Karachis Unterwelt

Jürgen Wasim Frembgens neues Buch "Sufi Hotel" ist eine Milieustudie von Karachis Unterwelt, die eine völlig unbekannte Seite Pakistans zutage befördert. Marian Brehmer hat es für Qantara.de gelesen. 

Von Marian Brehmer

“Die blau-graue Dunstdecke hängt bleiern über Karachi, kein Hauch weht vom Meer in das Innere der staubigen Betonwüste, in der nur wenige Bäume ein kümmerliches Dasein fristen. Der Monsun hat Karachi nur gestreift und das bisschen Regen keinerlei Linderung gebracht, seit Wochen keine schwarzen Wolken mehr am Himmel.” — Karachi ist keine Stadt, in die es unsereins verschlagen würde.



Die allermeisten verbinden wohl kaum etwas mit dem Namen; Karachi ist ein weißer Fleck auf der kollektiven Landkarte. Dabei ist es die größte Metropole der muslimischen Welt: In ihrer Agglomeration wird Karachi von der zusammengenommenen Bevölkerung Dänemarks und den Niederlanden bewohnt. 



Jürgen Wasim Frembgens neues Buch “Sufi Hotel” katapultiert den Leser mitten in dieses Monster von einer Stadt, deren Leben seit Jahren von Bandenkriegen, Entführungen, Morden und Selbstmordattentaten bestimmt wird. Das Buch, eine akribische Milieustudie von Karachis Unterwelt, führt in Kapiteln, die Namen wie “Im Teehaus”, “Im Bordellviertel” oder “Im Schrein des Sufi-Meisters” tragen, in eine Realität ein, die mal überrascht, mal erschüttert und häufig sprachlos macht. 

Scharfe Beobachtungsgabe und ein packendes Narrativ 

Kaum jemand ist im deutschsprachigen Raum wohl besser mit Pakistan vertraut als Jürgen Wasim Frembgen. Der Ethnologe, Islamwissenschaftler, Sufismus-Forscher und ehemalige Leiter der Orient-Abteilung am Museum Fünf Kontinente in München ist seit über drei Jahrzehnten zu Forschungsreisen in das südasiatische Land.

Cover von "Sufi Hotel" von Jürgen Frembgen erschienen bei Schiler & Mücke 2022; Quelle: Verlag
Jürgen Wasim Frembgens neues Buch “Sufi Hotel” katapultiert den Leser in die pakistanische Mega-Metropole Karachi, mitten in das Monster von einer Stadt, deren Leben seit Jahren von Bandenkriegen, Entführungen, Morden und Selbstmordattentaten bestimmt wird. Das Buch, eine akribische Milieustudie von Karachis Unterwelt, führt in Kapiteln, die Namen wie “Im Teehaus”, “Im Bordellviertel” oder “Im Schrein des Sufi-Meisters” tragen, in eine Realität ein, die mal überrascht, mal erschüttert und häufig sprachlos macht.  





Seiner Leidenschaft für die Region verdanken wir eine Reihe von ethnographischen Reisebüchern, die zwischen den Niederungen des Punjab und den Gipfeln des Himalaya in die Höfe von Sufi-Mausoleen, in Straßencafés oder die Stammesgesellschaft abgelegener Bergtäler führen.  

In seinem neuen Band “Sufi Hotel”, erschienen im Tübinger Verlag Schiler & Mücke, beeindruckt Frembgen durch eine scharfe Beobachtungsgabe und ein packendes Narrativ. Zentrum der Erkundungen ist eine Teestube im Südwesten von Karachi, die ausgerechnet den Namen “Sufi Hotel” trägt.



Hier verbringt Frembgen viele Stunden damit, den bunten und finsteren Geschichten des Viertels zu lauschen und die Eindrücke, die auf ihn niederprasseln, festzuhalten. Übersetzt sind die Beobachtungen in präzise Adjektive.



Oft sind die Beschreibungen so lebendig formuliert, dass die Geräusche, Gerüche und Bilder mit großer Eindringlichkeit bis in den Lesesessel hervordringen. 

Das Teehaus wird so zu einem Dreh- und Angelpunkt von Frembgens Beobachtungen in einer Stadtgegend, die eine Mischung aus Rotlichtbezirk und Marktplatz ist, frequentiert von Zuhältern genauso wie von halbstarken Mullahs, exzentrischen Derwischen, Drogendealern, Bandenmitgliedern und Transgender-Frauen.



Dieses Café eines geldhungrigen Paschtunen steht, je mehr sich das Narrativ entfaltet, als Symbol für die Widersprüche im urbanen Pakistan. 

“An einem rostigen Nagel hängt ein von Fliegendreck übersäter Bilderrahmen mit einem Farbposter des Roten Sufi. Es zeigt den Heiligen fliegend wie Ikarus, tanzend mit einer Laute in der Hand und betend vor einem aufgeschlagenen Koran. Im Halbdunkel nehmen wir in schwitznasser Hitze auf einem abgewetzten Sofa Platz, daneben liegen verstaubte Musikinstrumente.”



Sufi-Symbolik in der Deko vermischen sich in dem Café mit dem pseudoreligiösen Geschwafel mancher Gäste und den offensichtlichen Lastern von anderen. Alles wird bestimmt von einem knallharten Überlebenskampf auf der Straße. Manche von Frembgens Begegnungen sind geradezu grotesk: Einmal trifft er einen heuchlerischen Geistlichen, der Musik als haram (verboten) verabscheut, seinen Mitmenschen Keuschheit predigt und vor Gottes Strafen warnt, während er selbst zu den umtriebigsten Bordellbesuchern des Viertels gehört.  

Widersprüche unter der Oberfläche 

Über die Charakterbeschreibungen solch verquerer Gestalten gibt Frembgen überraschende Einblicke in die Widersprüche, die unter der Oberfläche dieser muslimischen Gesellschaft brodeln.

 

 

Während der Ethnologe mit Respekt und ethnographischer Professionalität an die Materie geht, scheut er sich nicht, die himmelschreienden Missstände und Widersprüche, denen er begegnet, anzuprangern und den immer stärker um sich greifenden pakistanischen Fundamentalismus zu verurteilen: “Ich verabscheue die immer rigider werdenden Ausdrucksformen der Religiosität, das immer engstirniger werdende Selbstverständnis des offiziellen Islam, das beinahe jeden Glaubensrest früherer Menschheitsepochen ausradiert hat.” 

So entsteht ein insgesamt eher finsteres Bild der Stadt, ein Lehrstück über die Abgründe menschlicher Existenz, das auch von den Gräben zwischen Religiosität und Weltlichkeit erzählt, dem ewigen Spannungsfeld von Hier und Jenseits. Die Lektüre, wenn auch manchmal nichts für schwache Nerven, ist ein literarischer Genuss und leistet einen kostbaren Beitrag dazu, unseren Blick auf die Welt zu erweitern.  



Marian Brehmer

© Qantara.de 2023

Jürgen Wasim Frembgen, “Sufi Hotel”, Verlag Schiler & Mücke 2022, 186 Seiten