Literarische Großmachtpolitik der Emirate

Foto: Abu Dhabi International Book Fair 2021/Youtube screenshot
Foto: Abu Dhabi International Book Fair 2021/Youtube screenshot

Den Louvre haben die Vereinigten Arabischen Emirate schon, ein Guggenheim-Museum bekommen sie noch. Nun streben die Emirate auch in Sachen Literatur die kulturelle Vorherrschaft in der arabischen Welt an. Stefan Weidner berichtet von der 30. Buchmesse in Abu Dhabi, die trotz Corona-Pandemie in Präsenz stattfand.

Von Stefan Weidner

Dass die Vereinigten Arabischen Emirate zu den ersten zählen, die 2021 noch während der Pandemie eine Buchmesse im realen Leben ausrichten, steht für den Anspruch der Emiratis, kulturell und literarisch das Erbe der einstigen kulturellen Zentren der arabischen Welt, Kairo und Beirut, Damaskus und Bagdad anzutreten. Da alle diese Städte seit vielen Jahren im Niedergang begriffen sind, kann man froh sein, dass überhaupt jemand darauf Wert legt, kulturelle Verantwortung zu übernehmen — was immer man sonst von den Golfstaaten halten mag.

Es ist auch nicht schlecht, dass sich zwischen Qatar und Abu Dhabi in dieser Hinsicht eine lebhafte Konkurrenz entwickelt hat, nicht nur bei Museen und Architektur, sondern inzwischen auch im literarischen und akademischen Bereich. In Qatar ist die Georgetown Universität aus Washington etabliert. In Abu Dhabi hat sich die New York University festgesetzt. Das nächste Feld der Auseinandersetzung wird das literarische Leben sein. Es wird davon profitieren.

Wachsender Onlinehandel

Anders als bei uns dienen die Buchmessen in der arabischen Welt dem direkten Verkauf. Publikum und Buchhändler decken sich mit Lektüre oder Beständen für ein ganzes Jahr ein. Ein Vertriebssystem wie im deutschsprachigen Raum kennt der arabische Buchmarkt nicht, und der internationale Versand ist unzuverlässig. Trotzdem hat der Onlinehandel, glaubt man den Auskünften der Verleger, in der Coronakrise kräftig zugelegt — eine positive Entwicklung, die auch in Zukunft anhalten dürfte.

Um die Verlage trotz der Pandemie in die Hauptstadt der Emirate zu locken, entfiel dieses Jahr die Standgebühr. Käufer, besonders Schüler und Studenten, aber auch Bibliotheken und Institutionen sind mit staatlich finanzierten Gutscheinen im Wert von über einer Million Euro zum Bücherkauf animiert worden. Die reduzierte Ausstellungsfläche entspricht freilich gerade einmal einer Hallenebene der Messe in Frankfurt. Wer durch die Gänge lief und die Stände zählte, kam auf etwa 200 Aussteller. Voraussetzung für den Eintritt war ein negativer, maximal 48 Stunden alter PCR -Test, den man auf der Messe kostenlos bekam.

Allerdings lag das Ergebnis erst am nächsten Tag vor, sodass spontane Besuche ausgeschlossen waren. Drinnen herrschte natürlich Masken- und Abstandspflicht; die Einhaltung wurde von einer Schar schwarz gekleideter junger Frauen mit großen Schildern überwacht. Am Ende dürften an die 30.000 Menschen in den Hallen gewesen sein, schätzt Ali Bin Tamim, dessen "Zentrum für arabische Sprache“ als Teil des Departments für Kultur und Tourismus die Messe ausgerichtet hat.

