Empörung mit Verspätung: Scholz, Abbas und der Holocaust-Eklat

Ausgerechnet im Berliner Kanzleramt wirft Palästinenserpräsident Abbas Israel 50-fachen Holocaust vor. Eine deutliche Reaktion von Scholz lässt lange auf sich warten - zu lange? Von Michael Fischer und Christina Storz, dpa



Berlin. «Furchtbarer Eklat», «unsäglich», «unerträglich»: Das Entsetzen von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und seinem Regierungssprecher Steffen Hebestreit über das, was sich am Vortag bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Palästinenserpräsident Mahmud Abbas im Kanzleramt ereignet hatte, kam mit reichlich Verspätung. Und auch nur Schritt für Schritt. In der Pressekonferenz verpasste Scholz seine Chance zu reagieren, im Verlauf des Abends folgte ein recht dünner Satz auf Mediennachfrage.



Erst einen Tag später verurteilte Scholz den Holocaust-Vorwurf des Palästinenserpräsidenten an Israel per Twitter in aller Deutlichkeit und ließ seinen Regierungssprecher am Mittwochmittag noch einmal nachlegen. Da war die Empörung über Abbas schon längst von der Kritik über die zurückhaltende Reaktion des Kanzlers abgelöst worden.



Doch erst einmal von vorne, was ist passiert? Ausgerechnet im Berliner Kanzleramt, nur wenige Hundert Meter von den Orten entfernt, von denen aus die Nazis die systematische Ermordung von sechs Millionen Juden geplant haben, wirft Abbas Israel einen 50-fachen Holocaust an den Palästinensern vor. Und das auch noch in Anwesenheit des Bundeskanzlers, für den wegen des Holocaust die Sicherheit Israels zur Staatsräson gehört. Einen viel unangenehmeren Eklat bei einer solchen gemeinsamen Pressekonferenz kann man sich kaum vorstellen.

«50 Massaker, 50 Holocausts»

Gefragt wurde Abbas eigentlich, ob er sich zum 50. Jahrestag des von palästinensischen Terroristen verübten Attentats auf die israelische Olympiamannschaft in München bei Israel entschuldigen werde. Dazu fällt kein Wort. Stattdessen antwortet der Präsident: «Israel hat seit 1947 bis zum heutigen Tag 50 Massaker in 50 palästinensischen Orten begangen.» Und: «50 Massaker, 50 Holocausts.»



Das sind Worte - da waren sich am nächsten Tag eigentlich alle einig -, die ein Kanzler mit klaren Worten erwidern muss. Scholz tut genau das an anderer Stelle in der Pressekonferenz, als Abbas die israelische Politik als «Apartheidsystem» bezeichnet. Er nimmt Blickkontakt zu seinem Sprecher auf, signalisiert, dass er da widersprechen wird, und sagt dann: «Ich will ausdrücklich hier an dieser Stelle sagen, dass ich mir das Wort Apartheid nicht zu eigen mache und dass ich das nicht für richtig halte für die Beschreibung der Situation.»



An dieser Stelle funktioniert die Kommunikation zwischen Kanzler und Sprecher noch. Später dann nicht mehr. Die Holocaust-Äußerungen des Palästinenserpräsidenten sind die Antwort auf die vierte und letzte Frage der Pressekonferenz. Scholz verfolgt sie mit versteinerter Miene, bleibt anschließend am Pult stehen und macht den Anschein, als ob er erneut erwidern wolle. Gleichzeitig beendet Hebestreit aber die Pressekonferenz.

Verpasste Chance: Scholz hatte zwei, drei Sekunden Zeit

Keine Frage: Scholz hätte trotzdem das Wort ergreifen können. Zwei, drei Sekunden hat er Zeit, in die Abmoderation Hebestreits zu grätschen und den Holocaust-Vorwurf zurückweisen. Er verpasst die Chance. Stattdessen folgt der obligatorische Handschlag zur Verabschiedung Abbas'. Auch kein gutes Bild nach einer solchen Äußerung.

Hebestreit nimmt alles auf seine Kappe. Es sei ein Fehler gewesen, die Pressekonferenz sofort für beendet zu erklären, sagt er. Die Mikrofone seien anschließend aus gewesen und es habe Aufbruchsstimmung geherrscht. «Deswegen sah er (Scholz) sich auch nicht in der Situation, da auch mal alle zurückzupfeifen.»



