Ein vergnügliches feministisches Märchen

Mit Humor, Gefühl und einem atemberaubenden Sinn für das Fantastische beschreibt die marokkanische Autorin Meryem Alaoui in ihrem Debütroman "Straight from the Horse’s Mouth“ eine Frau aus armen Verhältnissen, die, zunächst als Schauspielerin gefeiert, zum Überleben zur Sexarbeit gezwungen ist – und am Ende zurückkommt. Eine Rezension von Marcia Lynx Qualey

Von Marcia Lynx Qualey

Im Jahr 2003 gab die Schauspielerin Najat Bensalem ihre Debüt in Raja, einem Film des Regisseurs und Drehbuchautors Jacques Doillon. Raja ist eine neunzehnjährige Hausangestellte und Sexarbeiterin, die – klischeehaft und vorhersehbar – von ihrem Arbeitgeber begehrt wird, einem wohlhabenden Franzosen in den Fünfzigern.

Meryem Alaouis Debütroman Straight from the Horse’s Mouth (dt. "Direkt aus dem Pferdemaul“) greift die Geschichte der Schauspielerin auf und spielt nicht nur mit den Bildern aus dem französischen Film, sondern auch mit Momenten aus dem Leben der jungen marokkanischen Hauptdarstellerin. Der Roman mit dem französischen Originaltitel La vérité sort de la bouche du cheval stand auf der Longlist für den Prix Goncourt 2018 und ist nun in der englischen Übersetzung von Emma Ramadan erschienen.

Im Titel klingen Wortwitz und Ernst des Romans gleichermaßen an. Denn hier erzählt keine Außenstehende, sondern die fiktive Schauspielerin Jmiaa Bent Larbi, die durch widrige Umstände zur Sexarbeiterin wird. Jmiaa verleiht der Figur der Drehbuchautorin und Regisseurin, die im Verlauf des Romans auftaucht, den Spitznamen "Pferdemaul“ (fr. "bouche du cheval“). Die Regieanweisungen, die sie erhält, stammen also  – metaphorisch gesprochen – "direkt aus dem Pferdemaul“.

Vom Scheitern zum Ruhm – und zurück

Als Teenager verdiente sich die reale Najat Bensalem auf Marrakeschs berühmtem Jamaa al Fnaa-Platz einen kargen Lebensunterhalt als Wrestlerin. Mit ihrer Rolle in Raja gewann sie bei den Filmfestspielen von Venedig 2003 den prestigeträchtigen Marcello-Mastroianni-Preis als beste Nachwuchsdarstellerin. In offensichtlicher Anlehnung an die reale Raja steigt die fiktive Figur der Jmiaa Bent Larbi zunächst von der Sexarbeiterin in Casablanca zur Gewinnerin eines Schauspielpreises auf einem Festival in den Vereinigten Staaten auf.

Doch die reale Najat Bensalem erhielt nach ihrem vielversprechenden Debüt leider keine weiteren Engagements mehr im marokkanischen Film. Sie kehrte in ihr früheres Leben auf dem Platz Jamaa al Fnaa zurück. Mehr als ein Jahrzehnt später erzählt sie ihre Geschichte in Abdellah El Jaouharys Dokumentarfilm Raja Bent El Mellah, der 2015 herauskam. Der Film wurde über mehrere Jahre gedreht. Er zeigt, wie die Protagonistin ihren Lebensunterhalt durch den Verkauf loser Zigaretten bestreitet und wie sie sich die kurze Freude über ihre Schauspielkarriere in Erinnerung ruft.

Alaouis Buch ist sicher nicht dokumentarisch. Statt einer ernüchternden Geschichte über die Schwierigkeiten von Sexarbeiterinnen, über soziale Stellung und Ausgrenzung erwartet uns ein äußerst vergnügliches feministisches Märchen.

Die Geschichte steht und fällt mit der elektrisierenden und witzigen Jmiaa, die egozentrisch und aufbrausend sein kann, aber auch großzügig, lustig und unvergleichlich. Jmiaa erzählt einem nicht näher genannten Publikum aus ihrem Leben in den Jahren 2010 bis 2018. Sie schämt sich nicht für ihre Zeit als Sexarbeiterin, beschönigt nichts und bittet auch nicht um unser Mitleid. Alles, was sie will, ist, dass wir zuhören.

Cover von Meryem Alaouis "Straight from the horse's mouth", ins Englische übersetzt von Emma Ramadan (erschienen bei Other Press)
"Die Geschichte steht und fällt mit der elektrisierenden und witzigen Jmiaa, die egozentrisch und aufbrausend sein kann, aber auch großzügig, lustig und unvergleichlich. Jmiaa erzählt einem nicht näher genannten Publikum aus ihrem Leben in der Zeit von 2010 bis 2018. Sie schämt sich nicht für ihre Zeit als Sexarbeiterin, beschönigt nichts und bittet auch nicht um unser Mitleid. Alles, was sie will, ist, dass wir zuhören“, schreibt Lynx Qualey.

Ebenso wie die Geschichte von Najat Bensalem entfaltet sich auch die von Jmiaa über viele Jahre. Der Roman beginnt im Jahr 2010, kurz vor Beginn der arabischen Aufstände, die das Leben vieler Menschen im Maghreb verändern werden. Diesen Ereignissen schenkt Jmiaa allerdings kaum Beachtung.

