"Bei uns gehen auch Mädchen weiter zum Unterricht“ 

In Afghanistan ist Bildung für Mädchen und Frauen immer noch möglich, sagt Reinhard Erös von der Initiative "Kinderhilfe Afghanistan“. Im Interview mit Elisa Rheinheimer spricht er über schiefe Medienbilder, den großen Hunger und warum Hilfsorganisationen zurückkehren sollten.

Von Elisa Rheinheimer

Ende August letzten Jahres, kurz nach der Machtübernahme Afghanistans durch die Taliban, zeigten Sie sich optimistisch, dass es auch unter den neuen Machthabern mit Ihren Schulen weitergehen wird – auch für Mädchen. Hat sich das bewahrheitet? 

Reinhard Erös: Ja, so ist es gekommen. In allen unseren Mädchenoberschulen gehen die Mädchen weiterhin bis zur 12. Klasse täglich zum Unterricht. Auch die Ausbildung in unseren Computerklassen, an unseren Berufsschulen und an der Uni verläuft ungestört. Ich war kürzlich selbst vor Ort und konnte mir ein Bild von der Lage machen. Einige Computerklassen und Schneiderinnenschulen, an denen junge Frauen ausgebildet werden, sind erst in den letzten Monaten entstanden, also nach der Machtübernahme der Taliban und nachdem die Amerikaner – die verhassten Besatzer – abgezogen waren.  

Das ist eine überraschende Aussage angesichts der Schreckensmeldungen der letzten Monate, die davon zeugen, wie schlimm die Situation für afghanische Frauen und Mädchen ist.  

Erös: Diese Berichterstattung nervt mich kolossal. Dass auf dem Land rund 95 Prozent der Menschen hungern, darüber wird wenig berichtet – aber dass die afghanische Mädchenfußballmannschaft nicht mehr spielen darf, ist das bestimmende Thema bei uns. Da stimmt was nicht mit der Schwerpunktsetzung.



Wir sind mit unserer Stiftung im Osten des Landes tätig, in den Provinzen Nangahar, Laghman und Kunar. Nangahar ist die größte und wirtschaftlich stärkste Provinz, und dort habe ich bei meinem letzten Besuch Familien getroffen mit fünf, sechs Kindern, deren Eltern jeden Tag bangen, ob sie ihre Kinder satt kriegen. Das bewegt die Mehrheit der Afghaninnen und Afghanen.

Weltfrauentag in einem Projekt der Kinderhilfe Afghanistan; Foto: Kinderhilfe Afghanistan
Bildung für Mädchen und Frauen unter den Taliban: "In allen unseren Mädchenoberschulen gehen die Mädchen weiterhin bis zur 12. Klasse täglich zum Unterricht,“ berichtet Reinhard Erös. "Auch die Ausbildung in unseren Computerklassen, an unseren Berufsschulen und an der Uni verläuft ungestört. Ich war kürzlich selbst vor Ort und konnte mir ein Bild von der Lage machen. Einige Computerklassen und Schneiderinnenschulen, an denen junge Frauen ausgebildet werden, sind erst in den letzten Monaten entstanden, also nach der Machtübernahme der Taliban und nachdem die Amerikaner – die verhassten Besatzer – abgezogen waren.“  



Wirklich gebildete Frauen machen im Land etwa drei Prozent der Bevölkerung aus, aber in der hiesigen Berichterstattung spielen fast nur sie eine Rolle. Dieses Ungleichgewicht ärgert mich maßlos.   

"Kinder müssen keine Angst mehr vor US-Drohnen haben"

Inwiefern hat sich Ihre Arbeit seit der Machtübernahme der Taliban verändert? 