Aber auch nach der ersten verpassten Chance wird das Entsetzen über Abbas vom Kanzleramt nur nach und nach kommuniziert. Hebestreit erklärt zwar schnell, dass der Kanzler empört sei. Eine erste Scholz-Äußerung dazu gibt es aber erst am Abend auf Nachfrage der «Bild»-Zeitung. Es ist nur ein knapper Satz: «Gerade für uns Deutsche ist jegliche Relativierung des Holocaust unerträglich und inakzeptabel.»

Erst am nächsten Morgen wird der Kanzler deutlich

Es dauert bis zum nächsten Morgen, bis der Kanzler deutlicher wird und Abbas auf Twitter direkt angreift und dessen Aussagen als «unsäglich» bezeichnet. Hebestreit legt mittags in der Regierungs-Pressekonferenz noch einmal nach. Abbas' Äußerung werde auch das persönliche Verhältnis zwischen dem Kanzler und dem Präsidenten «schwer überschatten», sagt er. Zu diesem Zeitpunkt geht es in der Diskussion über die denkwürdige Szene im Kanzleramt schon längst mehr um das Schweigen des Kanzlers als um die Worte seines Gastes. CDU-Chef Friedrich Merz nannte das Verhalten des Kanzlers noch am Abend «unfassbar».

Der Kanzler hätte dem Palästinenserpräsidenten «klar und deutlich widersprechen und ihn bitten müssen, das Haus zu verlassen», twittert der Oppositionsführer. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, nennt es skandalös, dass Scholz nicht unmittelbar widersprochen hat.

Schaden für die deutsch-israelischen Beziehungen?

Die israelische Regierung konzentriert ihre Kritik dagegen weiter auf Abbas. Ministerpräsident Jair Lapid spricht etwa von einer «ungeheuerlichen Lüge», Verteidigungsminister Benny Gantz von einem Versuch, die Geschichte zu verzerren, und Justizminister Gideon Saar von «schändlichen Worten» - zu Scholz kein Wort.

Der neue israelische Botschafter in Deutschland nimmt Scholz sogar indirekt in Schutz. Dem israelischen Armeesender sagt er, der Kanzler habe «sehr klar geäußert, dass er von dieser Äußerung angeekelt ist».



Es sei beleidigend, dass Abbas «diese Dinge in Gegenwart des Kanzlers in Deutschland» gesagt habe. Anders sieht es in den sozialen Netzwerken in Israel aus, besonders im rechten Spektrum wird Scholz' Umgang mit Abbas scharf kritisiert. Ob ein Schaden für die deutsch-israelischen Beziehung entstanden ist, bleibt erstmal abzuwarten. Am Donnerstag steht ein Telefonat zwischen Scholz und Lapid an.

Nicht der erste Abbas-Eklat

Der 86-jährige Abbas ist dafür bekannt, umstrittene Aussagen hinterher wieder zu relativieren oder sich dafür zu entschuldigen. Einen «Holocaust» an den Palästinensern hatte er Israel aber - zumindest auf internationaler Bühne - so noch nicht vorgeworfen. 2018 entschuldigte er sich etwa für die Aussage, der Holocaust sei nicht durch Antisemitismus, sondern durch die soziale Stellung der Juden als Verleiher von Krediten mit Zinsen ausgelöst worden. Als äußerst umstritten gilt auch seine Anfang der 1980er Jahre vorgelegte Doktorarbeit. Abbas hatte darin den Holocaust relativiert und der zionistischen Bewegung vorgeworfen, sie habe mit dem Hitler-Regime kollaboriert. Die Judenvernichtung während des Holocausts bezeichnete er dann erstmals 2014 als das «schlimmste Verbrechen der Neuzeit».



Auch beim jüngsten Holocaust-Eklat rudert er anschließend zurück. Er habe nicht die Einzigartigkeit des Holocaust infrage stellen wollen, teilt er am Mittwoch mit. Zuvor hatte das Kanzleramt den Leiter der palästinensischen Vertretung in Berlin einbestellt.

Kanzler-Besuch im Westjordanland erstmal nicht geplant

Einen Abbruch der Beziehungen mit Deutschland kann sich Abbas eigentlich nicht leisten. Deutschland gilt als einer der größten Geldgeber der Palästinenser. Zudem kommt Deutschland in der krisengeschüttelten Region eine wichtige Vermittlerrolle zu. Regierungssprecher Hebestreit hat bereits deutlich gemacht, dass eine Reise des Kanzlers nach Ramallah in absehbarer Zeit nur «schwer vorstellbar» sei. (dpa)