Iman Mersal hält ihre Dankesrede für den Sheikh Zayed-Buchpreis in Abu Dhabi; Foto: Stefan Weidner
Die 1966 geborene, in Kanada lehrende Ägypterin Iman Mersal hat auf der Buchmesse in Abu Dhabi den Shekh Zayed Book Award 2021 erhalten. In Deutschland ist Mersal bereits seit 2000 bekannt, als das Kölner Literaturhaus sie zu einem Poesiefestival einlud. Jetzt wurde sie für ein Prosawerk ausgezeichnet, die romanhafte Recherche und Nacherzählung des Lebens der ägyptischen Autorin Enayat Al-Zayyat, die sich 1963 im Alter von 26 Jahren umbrachte. Das Buch entspricht einem Trend in der arabischen Gegenwartsliteratur, historische Ereignisse und Figuren aufzugreifen, schreibt Stefan Weidner in seinem Bericht von der Buchmesse.





Verlagerung an den Golf

Etliche Verlage hat man jedoch vermisst, besonders solche aus Marokko und Algerien, Ägypten, Qatar, Libanon und Palästina. Dass nicht alle kamen, die man hätte erwarten dürfen, lag nicht nur an der Pandemie, sondern auch an der politischen Lage. Durch den Friedensschluss mit Israel haben sich die Emirate unbeliebt gemacht. Viele boykottieren die Zusammenarbeit. Für diejenigen, die keine ideologischen Vorbehalte haben, hält der Sog an den Golf hingegen an: Der Deutsch-Iraker Khalid Al-Maaly zum Beispiel, der für seine Verdienste um die deutsche Literatur dieses Jahr mit dem Gundolf-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung geehrt wird, meldet seinen Verlag gerade von Beirut in die Stadt Sharjah in den Emiraten um.

Um das Scheinwerferlicht auf ihre neue Kulturhoheit zu lenken, schreiben die arabischen Golfstaaten Preise in einer Höhe aus, von der unsere Autorinnen und Autoren nur träumen können. Zu den am besten dotierten zählt mit rund 200.000 Euro der in mehreren Kategorien verliehene Sheikh Zayed-Preis, benannt nach dem Gründer der Vereinigten Arabischen Emirate. Der Hauptpreis wurde dieses Jahr Jürgen Habermas zuerkannt, dessen Gesellschaftstheorie in der arabischen Welt sehr geschätzt wird.



Da er den Preis nach der Verkündigung jedoch ablehnte, rückte die Preisverleihung in der Kategorie für arabische Literatur in den Vordergrund: Bekommen hat ihn die 1966 geborene, in Kanada lehrende Ägypterin Iman Mersal. In Deutschland ist sie bereits seit 2000 bekannt, als das Kölner Literaturhaus sie zu einem Poesiefestival einlud. Sie schrieb damals Verse, in denen man über die Gefühle nach einer Abtreibung oder über die geheimnisvolle Verbindung von Marxismus und Damenunterwäsche lesen konnte.

Zeitgeschichtliche Themen

Dieses Jahr wurde sie für ein Prosawerk ausgezeichnet, die romanhafte Recherche und Nacherzählung des Lebens der ägyptischen Autorin Enayat Al-Zayyat, die sich 1963 im Alter von 26 Jahren umbrachte. Das Buch entspricht einem Trend in der arabischen Gegenwartsliteratur, der auch die Shortlist des vom Londoner Booker-Prize mit getragenen "International Prize for Arabic Fiction“ geprägt hat, der ebenfalls (virtuell) in Abu Dhabi verliehen wurde: Viele Autorinnen und Autoren wenden sich Themen der Zeitgeschichte zu, verhandeln historische Ereignisse, lassen reale Personen wieder aufleben.

So ist der Held im Roman der Tunesierin Amira Ghenim, die es mit ihrem Roman "Ein Vorfall in besseren Kreisen“ auf die Shortlist gebracht hat, der tunesische Sozialreformer El-Taher El-Haddad, der sich schon vor hundert Jahren vehement für die Emanzipation der arabischen Frauen einsetzte. Mit einem Roman über die jüngste Geschichte stand die in den USA lebende irakische Autorin Dunya Mikhail auf der Shortlist: "Das Vogel-Tattoo“ handelt von der Vertreibung und Versklavung der religiösen Minderheit der Yesiden durch den IS.



