Afghanistans vergessene Hälfte

Damit bei den Friedensgesprächen mit den Taliban auch die Interessen der Frauen berücksichtigt werden, müssen sie gleichberechtigt an den Verhandlungen, deren Gestaltung sowie bei der Umsetzung des Friedensprozesses teilnehmen. Von Ashley Jackson und Anne-Marie Slaughter

Von Ashley Jackson & Anne-Marie Slaughter

Als Zalmay Khalilzad im September 2018 zum US-Sonderbeauftragten für Aussöhnung in Afghanistan ernannt wurde, schien ein Ende des Ende des längsten Kriegs Amerikas endlich in Sicht. Doch seit Präsident Donald Trump Ende Dezember plötzlich ankündigte, dass die Vereinigten Staaten 7.000 ihrer Soldaten aus Afghanistan abziehen werden, hat sich der Druck auf Khalilzad, im Frühjahr ein Abkommen mit den Taliban zu erzielen, dramatisch erhöht.

Viele fürchten nun, dass Trump den Truppenabzug aus Afghanistan ungeachtet der damit verbundenen Folgen durchziehen will, wobei den Folgen für die Frauen am wenigsten Beachtung geschenkt wird.

Der Fortschritt der afghanischen Frauen ist entscheidend für das Fortkommen des Landes insgesamt. Trotzdem sind Frauen in der internationalen Presseberichterstattung plötzlich ebenso unsichtbar wie in großen Teilen der afghanischen Gesellschaft.

Ein potenziell desaströses Image-Problem

Unter vier Augen räumen zahlreiche Diplomaten ein, dass Frauenrechte in den Gesprächen mit den Taliban schlicht keine hohe Priorität genießen: nett, aber unnötig und angesichts dessen, wie grausam Frauen von den Taliban während ihrer Regierungszeit in den 1990er Jahren behandelt wurden, ist eine Lösung dieses Problems womöglich ohnehin aussichtlos.

Diese Denkweise ist falsch. Die Führung der Taliban weiß, dass sie ein potenziell desaströses Image-Problem hat. Die internationale Gemeinschaft ächtete ihre Regierung in den 1990er Jahren teilweise aufgrund dessen, wie sie die Frauen behandelte. Die Anführer der Taliban sind der Ansicht, ihren Sinneswandel in dieser Hinsicht beweisen zu müssen, um als legitime politische Bewegung und brauchbarer Partner für eine künftige Vereinbarung über die Machtaufteilung anerkannt zu werden.

Und diese Haltungsänderung hat auch stattgefunden – wenn auch in sehr kleinen Schritten. Mittlerweile erlauben die Taliban in beinahe 60 Prozent der unter ihrer Kontrolle stehenden Landesteile Mädchen den Schulbesuch, solange die Trennung der Geschlechter gewährleistet ist. Dabei handelt es sich um eine bescheidene Verbesserung gegenüber der Zeit vor einer Generation, als ihre Regierung beinahe alle Mädchen vom Schulbesuch ausschloss und Frauen verboten wurde, außer Haus zu arbeiten.

Mädchenschule im afghanischen Herat; Foto: DW/H. Hashemi
"Die Zahl der Mädchen, die eine Schule besuchen sinkt, der rechtliche Schutz für Frauen wird zurückgenommen und im öffentlichen Leben sind Frauen zunehmend Belästigungen und Gewalt ausgesetzt. Sich dieser Probleme anzunehmen ist nicht nur für afghanische Frauen von entscheidender Bedeutung, sondern auch für deren Kinder, Familien und für das Land", argumentieren Ashley Jackson und Anne-Marie Slaughter.

Errungenschaften in Gefahr

Obwohl afghanische Frauen seit dem Sturz der Taliban-Regierung im Jahr 2001 enorme Fortschritte erzielten, sind ihre Errungenschaften in Gefahr und es bleibt noch viel zu tun. Im Rahmen einer jüngst unter 15.000 Afghanen durchgeführten Umfrage gaben die Frauen an, ihre größten Probleme seien mangelnde Bildung und Analphabetismus.  Investitionen in Bildung und Einkommensmöglichkeiten für Frauen sind von entscheidender Bedeutung. Ebenso wie verstärkte Anstrengungen, um den Zugang der Frauen zu Gesundheitsversorgung zu verbessern.

Für afghanische Frauen liegt das Risiko bei einer Geburt zu sterben bei 10 Prozent. Die Situation ist derart dramatisch, dass Taliban-Anführer die Regierung und Nichtregierungsorganisationen ersucht haben, mehr Hebammen in die unter ihrer Kontrolle stehenden Gebiete zu schicken.

Die Zahl der Mädchen, die eine Schule besuchen sinkt, der rechtliche Schutz für Frauen wird zurückgenommen und im öffentlichen Leben sind Frauen zunehmend Belästigungen und Gewalt ausgesetzt. Sich dieser Probleme anzunehmen ist nicht nur für afghanische Frauen von entscheidender Bedeutung, sondern auch für deren Kinder, Familien und für das Land.

