann. Wenn Kinder lernen, dass es auf sie ankommt, dass sie sich und ihren Körper einsetzen können, dann hat ein Film viel erreicht.

Christopher Resch

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