Der Traum von einer größeren Republik

Demoskopische Untersuchungen zeigen: Eine feste Ein- und Anbindung an den Westen ist in der Türkei alles andere als populär.
Demoskopische Untersuchungen zeigen: Eine feste Ein- und Anbindung an den Westen ist in der Türkei alles andere als populär.

Viele Türken sind unzufrieden mit dem internationalen Status ihres Landes. Gleichzeitig belegen Meinungsumfragen die große Skepsis im Land gegenüber den USA. Von Ronald Meinardus 

Von Ronald Meinardus

Meinungsumfragen geben Aufschluss über die Stimmungen und Präferenzen in der Bevölkerung. Die Demoskopie spielt nicht selten eine Rolle in Debatten zu kontroversen Themen und beeinflusst die politische Meinungs- und Willensbildung. Die Themen sind weit gestreut; in politischen Umfragen geht es häufig um die Beliebtheit von politischen Parteien und das Führungspersonal. Aber auch außen- und sicherheitspolitische Fragestellungen sind ein Gegenstand von Meinungsumfragen. 

Die der SPD nahestehende Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) hat unter dem Titel "2022 Security Radar. Navigating the Disarray of European Security eine umfassende Studie vorgelegt, die die Einstellungen der Bevölkerung zu zentralen außen- und sicherheitspolitischen Fragen in 14 Ländern abbildet.  

Die Forschungen zu den Teilstudien unter anderem über Armenien, Frankreich, Deutschland, Italien, Russland, die Ukraine, die Vereinigten Staaten von Amerika und die Türkei wurden vor dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine abgeschlossen. Es ist davon auszugehen, dass einige Ergebnisse im Licht der neuen weltpolitischen Lage und geänderter Bedrohungsvorstellungen heute anders ausfallen würden. Gleichwohl enthält die Studie interessante Ergebnisse, die über den Tag hinaus Beachtung verdienen.  

Das gilt in besonderem Maße für die Zahlen aus der Türkei: Die FES-Studie bestätigt das Bild eines Landes, das mit dem aktuellen Status quo nicht zufrieden ist und dessen Regierung danach strebt, diesen zu revidieren: "Die gewaltige Mehrheit der türkischen Befragten (82 Prozent) sind unzufrieden mit dem internationalen Status ihres Landes“, heißt es in der Studie. Noch bemerkenswerter – um einen wertfreien Begriff zu verwenden – ist die folgende Erkenntnis: "Viele türkische Befragte glauben, dass eine Reihe von Gebieten jenseits der (türkischen) Grenzen eigentlich zur Türkei gehören. 56 Prozent stimmen dem zu“, heißt es in der Studie wörtlich. Nur in Armenien gebe es höhere Zustimmung für eine irredentistische Außenpolitik (eine Außenpolitik, die Gebiete außerhalb des Landes für die Nation reklamiert, Anm. der Red.), schreiben die Autoren der Studie. 

Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan signiert eine militärische Drohne; Foto: Murat Cetinmuhurdar/Turkish Presidency Handout/picture alliance/AA
Positive Einstellung zum Militär: Vier von fünf Türken sind der Meinung, dass Ankara eine aktive Rolle in der Welt einnehmen soll und 56 Prozent der Befragten sehen dabei eine aktive Rolle für das Militär. Dies sei "bei weitem“ der höchste Wert in allen 14 untersuchten Ländern, analysieren die Autoren einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) mit dem Titel "2022 Security Radar. Navigating the Disarray of European Security“. Sie hat die Einstellungen der Bevölkerung in den 14 Ländern zu zentralen außen- und sicherheitspolitischen Fragen untersucht. Auf dem Bild signiert Staatspräsident Erdogan eine militärische Drohne.  

Positive Einstellung zum Militär

Der Bericht betont außerdem, dass die türkischen Befragten in ihrer positiven Einstellung zum Militär hervorstechen. Zudem: Vier von fünf Türken sind der Meinung, dass Ankara eine aktive Rolle in der Welt einnehmen soll. Dabei befürworten 56 Prozent der Türkinnen und Türken, so die repräsentative Umfrage, dass hierbei das Militär eine aktive Rolle spielen soll. Dies sei "bei weitem“ der höchste Wert in allen 14 untersuchten Ländern, analysieren die Autoren der Studie. Angesichts der hohen Zustimmung für eine aktive Rolle der Militärs in der Außenpolitik, verwundert es nicht, dass 61 Prozent der Befragten der Meinung sind, die Regierung solle mehr Geld für Rüstung ausgeben. Auch in diesem Punkt führt die Türkei – nach Armenien – die Liste der 14 untersuchten Länder an.  

