Interview mit Psychotherapeut Ibrahim Rüschoff: Über Gottesbilder und die Herausforderungen der Integration

Terrorismus, Kopftuch, Halal-Fleisch in Kitas - diese Reizthemen prägen die öffentliche Sicht auf den Islam, die meisten Muslime treiben allerdings ganz andere Probleme um, sagt der Psychotherapeut Ibrahim Rüschoff. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht er über Gottesbilder und die Herausforderungen der Integration. 

Herr Dr. Rüschoff, welche Rolle spielt die Religion grundsätzlich für die Psychotherapie?

Rüschoff: Traditionell sind viele Psychotherapeuten gegenüber der Religion eher reserviert eingestellt. Aber das verändert sich: So gibt es in der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) seit einiger Zeit ein eigenes Referat "Spiritualität und Religion". Religion wird zunehmend als sinnstiftendes Element im Leben erkannt. Sie kann Sinnhorizonte öffnen, die sonst nicht da wären. Mangelnder Sinn ist nur schwer zu ertragen.

Kann Religion einem Heilungsprozess auch im Weg stehen?

Rüschoff: Eine unreif oder neurotisch gelebte Religion mit einem übermäßig strafenden Gottesbild kann beispielsweise hinderlich sein. Das liegt aber weniger an der Religion als an der persönlichen Sicht des Patienten. Im Islam ist Barmherzigkeit die wichtigste Eigenschaft Gottes. Das wissen alle Muslime - aber sie spüren es oft kaum.

Wie erklärt sich dieser Widerspruch?

Rüschoff: Die ersten "Götter" eines Menschen, eines Kindes, sind die Eltern. Etwas vereinfacht dargestellt, erfahren Kinder Allmacht als erstes durch ihre Eltern. Das spätere Bild eines allmächtigen Gottes - hilfreich, strafend oder rachsüchtig - ist stark von diesen Erfahrungen geprägt. Wenn eine Therapie solche Prägungen lockern kann, wird auch die Religion unproblematischer. Sie wird dann spiritueller und nicht mehr als beängstigend erlebt.

Durch hohe Flüchtlingszahlen stellt sich die Frage nach Psychologen mit Kenntnissen über den Islam. Wie schätzen Sie diesen Bedarf ein?

Rüschoff: Kenntnisse über die Lebens- und Wertewelt des Patienten sind natürlich immer hilfreich. Dennoch rate ich immer, sich den besten Therapeuten zu suchen, den man finden kann - ob Muslim oder nicht.

Ein Therapeut beschäftigt sich den ganzen Tag mit den verschiedenen Welten seiner Patienten und wird jeden in seiner subjektiven Wirklichkeit ernst nehmen. Zudem arbeiten muslimische Therapeuten ja auf derselben wissenschaftlichen Basis wie andere auch. Der Unterschied ist allerdings, dass uns viele Patienten einen gewissen Vertrauensvorschuss geben.

Wie zeigt sich das?

Rüschoff: Bestimmte Fragen fassen die Patienten nicht gleich so auf, als wollte man sie vom Glauben abbringen - sondern als kritisches Hinterfragen von Handlungen. Hinzu kommt: Eine muslimische Therapeutin kann bei einer muslimische Patientin zum Beispiel viel eher als Vorbild in punkto Selbstbestimmung erlebt werden als eine nichtmuslimische Frau. Ich selbst habe immer wieder mit muslimischen Männern zu tun, die sich von Müttern abgrenzen müssen, da ist es ähnlich. 

Wenn aber zum Beispiel jemand aus einem entlegenen Tal Afghanistans vom Krieg traumatisiert in der Praxis erscheint, dann hilft Wissen um den Islam auch nur bedingt weiter.

Rüschoff: Für Flüchtlinge ist es nicht so entscheidend, mit einem muslimisch versierten Menschen zu sprechen. Sogenannte interkulturelle Kompetenz ist hier wichtiger, zumal die Religion im Leben des Einzelnen vielleicht gar keine so große Rolle spielt, wie wir glauben.