Beteiligung der Frauen an den Friedensgesprächen

Die beste Möglichkeit sicherzustellen, dass die Interessen der Frauen bei den Friedensgesprächen berücksichtigt werden, besteht darin, sie am Verhandlungstisch einzubeziehen und sie gleichberechtigt an den Verhandlungen, deren Gestaltung sowie bei der Umsetzung eines Friedensprozesses teilnehmen zu lassen.

Obwohl die meisten Außenpolitik-Experten diesen Vorschlag als überflüssig oder sogar absurd abtun, ist die Einbeziehung der Frauen nicht nur eine Frage des Prinzips, sondern auch der Wirksamkeit möglicher Abkommen. Friedensprozesse, an denen Frauen beteiligt sind, scheitern im Schnitt viel seltener und die Wahrscheinlichkeit, dass ein derart erzieltes Abkommen hält, ist viel höher.

Manche argumentieren möglicherweise, dass die Taliban niemals mit afghanischen Frauen verhandeln würden. Das haben sie allerdings schon getan. Im Jahr 2015 traf eine Gruppe afghanischer Frauen – allesamt hochrangige Regierungsvertreterinnen und Aktivistinnen – mit Vertretern der Taliban in Oslo zusammen. Die Taliban forderten und initiierten das Treffen ausdrücklich und sagten im Anschluss, dass sie eigens daran teilgenommen hätten, um Bedenken hinsichtlich ihrer Politik auszuräumen.

Shukria Barakzai, die afghanische Botschafterin in Norwegen, die an diesem Dialog teilnahm und während der Herrschaft der Taliban eine Mädchenschule im Untergrund betrieb, sagte, dass die Frauen keine Bedenken hatten, die Taliban für die Behandlung der Frauen in der Vergangenheit zur Verantwortung zu ziehen.

"Strikt mit den Taliban umgegangen"

Shukria Barakzai, Parlamentarierin und Frauenrechtlerin; Foto: DW/W. Hasrat-Nazimi
Den Taliban die Stirn bieten und Gerechtigkeit einfordern: Shukria Barakzai, die afghanische Botschafterin in Norwegen, die an diesem Dialog teilnahm und während der Herrschaft der Taliban eine Mädchenschule im Untergrund betrieb, sagte, dass die Frauen keine Bedenken hatten, die Taliban für die Behandlung der Frauen in der Vergangenheit zur Verantwortung zu ziehen.

"Die meisten Menschen würden gar nicht glauben, wie strikt wir mit den Taliban umgingen", meint Barakzai. "Doch sie hörten geduldig zu und respektierten unsere Aussagen. Und es war klar, dass wir es nicht mit den gleichen Taliban zu tun hatten wie in den 1990er Jahren."

Seit diesem Treffen vor vier Jahren wurde allerdings wenig unternommen, um den Dialog zwischen den afghanischen Frauen und den Taliban zu fördern. Westliche Regierungen mögen zwar öffentlich die Bedeutung von Frauenrechten betonen, aber sie haben entsetzlich wenig getan, um ihren Worten auch Taten folgen zu lassen. Insbesondere die Trump-Administration schenkt derartigen Anliegen kein Gehör, da Trump selbst an Frauenrechten in den USA wenig interessiert ist, von Afghanistan ganz zu schweigen.

Die internationale Gemeinschaft kann und muss sich einschalten. Im Rahmen der aktuellen Nato-Mission haben 39 Länder Bodentruppen nach Afghanistan entsandt und viele weitere stellen substanzielle Hilfe für Afghanistan zur Verfügung. Ihr Engagement ist erforderlich, um ein mögliches Friedensabkommen zu unterstützen. Die Länder sollten ihren Einfluss nutzen, um sicherzustellen, dass Frauen am Verhandlungstisch sitzen, dass ihre Themen auf der Tagesordnung stehen und ihre Rechte in Abkommen gewahrt bleiben.

Sollte das unmöglich sein, könnten diese Länder Dialoge im Rahmen der Track II-Diplomatie initiieren und unterstützen, die sich ausschließlich auf Frauenrechte konzentrieren und deren Ergebnisse in umfassendere Verhandlungen einfließen. Überdies sollten die Länder ihre Ausgaben für Hilfeleistungen in maßgeblichen Bereichen wie Frauengesundheit und Bildung erhöhen.

Freilich wird wohl jede Friedensvereinbarung mit den Taliban schwierige und unangenehme Kompromisse enthalten. Aber ein Abkommen, in dem Garantien hinsichtlich des Umgangs mit der Hälfte der afghanischen Bevölkerung fehlen, ist nichts wert. Und die Wahrscheinlichkeit, dass eine Friedensvereinbarung hält, ist viel geringer, wenn sie nicht auch von Frauen verhandelt wurde. Frauenrechte – ob in Afghanistan oder anderswo – sind keine außenpolitische "Zugabe". Sie sind für jede ernsthafte Anstrengung zur Konfliktlösung von entscheidender Bedeutung.

Ashley Jackson & Anne-Marie Slaughter

© Project Syndicate 2019

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier