Am 15. Mai will der Libanon ein neues Parlament wählen

Mit Spannung aber ohne großen Optimismus blicken die Libanesen auf die bevorstehenden Parlamentswahlen am 15. Mai. Ein strenger ethnisch-konfessioneller Proporz lässt wenig Spielraum.



Beirut. Seit dem Rücktritt von Ministerpräsident Saad Hariri im Oktober 2019 ist der Libanon ohne voll aktionsfähige Regierung. Die politischen Allianzen sind zunehmend zerstritten, einzelne Parteien orientieren sich um. Die Hisbollah klinkt sich zunehmend aus der Kabinettsdisziplin aus und spielt sich - mit Rückenwind und Hilfe aus dem Iran - einmal mehr zum unberechenbaren militärischen Machtfaktor nicht nur an der Südgrenze zu Israel auf. Und der strenge Religionsproporz, der die Ämter unter den 18 Religionsgemeinschaften aufteilt, sichert dem Land zwar Stabilität, verhindert aber weiterführende Reformen.



Seit der verheerenden Explosion im Sommer 2020 im Beiruter Hafen, deren Aufklärung und juristische Aufarbeitung ständig in die Länge gezogen wird, hat sich die wirtschaftliche und soziale Situation im Land laufend verschlechtert. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebe unterhalb der Armutsgrenze, melden karitative Organisationen; gerade junge Leute mit guter Berufs-Qualifikation wandern aus. Ein Drittel der Bevölkerung im Land sind Flüchtlinge, zuletzt vor allem aus Irak und Syrien.



Dabei bestand anfangs Zuversicht. Die weitgehend friedlichen Proteste im Oktober 2019 begannen mit einer Kritik an Steuern und fehlender sozialer Gerechtigkeit, stellten aber bald das gesamte politische System und die ethnisch-konfessionelle Ordnung infrage. Das Besondere war, dass hier Libanesen über Religions- und Parteigrenzen hinweg gemeinsam gegen die Unbeweglichkeit des System, verschleppte Reformen und Korruption demonstrierten.



Aber die damalige Protestbewegung zersplitterte. In den Regionen und Stimmkreisen stünden vielfach die gleichen Kandidaten zur Wahl wie bisher, sagen Beobachter. Und der Wahlproporz bedeute, dass man zwangsläufig für den Kandidaten seiner Religionsgemeinschaft stimme, ungeachtet seiner Qualifikation.



Zuletzt standen sich im Libanon zwei große politische Lager gegenüber: eine antiwestlich-prosyrisch-schiitische Allianz, zu der etwa die Schiiten-Gruppen Hisbollah und Amal gehörten, die Drusen-Partei PSP, aber auch die christlich-maronitische "Freie Patriotische Bewegung" von Staatspräsident und Ex-General Michel Aoun. Ihr gegenüber ein prowestlich-antisyrisch-sunnitisches Parteienbündnis mit der sunnitischen Zukunftspartei des ehemaligen Premiers Hariri sowie christlichen Gruppen wie den "Forces Libanaises" unter dem ehemaligen Milizenführer Samir Geagea oder der "Kataib" des christlichen ehemaligen Präsidenten Amin Gemayel.



Zuletzt haben sich die Fronten indes verschoben. Hariri hat sich aus dem Bündnis ausgeklinkt, andere Sunniten-Gruppen gehören aber weiterhin dazu. Drusen-Führer Walid Dschumblatt, im Bürgerkrieg (1975-1990) ein wichtiger Machtfaktor, ist zunehmend auf Distanz zur Hisbollah gegangen und sieht sich inzwischen in der Mitte zwischen den Blöcken. Und auch Präsident Aoun, der im Christenlager zunehmend Konkurrenz von Geagea erfährt, hat sich zuletzt kritisch zu seinem schiitischen Verbündeten geäußert: wegen dessen Bindung an den Iran und der heftigen Kritik von Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah an Saudi-Arabien und den Golfstaaten. Denn dort verdienten Hunderttausende libanesische Gastarbeiter ihr Geld.



Eine wichtige Stimme im nationalen Leben des Libanon ist der maronitische Patriarch Kardinal Bechara Rai, Chef der größten Christengruppe; die Christen insgesamt stellen noch rund 40 Prozent der Libanesen. Rai versteht sich als Ansprechpartner und Mittler für alle Gruppen, über Partei- und Religionsgrenzen hinweg, und will unbedingt die Unabhängigkeit und Einheit des Landes erhalten. Seine Äußerungen und seine Predigten finden Resonanz. Beobachter deuteten seine Mahnung für die Einheit des Landes zuletzt als Kritik an der Hisbollah.



Für den Vatikan steht der Libanon ganz oben auf der diplomatischen Prioritätenliste. Schon im Bürgerkrieg war der Papst mit seinen 168 Friedensappellen ein ständiger Mahner, auch als die Weltgemeinschaft den Krieg vergessen hatte. Der Libanon ist für den Vatikan auch unter Papst Franziskus Sondermodell und Vorbild eines friedlichen Zusammenlebens der Religionen. Diese einzigartige Identität biete den Christen ein Leben in Gleichheit und Sicherheit.



Seit zwei Jahren will der Papst den Libanon besuchen, musste seine Pläne aber coronabedingt immer wieder verschieben. Derzeit ist die Visite offenbar für den 12./13. Juni geplant, vom Vatikan aber noch nicht bestätigt. Beobachter rätseln, ob Franziskus die Reise vielleicht noch vom Verlauf und Ergebnis der Wahlen abhängig machen will. (KNA)