Gibt es über das Geschlechterverhältnis hinaus weitere Themen, die man als "muslimische" Themen bezeichnen könnte?

Rüschoff: Probleme im Geschlechterverhältnis sind nicht spezifisch muslimisch. Rund ums Mittelmeer sind die Sozial- und Familienstrukturen ähnlich, insbesondere auf dem Land: Orthodoxe Griechen, katholische Sizilianer, koptische Ägypter oder muslimische Marokkaner unterscheiden sich da nicht sehr. Die sozialen Bedingungen prägen sehr viel stärker. Insofern gibt es keine "muslimischen" Themen - aber durchaus Themen, die Muslime oft beschäftigen.

Welche?

Rüschoff: Zum Beispiel Geschlechterbeziehungen, ein ausgeprägtes Rollendenken, eine häufige Betonung von Pflichten und Rechten in der Ehe anstatt die Orientierung an Aufgaben und Fähigkeiten. Die Familienbindungen sind zumeist stark, und wenn Erziehung stets religiös begründet wird, ist die Ablösung von den Eltern ein schwieriger Schritt. Die elterliche Erwartung bezüglich Gehorsam ist oft unangemessen hoch. Wenn Kinder eine andere Meinung vertreten, gelten sie schnell als respektlos, so dass sie oft nur schwer ein Gefühl für angemessenes Konfliktlösungsverhalten entwickeln können. Im Erwachsenenalter gibt es dann oft nichts zwischen Schweigen oder massiver Auseinandersetzung.

Spielen politische Themen eine Rolle, etwa der Streit ums Kopftuch?

Rüschoff: Kaum. Ich habe fast 80 Prozent muslimische Patienten, davon circa 70 Prozent Frauen - und Kopftuch ist fast nie ein Thema. Die Probleme liegen zumeist in der Familie oder am Arbeitsplatz.

Ein "Spiegel"-Essay stellte kürzlich die Frage "Ist Islamismus heilbar?". Was antworten Sie?

Rüschoff: Ist Islamismus überhaupt eine Krankheit, müsste man zurückfragen. Ein frommer Muslim, der dem Vorbild des Propheten folgt und religiöse Gebote beachtet, übt sein gutes Recht aus. Das ist keine Krankheit. Islamismus ist ein vielschichtiges Problem, die Religion ist nur ein Teil davon. Problematisch wird es, wenn eine religiöse Orientierung im Sinne einer persönlichen Konfliktbewältigung benutzt wird. Wenn ein seelisch gestörter Mensch eine kriminelle Tat religiös überhöht, ist die Störung vielleicht behandelbar - aber die Tat selbst hat herzlich wenig mit Religion zu tun. Ein muslimischer Krimineller ist ein Krimineller, auch wenn er sich auf die Religion beruft.

Müsste hier auch die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Radikalisierung ansetzen?

Rüschoff: Die Gesellschaft tut sich insgesamt schwer mit der Integration alternativer Lebensentwürfe. Viele Menschen, insbesondere Jugendliche, haben das Gefühl, dass sie von einer gerechten Teilhabe ausgeschlossen sind - und manche reagieren darauf mit Trotz: Wenn ihr mich ohnehin nur als Problem seht, dann bin ich eben eins. Deswegen erreicht man auch radikalisierte Jugendliche kaum mit religiösen Argumenten: Ihnen geht es nicht um den Islam, sondern um soziale Anerkennung.

Was müsste geschehen?

Rüschoff: Sie können in Deutschland an Ufos glauben oder an sonstwas - Hauptsache, Sie verhalten sich wie alle. Ein Kopftuch, Gebet in der Schule oder am Arbeitsplatz, Abstand zu gemischtem Schwimmen, die Ablehnung vor- oder außerehelicher Sexualität oder der Wunsch nach einem würdigen Gotteshaus werden als Provokation erlebt. Psychologisch gesehen spricht das für eine Verunsicherung. Wer souverän ist, kann den anderen lassen, wie er ist - wer es nicht ist, strebt unbedingt Homogenität an, versucht, den anderen zu assimilieren oder, wenn er sich widersetzt, ihn auszugrenzen. (KNA)