Geschickt unterlegt sie dabei eine heutige Liebes- und Leidensgeschichte mit den aus demselben geografischen Raum stammenden uralten yesidischen und mesopotamischen Mythen. Am Ende gewann der 1970 geborene Jordanier Jalal Barjas mit "Die Notizbücher des Buchhändlers“, der das Genre der auch bei uns beliebten Romane über das Bücherlesen bedient, zugleich aber die apokalyptische Stimmung trifft, die in vielen Ländern der arabischen Welt um sich gegriffen hat — obschon nicht gerade am Golf.





Monopol auf Literaturpreise

Weil Abu Dhabi dieses Jahr auch den arabischen Booker-Preis finanziert, hat das Emirat inzwischen fast eine Monopolstellung für die großen arabischen Literaturpreise inne. Dennoch weisen alle ausgezeichneten Bücher ein weitreichendes kritisches Bewusstsein auf, sind progressiv im emanzipatorischen, sozial engagierten Sinn, regen zu politischem Widerspruch an und treten beschönigenden Darstellungen der arabischen Gesellschaften teils rabiat entgegen, religiösen zumal.

Das bedeutet nicht, dass die Emirate mit ihrer Literaturförderung nicht auch eine politische Agenda verfolgen. Sucht man die Personifikation dieser Kulturpolitik, stößt man auf den 1971 geborenen Omar Ghobash. Nach Botschafterposten in Moskau und Paris ist er heute Staatsminister im Außenministerium. Als Sponsor finanziert er einen Preis für Übersetzung aus dem Arabischen, den die Londoner Zeitschrift Banipal ausschreibt, die im nächsten Jahr auch auf Deutsch erscheinen soll.



Ghobash sieht aus wie George Clooney, spricht Englisch, Arabisch, Russisch und Französisch und warb 2020 öffentlich für das Friedensabkommen mit Israel. Er hat persönlich erfahren müssen, dass die gesamte arabische Welt leidet, wenn der palästinensisch-israelische Konflikt gewaltsam ausgetragen wird: Sein Vater, Saif Ghobash, wurde 1977 versehentlich von palästinensischen Terroristen erschossen; sie wollten den neben ihm stehenden syrischen Außenminister treffen.

Liberalismus von oben

Von Omar Ghobash stammt auch das verkappte kulturpolitische Manifest der neuen emiratischen Kulturpolitik. Es erschien in Gestalt eines Buchs mit fiktiven Briefen an seinen pubertierenden, mit religiösen Zwängen ringenden Sohn. Auf Deutsch wurde es unter dem Titel, "Es gibt keinen Grund zu hassen. Ein liberaler Islam ist möglich“, 2017 bei Rowohlt publiziert. Ghobashs Vision ist ein entpolitisierter, den individuellen Weg betonender muslimischer Humanismus, welcher der hochpolitisierten Religion der Muslimbrüder und Djihadisten die Spitze nehmen will. Dafür gibt es gute Gründe. In der politischen Praxis läuft dieses Vorhaben allerdings auf einen autokratischen Liberalismus von oben hinaus, dessen Problematik auch den Friedensvertrag mit Israel für Kritik anfällig macht.

Mit ihrem Liberalismus von oben sind die Emirate gleichwohl zur Heimat für viele ähnlich denkende Intellektuelle geworden, etwa den 2019 verstorbenen, syrischen religiösen Reformer Mohammed Shahrur oder die von Shahrur inspirierte, ebenfalls aus Syrien stammende Verlegerin Mayadeh Kayali, die mir am Ende unseres Gesprächs auf der Buchmesse ihre Dissertation mit auf den Weg gibt. Sie trägt den Titel: "Die Ingenieurskunst der Herrschaft über die Frauen. Die Ehe in den alten Kulturen Ägyptens und des Irak“. Die arabische Buchwelt ist immer für eine Überraschung gut.

Stefan Weidner

© Qantara.de 2021

Stefan Weidner ist Autor und Islamwissenschaftler. 2019 erschien von ihm: "1001 Buch. Die Literaturen des Orients“, Edition Converso.