Am Vorabend des Arabischen Frühlings

Zu Beginn des Romans ist Jmiaa schon kein Teenager mehr. Die mittlerweile 34-Jährige lebt mit ihrer siebenjährigen Tochter in einem kleinen Zimmer, das sie von ihrem Zuhälter Houcine gemietet hat. Hamid, ihr Taugenichts von einem Ehemann, hat sich nach Spanien abgesetzt. Dennoch unterstützt Jmiaa ihn weiter mit regelmäßigen Geldüberweisungen. Ihre Mutter, die sie nur "Mouy“, nennt, lebt im Dorf Berrechid und weiß nicht, womit die Tochter ihren Lebensunterhalt bestreitet.

Sogar der gestürzte tunesische Präsident Ben Ali hat einen kurzen Auftritt im Roman. Jmiaa geht es jedoch weniger um den kollektiven Aufstand der arabischen Gesellschaften als vielmehr darum, den Tag zu überstehen, das Geld für die Miete hereinzuholen und ein bisschen Freude am Leben zu finden.

In 2011 ereignet sich ein einschneidendes Ereignis in Jmiaas Leben – doch es ist nicht der Arabische Frühling. Vielmehr kommt ein Nachbar auf sie zu und erzählt, dass eine marokkanisch-holländische Filmemacherin ihre Geschichte hören will. Die Filmemacherin (das "Pferdemaul“, wie Jmiaa sie nennt) schreibt gerade an einem Drehbuch, in dem eine Sexarbeiterin die Hauptrolle spielt.



Ihr fehlen aber Details aus dem wahren Leben. Die beiden Frauen verbringen dann einige gesellige Abende miteinander, gehen aus und fahren durch die Gegend, während Jmiaa Geschichten über ihren Zuhälter Houcine, ihren Liebhaber Bouchaib, ihre Nachbarin Okaicha und die anderen Sexarbeiterinnen erzählt.

Die Filmemacherin zahlt für die Informationen und reist dann heim in die Niederlande. Sie will zurückzukehren, sobald die Finanzierung des Films gesichert ist. Kurz darauf gerät das Leben von Jmiaa aus den Fugen. Sie wird von einem Motorrad angefahren und verletzt sich schwer am Bein. Ihre Mutter kommt nach Casablanca und findet heraus, wie Jmiaa bislang ihren Lebensunterhalt verdient hat.



Jmiaa kann nicht arbeiten und steht ohne jede soziale Absicherung da, sie leidet unter starken Schmerzen und ist zunehmend auf Tabletten angewiesen. Ohne ihre Freundin Samira hätte sie diese Zeit kaum überstanden.

Als "Pferdemaul“, die Regisseurin, schließlich mit einer Finanzierungszusage für den Film zurückkehrt, will Jmiaa sie zunächst nicht sehen und lehnt ein Treffen ab. Doch "Pferdemaul“ bleibt hartnäckig und gelangt über die Freundin Samira letztlich ans Ziel. Als sie erklärt, Jmiaa solle unbedingt in ihrem Film mitspielen, ändert sich alles.



In einem Spielfilm mitzuwirken, ist für Jmiaa nicht einfach. Sie hat nie viel gelesen und ist es nicht gewohnt, Texte einzustudieren. Der strenge Tagesablauf am Film-set engt sie ein. Den kulturellen Kontrast zwischen Jmiaa und der Jet-Set-Filmwelt schildert die Autorin mit Humor, vermeidet es aber, sich den Leser zum Komplizen zu machen oder sich auf Jmiaas Kosten zu amüsieren.

Die Freiheit des Fantastischen

Ein noch größerer Culture Clash droht 2013, als Jmiaa zu einem Filmfestival-Debüt in die USA fliegt. Doch sie findet sich erstaunlich gut zurecht. Die Sprachbarriere scheint ihr keine großen Probleme zu bereiten: "Nach einigen Drinks versteht man allmählich, was die Leute sagen“, sagt sie. Als sie die Bühne betritt, um einen Preis entgegenzunehmen, stößt Jmiaa einen langen triumphalen Jubelschrei aus.

Danach spult der Roman fünf Jahre vor in die Zukunft. Unsere Protagonistin ist nun 42 und ihre Tochter 15 Jahre alt. Anstatt den wunderbaren Schluss des Romans zu verraten, kehren wir zu Najat Bensalem zurück, die beim Internationalen Filmfestival von Marrakesch 2016 endlich auf den roten Teppich zurückkehrte. Empfangen wurde sie mit Sympathie, aber auch mit Spott. Manche kritisierten ihr angeblich zu legeres Outfit. Bensalem erklärte später, sie habe stützende Leggings tragen müssen. Sie hatte sich – wie die Romanfigur Jmiaa – ein Bein gebrochen.

Dem Journalisten Khouloud Sajid sagte sie laut Morocco World News: "Heute Nacht stehe ich auf dem roten Teppich. Um fünf Uhr morgen früh werde ich auf dem Großmarkt Gemüse besorgen, um es weiterzuverkaufen. Am Ende des Tages werde ich wieder auf dem Jamaa al-Fnaa-Platz stehen und Zigaretten anbieten. Vom roten Teppich habe ich stets geträumt. Doch ich bleibe realistisch.“

Straight from the Horse's Mouth ist glücklicherweise nicht der Realität verpflichtet. Auch wenn Alaoui selbst nicht als Sexarbeiterin in Casablanca tätig war, schafft sie es, den Leser aus dem engen Kokon von Seriosität und Realismus herauszulösen, und in ein Reich der Fantasie und Freude zu entlassen. Dieses mag nicht realistisch sein, aber es ist durchaus erstrebenswert, es zu betreten.

Marcia Lynx Qualey

Aus dem Englischen übersetzt von Peter Lammers

© Qantara.de 2021