Erös: Ich kann nur für unsere Schulen sprechen, aber dort hat sich die Situation sogar verbessert seit der Machtübernahme der Taliban im Sommer 2021 – weil jetzt kein Krieg mehr herrscht. Nun müssen die Kinder auf dem Schulweg keine Angst mehr haben vor den Drohnen der Amerikaner und den Gefechten der US-Truppen mit den Aufständischen. In den vergangenen 18 Jahren sind durch amerikanische Luftangriffe etwa hundert meiner Schüler getötet worden und circa 500 Eltern.  

Und was hat sich zum Negativen verändert? 

Erös: Es hat sich für uns nichts zum Negativen verändert, außer dass der Hunger schlimmer geworden ist. Aber das wollen deutsche Journalisten offensichtlich nicht hören.  

Es ist ja erfreulich, dass Sie gute Erfahrungen mit den Taliban gemacht haben, aber da handelt es sich wohl um eine punktuelle Zusammenarbeit auf lokaler Ebene und nicht um die strategische Linie der Taliban-Führung… 

Erös: Ich verhandele mit Taliban, die in Afghanistan als Gouverneure einem deutschen Ministerpräsidenten entsprechen. Von kleinen Lichtern kann man hier also nicht sprechen. Die kennen mich zum Teil schon aus den 1980er Jahren, als ich während des sowjetischen Krieges als Arzt in Afghanistan tätig war.



Ich bin seit fast vierzig Jahren im Land und die Afghanen bezeichnen mich als "deutschen Afghanen“. Ich stehe z.B. mit dem Minister für Erziehung und mit dem Minister für Gesundheit regelmäßig in Kontakt, da meine Stiftung nicht nur Bildungsprojekte fördert, sondern wir seit Oktober beispielsweise 170.000 Familien mit Lebensmittelpaketen versorgt haben.



Ich habe einen positiven Stein im Brett bei vielen Afghanen, auch bei Taliban-Führern. Kabul interessiert mich dabei nicht, ich bin im Osten tätig und habe dort physische und geistige Bewegungsfreiheit. Im Übrigen ist Ihre Frage auch schon wieder falsch.

Weltfrauentag in einer Schule der Kinderhilfe Afghanistabn; Foto: Kinderhilfe Afghanistan
Weltfrauentag in einem Projekt der Kinderhilfe Afghanistan: "Im März 2022 feierten wir als einzige Organisation den Weltfrauentag,“ sagt Reinhard Erös. "An den Feierlichkeiten nahm auch der stellvertretende Erziehungsminister teil“. Für Erös hat die Berichterstattung über Frauen in Afghanistan eine Schieflage, da sie sich in erster Linie an einer kleinen Schicht von etwa drei Prozent gebildeten Frauen in der Hauptstadt Kabul orientiere. "Die Berichterstattung nervt mich kolossal. Dass auf dem Land rund 95 Prozent der Menschen hungern, darüber wird wenig berichtet – aber dass die afghanische Mädchenfußballmannschaft nicht mehr spielen darf, ist das bestimmende Thema bei uns. Da stimmt was nicht mit der Schwerpunktsetzung.“

  

"Die Taliban sind keine homogene Gruppe"

Inwiefern?  

Erös: Sie fragen nach „d e n Taliban“.  Aber „d i e“ Taliban gibt es nicht, sie sind keine homogene Gruppe. Gemeinsam haben sie allerdings, dass die meisten von ihnen kaum Bildung genossen haben und noch nie im Ausland waren. Die etwas Klügeren unter ihnen hören immerhin die Dari- und Paschtu-Programme der Deutschen Welle und der BBC, die weiterhin ausgestrahlt werden. Die hier weit verbreitete Vorstellung, dass es in den vergangenen zwanzig Jahren zwischen Taliban und allen anderen Afghanen nur Feindseligkeiten gab, ist übrigens auch falsch.  

Lassen Sie uns wieder über das Thema Bildung sprechen. Wieviele Frauen sind jetzt noch unter Ihren afghanischen Mitarbeitenden?  

