"Jerusalemer Erklärung" mit neuer Definition zu Antisemitismus

Es gibt eine neue Definition für Antisemitismus. Sie sieht sich als differenziertere Alternative zur IHRA-Definition - auch mit Blick auf die Frage, wann Kritik an Israel in Antisemitismus umschlägt.



Berlin. Was ist Antisemitismus? In manchen Punkten fällt die Antwort eindeutig aus, in anderen nicht. Es gibt diverse Regierungen und Institutionen, die dafür die Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) zurate ziehen. Jetzt liegt eine weitere Definition vor: die "Jerusalemer Erklärung". Erarbeitet haben sie internationale Forscher der Antisemitismus- und ähnlichen Studien, und sie ist als Alternative zur IHRA-Definition gedacht.



Bisher haben rund 200 Antisemitismusforscher, Wissenschaftler aus anderen Bereichen und Autoren die Definition unterzeichnet. Darunter sind der Historiker Moshe Zimmermann, der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz, die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, die Schriftstellerin Eva Menasse und der Erziehungswissenschaftler und Publizist Micha Brumlik.



"Diese Erklärung finde ich zum Beispiel sinnvoll, damit nicht jede Kritik an der israelischen Politik in die Gefahr von Antisemitismus geraten kann", sagt Brumlik der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Der größte Unterschied zur IHRA sei, dass Antisemitismus "sehr viel deutlicher und genauer" beschrieben werde. Der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Uwe Becker, dagegen sieht in der "Jüdischen Allgemeinen" "insbesondere für die Gegner des jüdischen Staates einen Freibrief zur geradezu grenzenlosen 'Israelkritik'".



In der Vorbemerkung der neuen Definition heißt es, dass Antisemitismus einige "spezifische Besonderheiten" aufweise. Der Kampf dagegen sei jedoch "untrennbar mit dem allgemeinen Kampf gegen alle Formen rassistischer, ethnischer, kultureller, religiöser und geschlechtsspezifischer Diskriminierung" verbunden.



Die Erklärung will das Vorgehen gegen Antisemitismus stärken, indem er definiert werde und auch Räume für eine offene Debatte über die "umstrittene Frage der Zukunft Israels/Palästinas" geschützt würden. Aus Sicht der Autoren schafft die IHRA-Definition Verwirrung bei den Unterschieden zwischen antisemitischer Rede und legitimer Kritik an Israel und dem Zionismus. Das neue Papier wolle eine Orientierung bieten, um die Grenzen besser erkennen zu können.



"So könnte etwa Feindseligkeit gegenüber Israel Ausdruck eines antisemitischen Ressentiments sein oder auch eine Reaktion auf eine Menschenrechtsverletzung oder eine Emotion, die eine palästinensische Person aufgrund ihrer Erfahrungen durch Handlungen seitens der staatlichen Institutionen Israels empfindet." Insgesamt sei bei der Anwendung der Leitlinien Sensibilität und die Beachtung des jeweiligen Kontextes nötig, heißt es.



Laut Definition ist es antisemitisch, den Holocaust zu verharmlosen oder zu leugnen, anzunehmen, Juden seien mit den "Mächten des Bösen" verbunden, Chiffren wie "die Rothschilds" zu nutzen oder Juden kollektiv für das Verhalten Israels verantwortlich zu machen.



Dazu kommen Punkte, die international für heftige Diskussion sorgen. So ist laut Definition - "unabhängig davon, ob man die Ansicht oder Handlung gutheißt oder nicht" - der umstrittene Vergleich Israels mit "historischen Beispielen einschließlich Siedler-Kolonialismus oder Apartheid" nicht "per se" antisemitisch. "Im Allgemeinen gelten im Fall Israels und Palästinas dieselben Diskussionsnormen, die auch für andere Staaten und andere Konflikte um nationale Selbstbestimmung gelten."



Und mit Blick auf die BDS-Debatte: "Boykott, Desinvestition und Sanktionen sind gängige, gewaltfreie Formen des politischen Protests gegen Staaten. Im Fall Israels sind sie nicht per se antisemitisch."



Das Bundesinnenministerium verwies jüngst auf den Beschluss des Bundestages, wonach die BDS-Bewegung antisemitisch ist - das sei für die Regierung "unverändert handlungsleitend". Kritik an israelischer Regierungspolitik sei "selbstverständlich" möglich, ohne dass sie zum Vorwurf des Antisemitismus führe. "Dies verbietet auch die IHRA-Definition nicht." Diese hat auch die Bundesregierung "zur Grundlage ihrer politischen Arbeit" gemacht.



Die "Jerusalemer Erklärung" soll genauso wenig rechtsverbindlich sein wie die IHRA-Arbeitsdefinition. Botschafterin Michaela Küchler sagt jetzt in einem KNA-Interview zur Übergabe des deutschen IHRA-Vorsitzes an Griechenland an diesem Donnerstag: "Die Definition ist insgesamt zum Standard für das Erkennen von Antisemitismus geworden."



Nun gibt es möglicherweise eine Konkurrenz. Brumlik betont: "Mir kommt es zunächst darauf an, dass eine neue, lebhafte Diskussion in Gang kommt." Auch das Innenministerium geht von einer Belebung des Diskurses aus - dies sei "in diesem Sinne grundsätzlich zu begrüßen". (KNA)