Tiefe Gräben

Der Leiter der Menschenrechtsorganisation Egyptian Initiative for Personal Rights, Hossam Bahgat.
Symbolfigur der ägyptischen Zivilgesellschaft: Der Leiter der Menschenrechtsorganisation Egyptian Initiative for Personal Rights, Hossam Bahgat. (Foto: Sarah Rafea/picture alliance/AP Photo)

Der Gaza-Krieg hat tiefe Gräben zwischen arabischen Menschenrechtsorganisationen und westlichen Gebern aufgerissen. Auf dem Spiel steht nicht nur die Glaubwürdigkeit westlicher Regierungen.

Kommentar von Shady Lewis Botros

Der 7. Oktober kam einem Erdbeben gleich, und erst mit der Zeit werden die regionalen Auswirkungen für Politik, Kultur und Diplomatie, aber auch für die ideologische Hegemonie bis hin zur Unterhaltungsindustrie sichtbar. Ägypten ist zweifellos nicht nur aufgrund seiner gemeinsamen Grenze mit dem Gazastreifen und der Kontrolle über die Grenzübergänge in einer Schlüsselposition und besonders nah am Kriegsgeschehen. 

Anfang letzten Monats stoppte die deutsche Bundesregierung die Finanzierung eines Projekts zur Bekämpfung von Frauenhandel in Ägypten der NGO "Center for Egyptian Women’s Legal Assistance“ (CEWLA) (dt."Zentrum der Rechtshilfe für ägyptische Frauen“). Zuvor hatte die Leiterin der Organisation, die Rechtsanwältin Azza Soliman, eine Erklärung unterzeichnet, in der zum Stopp der Aggression gegen Gaza, zum Abbruch der Beziehungen mit Israel und zum Boykott des Landes aufgerufen wurde. 

Die deutsche Botschaft begründete ihre Entscheidung zunächst damit, dass es nach deutschem Recht verboten sei, Institutionen zu finanzieren, die sich an der Boykottbewegung BDS gegen Israel beteiligen. Später räumte die Botschaft jedoch ein, dass diese Entscheidung auf eine Klausel im deutschen Haushaltsgesetz zurückgehe. Demnach ist die Finanzierung von Projekten im Ausland an die Bedingung geknüpft, dass ein “eindeutiger Nutzen” für Deutschland entsteht. Soliman sprach nach der Entscheidung von einer kritischen historischen Phase und einem Tiefpunkt für die Menschenrechte. Die vermeintlichen Unterstützer der Menschenrechte im Westen zeigten nun ihr wahres Gesicht. 

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Ein Gefälle zwischen Gebern und NGOs

Aber welches sind die Kriterien, an denen dieser "eindeutige Nutzen“ gemessen wird? Und was passiert, wenn "alle" ihre Masken fallen gelassen haben, wie sich die Aktivistin Soliman ausdrückt? Auch wenn das Verhältnis zwischen westlichen Geldgebern und den von ihnen finanzierten Organisationen asymmetrisch ist und erstere am längeren Hebel sitzen, geht die Zerrüttung des Verhältnisses nicht nur vom Westen aus. 

So kündigte in der dritten Oktoberwoche die Egyptian Initiative for Personal Rights (EIPR) (dt. "Ägyptische Initiative für Persönlichkeitsrechte") aus Protest gegen die deutsche Haltung zum Gaza-Krieg an, jegliche Zusammenarbeit mit der deutschen Regierung einzustellen. 

Der Leiter der Organisation, der Menschenrechtsaktivist Hossam Bahgat, teilte dem deutschen Botschafter mit, die deutsche Haltung zum Gaza-Krieg stelle ernsthaft "das Feld der gemeinsamen Werte zwischen Rechtsaktivisten, Feministen und unabhängigen Medien in Ägypten einerseits und Deutschland andererseits" in Frage. Mit der gleichen Begründung zog Bahgat auch seine Kandidatur für den Deutsch-Französischen Preis für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit zurück. 

Kein Schutz mehr vor dem Sicherheitsapparat

Die Zusammenarbeit zwischen der lokalen Zivilgesellschaft und den westlichen Gebern läuft abgesehen von den beiden genannten Fällen nahezu ungehindert weiter. Doch die geschilderten Ereignisse stehen auch für eine tiefergehende, nicht auf den ersten Blick sichtbare Veränderung, die über die finanzielle Ebene hinausgeht. 

Denn der "eindeutige Nutzen“ für Deutschland war nicht nur Vorbedingung für die Finanzierung, sondern bezog sich auch auf die rechtliche Unterstützung, die die deutsche Regierung für diese Organisationen übernommen hat. 

Die zivilgesellschaftlichen Organisationen in Ägypten und in anderen Staaten des globalen Südens erhielten neben finanziellen Hilfen und Trainingsprogrammen auch diplomatische Unterstützung. Westliche Regierungen haben immer wieder Druck auf Regime ausgeübt, um die Mitarbeitenden der von ihnen unterstützten Organisationen vor den Sicherheitsapparaten zu schützen, auch wenn das in vielen Fällen keinen Erfolg hatte. 

Gleichzeitig verfolgten die Geberstaaten auch das ideologische Ziel, ihre rechtspolitische und demokratisch-kapitalistische Agenda voranzutreiben. Ihre Unterstützung für die Zivilgesellschaft in den Partnerländern war dabei ein zentrales Element.  

Die Institutionen der lokalen Zivilgesellschaft wiederum nutzten den Spielraum gemeinsamer Werte und Interessen mit den Gebern, um auf politische und soziale Reformen in ihren Ländern hinzuwirken. Dabei bleibt die Abhängigkeit von der Finanzierung aus dem Ausland ein Schwachpunkt der Zivilgesellschaften, der auch von den jeweiligen Regimen ins Visier genommen wird. 

Politisches Kapital verspielt

So versuchen die Autokraten zum Beispiel die Finanzquellen durch gesetzliche Restriktionen zu blockieren oder die Empfänger der Gelder propagandistisch als “ausländische Agenten” zu brandmarken. 

Der Gaza-Krieg hat tiefe Gräben zwischen arabischen Menschenrechtsorganisationen und westlichen Gebern aufgerissen. Auf dem Spiel steht nicht nur die Glaubwürdigkeit westlicher Regierungen. Vielmehr sind auch die zivilgesellschaftlichen Organisationen vor Ort und das Wertesystem, das ihrer Arbeit zugrunde liegt, betroffen. 

Deutlich wird nicht nur, dass westliches Engagement für Menschenrechte selektiv angewandt wird und die Geberländer sich an massiven Verbrechen gegen die Menschlichkeit mitschuldig machen. Es zeigt sich vielmehr auch ein eklatanter Widerspruch zwischen den Restriktionen und der Zensur, die westliche Institutionen ihren Kooperationspartnern bei Meinungsäußerungen zum Krieg zwischen Israel und der Hamas auferlegen, und den Werten, die sie zu vertreten vorgeben. 

Westliche Länder haben in einem derartigen Ausmaß ihr politisches Kapital verloren, dass dieses in absehbarer Zeit nicht wiedergewonnen werden kann. Auf Seiten der zivilgesellschaftlichen Institutionen in Ägypten ist der Verlust aber noch größer: In einer Zeit, in der die Unterdrückung durch die lokalen Behörden ihren Höhepunkt erreicht hat, stehen diese Institutionen unter dem Druck ihrer westlichen Geldgeber und leiden zugleich unter der Last ihrer eigenen Wertekonflikte. 

Shady Lewis Botros 

© Qantara.de 2023  

Aus dem Arabischen übersetzt von Daniel Falk