Erös: Ich bin einer der größten privaten Schulbetreiber in Afghanistan: Rund 65.000 Kinder besuchen unsere Schulen und wir beschäftigen etwa 1.600 afghanische Mitarbeiter. Davon sind nach wie vor zwei Drittel Frauen. Und ich bin es satt, immer wieder betonen zu müssen, dass das weiterläuft – das dürfte nun deutlich geworden sein.  

Mit welchen Argumenten überzeugen Sie Taliban ebenso wie traditionell eingestellte Eltern und lokale Stammesfürsten, dass Mädchen auch über das Alter von 12 Jahren hinaus zur Schule gehen sollten? 

Erös: Ich muss die nicht überzeugen, ganz im Gegenteil. Es gibt zu wenig Schulen und Lehrkräfte im Land, dabei ist der Bedarf groß. In den vergangenen Jahren mussten wir teilweise in Dreier-Schichten an den Schulen unterrichten, weil so viele Kinder kamen. Die Amerikaner haben rund 1200 Milliarden Dollar für die Sicherheit in Afghanistan ausgegeben, aber davon wurden nur sechs Prozent für den zivilen (Wieder-) Aufbau etwa von Schulen und Krankenhäusern verwendet. Das ist das eigentliche Problem.

Der Arzt und ehemalige Offizier Reinhard Erös; Quelle: Erös
Engagiert und meinungsstark: Der Arzt und ehemalige Bundeswehroffizier Reinhard Erös hat die Initiative Kinderhilfe Afghanistan gegründet und kennt das Land seit fast 40 Jahren. Die Initiative ist einer der größten privaten Schulbetreiber in Afghanistan: Rund 65.000 Kinder besuchen die Schulen, die etwa 1.600 afghanische Mitarbeiter beschäftigen. "Davon sind nach wie vor zwei Drittel Frauen,“ sagt Erös. “Und ich bin es satt, immer wieder betonen zu müssen, dass das weiterläuft – das dürfte nun deutlich geworden sein.“  





Beschönigen Sie die Lage unter den Taliban nicht, wenn Sie alles Leid und Übel ausschließlich auf die Amerikaner schieben?  

Erös: Wenn Sie so weiterfragen, beenden wir besser das Interview. 

Das wäre schade. Lassen Sie uns über die Situation an den Universitäten sprechen. Viele Beobachter hierzulande, aber auch Afghaninnen und Afghanen befürchten, dass bald nur noch religiöse Inhalte gelehrt werden und naturwissenschaftliche Fächer oder Geschichte völlig gestrichen beziehungsweise komplett umgeschrieben werden müssen.   

Erös: Blödsinn! An unserer privaten Uni in der Provinz Laghman gibt es drei Fakultäten: Landwirtschaft, IT, und afghanische Geschichte, und alles läuft normal weiter.



Die Uni wird von Studierenden beiderlei Geschlechts besucht. Jetzt nach den Sommersemesterferien sind wieder ca. 200 junge Frauen an die Uni zurückgekehrt.



An der staatlichen Universität in Jalalabad, der Hauptstadt der Provinz Nangahar, sind circa 35 Prozent Frauen an der medizinischen Fakultät eingeschrieben. Fünfzig von ihnen erhalten übrigens ein Stipendium von uns. 

Wenn es bei Ihnen so gut läuft, was können sich dann andere von Ihnen abschauen?  

Erös: Es gibt ja kaum noch westliche Hilfsorganisationen im Land, die sind alle abgehauen vor lauter Angst.



Ich ermuntere die deutschen Hilfsorganisationen, endlich weiterzuarbeiten. Die Taliban tun Ihnen nichts.

Das Dämonisieren der Taliban ist ebenso katastrophal falsch wie das Glorifizieren der westlichen Präsenz in Afghanistan. Der Westen, der Milliarden an Geldern ins Land gepumpt hat, hat dazu beigetragen, dass Afghanistan - so schreibt es Transparency International - zu einem der korruptesten Länder der Welt geworden ist.    

Das Interview führte Elisa Rheinheimer  

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