Die breite Zustimmung zu hohen Militärausgaben fällt in eine Zeit, in der ausweislich der Demoskopie eine große Mehrheit der Befragten sich große Sorgen über die wirtschaftliche Zukunft macht. Aber nicht allein die wirtschaftlichen Perspektiven verunsichern die Menschen. "Verglichen mit anderen Ländern in der Studie sind die Türken viel besorgter, dass Kriege und andere Konflikte ihr Land direkt betreffen werden als andere – 84 Prozent denken dies.“  

Freund-Feind-Bilder 

Bemerkenswert sind auch die Zahlen bei der Einstellung der Menschen zu den Vereinigten Staaten. Das amerikanisch-türkische Verhältnis hat Höhen und Tiefen erlebt; im Moment gibt es Anzeichen für eine diplomatische Aufwertung mit weitreichenden geostrategischen Implikationen für die Region. Beliebt ist Amerika in Anatolien indes keinesfalls:  Eine Mehrheit in der Türkei (55 Prozent) betrachtet die westliche Führungsmacht als ein Sicherheitsrisiko.  

Nach den Ergebnissen der Umfrage ist die öffentliche Unterstützung für eine Vertiefung der Beziehungen zu Russland und China höher als für eine Verbesserung des Verhältnisses mit Washington.

Türkei | Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine in Istanbul; Foto: Foto: Murat Cetinmuhurdar/Presidential Press Office/via Reuters
Unterhändler Russlands und der Ukraine verhandeln in Istanbul. Die Türkei sieht sich im Ukraine-Krieg als neutraler Vermittler, der mit beiden Seiten im Gespräch steht. Seit dem Beginn der russischen Invasion ist die Stellung der Türkei international aufgewertet worden. Das dürfte vielen Türkinnen und Türken entgegen kommen. Laut der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zu den Einstellungen der Bürger bei Fragen der Sicherheits- und Außenpolitik sind 82 Prozent der türkischen Befragten unzufrieden mit dem internationalen Status ihres Landes.



Das Forscher-Team, das im Auftrag der deutschen Stiftung die Einstellungen der türkischen Bevölkerung zu außen- und sicherheitspolitischen Fragen nachgegangen ist, agiert nicht allein auf weiter Flur. Als Standardwerk für Türkei-Beobachter im In- und Ausland mit einem Interesse an den Meinungen der Menschen zur Außenpolitik gilt das alljährlich im Frühjahr von Professor Mustafa Aydin von der Istanbuler Kadir Has Universität vorgelegte Kompendium #TurkeyTrends. Teilweise stimmen die FES-Daten und die Zahlen von Kadir Has überein, Widersprüche gibt es nicht, was auch daran liegen mag, dass die Fragestellungen andere sind.    

Auch die Kadir Has-Untersuchung belegt das negative Image der USA. Demnach betrachten knapp 57 Prozent der Befragten die westliche Supermacht als Bedrohung. Schlechter schneiden in dieser Liste nur Armenien und Israel ab, zwei Länder, die interessanterweise im Katalog jener Länder, mit denen Präsident Erdogan einen diplomatischen Neuanfang anstrebt, ganz oben stehen.  

Ein Drittel hält Deutschland für einen "Freund"

Lesenswert ist auch die Tabelle der Verbündeten und Freunde der Türkei bzw. der Länder, die die Befragten derart bewerten. Traditionell führt diese Liste das Nachbarland Aserbaidschan an. Das von türkischen Truppen besetzte Nordzypern, das allein von Ankara anerkannt wird, nimmt in der aktuellen Studie einmal mehr den zweiten Rang der "Verbündeten“ an. Es folgen Georgien, Usbekistan, Deutschland, das in diesem Ranking einen großen Sprung nach vorne gemacht hat und das neuerdings über 30 Prozent der Befragten für einen "Freund“ halten, sowie Pakistan und Katar. Russland und die Ukraine liegen mehr oder minder gleich auf, wobei auch dieser Befund angesichts der aktuellen Entwicklungen diskussionswürdig ist: Die Beliebtheitswerte für Russland haben sich zwischen 2020 und 2021 deutlich nach oben entwickelt, die Werte für die Ukraine im selben Zeitraum in die entgegengesetzte Richtung.  

Man kann viel in die Meinungsumfragen hineininterpretieren. Die Untersuchungen wurden – wie gesagt – vor Putins Aggression gegen die Ukraine durchgeführt, es ist davon auszugehen, dass sich auch in der Meinungsbildung der türkischen Bevölkerung das eine oder das andere geändert hat.  

Zwei demoskopische Erkenntnisse zur türkischen Außenpolitik werden uns aber voraussichtlich auch nach dem Ende des Krieges in der Ukraine, wann und in welcher Form dies auch immer erfolgen mag, beschäftigen: Eine feste Ein- und Anbindung an den Westen ist in der Türkei alles andere als populär. Und: Viele Menschen im Land träumen von einer Türkei, die größer ist als die aktuelle Republik. Kein geringer als der Präsident persönlich hat zu dieser Stimmung beigetragen.  

Ronald Meinardus

© Qantara.de 2022

Dr. Ronald Meinardus ist Senior Research Fellow und Leiter des Mittelmeer-Programms bei der “Hellenic Foundation for European and Foreign Policy” (ELIAMEP) in Athen.