Mein Land der Ferne

Der libanesisch-französische Musiker Bachar Mar-Khalifé entwirft Klangwelten zwischen Orient und westlicher Avantgarde. Auf seinem neuen Album "Ya Balad" entfaltet er ein Spektrum aus ironischem Reggae, elektronischen Rhythmen, arabischer Poesie und chansoneskem Wiegenlied. Stefan Franzen hat den Multiinstrumentalisten und Komponisten zum Gespräch getroffen.

Von Stefan Franzen

"Wenn ich ins Studio gehe, habe ich keinen vorgefertigten Plan, ich möchte anti-intellektuell sein, organisch, spontan, ja, animalisch", sagt Bachar Mar-Khalifé. Diese freigeistige Herangehensweise an die Musik erklärt, dass er in so vielen musikalischen Sparten unterwegs sein kann.

Geerbt hat er sie vom Vater Marcel, ebenfalls ein geradezu universell wirkender Kopf, der nicht nur die Erneuerung der arabischen Laute vorangetrieben hat, sondern auch zwischen Klassik, Jazz und traditioneller Musik vermittelt. "Von ihm habe ich vor allem außermusikalische Dinge gelernt", bekennt der Sohn. "Er hat sich niemals von der Meinung des Publikums beirren lassen, hatte Mut zur vollkommenen Freiheit und besaß eine unglaubliche Hingabe an seine Arbeit."

Mit sechs Jahren flieht Bachar mit seinen Eltern vor dem libanesischen Bürgerkrieg nach Paris. Zu den libanesischen Gesangsstars, die seine Mutter zuhause nachsingt, Fairuz, Asmahan und Sabah, treten die Klänge der ersten französischen Hip-Hop-Welle, der Chanson eines Brassens und Ferré und die Band Nirvana. Der junge Bachar saugt alles auf, selbst als er auf dem Konservatorium Piano und Perkussion studiert, sind Michael Jacksons Album "Dangerous", Bach und Mozart sowie die modernen Werke von Edgar Varèse und Iannis Xenakis in seinen Ohren im Widerstreit.

"Alles was mich zum Tanzen und Heulen brachte", definiert Mar-Khalifé heute seinen damaligen Geschmack, ausgefiltert habe er erst später. Vor allem die elektronische Musik wirft seine Hörgewohnheiten dann über den Haufen.

Seitdem hat Bachar Mar-Khalifé auf vielen Schau- und Hörplätzen gewirkt: Er arbeitete mit dem Orchestre National de France, schrieb Filmmusiken, fand sich zu Teamworks mit Jazz- und Elektronikkünstlern zusammen. Derzeit tourt er als Teil eines genauso unorthodoxen wie erfolgreichen Trios mit den beiden Luxemburgern Pascal Schumacher und Francesco Tristano, die Minimal Music, Jazz und Pop mischen.

Frage nach der Identität

Seine ureigene Sprache jedoch kommt vor allem auf den Solowerken zum Zuge. "Ya Balad" (Oh, Heimat") ist das dritte unter ihnen. Zentral ist für Bachar Mar-Khalifé auf diesem Werk die Frage der Identität. "Ich wende mich auf der CD meinem Land zu. Es ist nicht zwangsläufig der Libanon, ich nenne es 'mein Land der Ferne', der Imagination. Wenn ich an den Libanon denke, dann ist das ja der Libanon meiner Kindheit, der mir fehlt, mit dem ich Erinnerungen verbinde, und nicht die Nationalflagge. Mein Zuhause hat sich erweitert - ich habe auch keine Probleme damit, mich in Island wohlzufühlen", sagt er lachend.

Diesen kosmopolitischen Geist mit einem nostalgischen Filter atmet "Ya Balad" in sehr verschiedenen Szenarien. Mar-Khalifé eröffnet die CD mit einer Stimmenschichtung in seiner Lesart des "Kyrie Eleison", in dem Gott sich erbarmen soll, die Menschen endlich in Ruhe zu lassen, eingebettet in barocke Harmonien. Für "Lemon" hat er ein Cembalo auf die arabische Vierteltonskala umgestimmt und kombiniert empfindsame Liebeslyrik des ägyptischen Dichters Samir Saady mit Clubrhythmen.

Harmlos scheint "Balcoon" mit seinen spaßigen Reggae-Rhythmen, doch es ist ein ambivalentes Porträt der libanesischen Jugend: "Ich erzähle, wie ihr dringendstes Problem ist, Abendverabredungen zu organisieren, während um sie herum Krieg und Flüchtlinge sind. Dieser eklatante Widerspruch lässt sich sehr interessant in Musik umsetzen."

Kein Widerspruch zwischen Halleluja und Gnawa-Rhythmen

Auch der Vater Marcel Khalifé ist vertreten: Sohn Bachar adaptiert dessen Stück "Madonna", eine Widmung an zu früh verstorbene Kinder, die Halleluja-Phrasen mit den Rhythmen der marokkanischen Gnawa verknüpft. "Das Halleluja ist ja nicht exklusiv im Besitz des Okzidents. Es wird in den Kirchen des Orients auf Arabisch, Aramäisch und Assyrisch gesungen. Also gibt es für mich keinen Widerspruch zwischen einem Halleluja und einem Gnawa-Rhythmus!"

"Ya Balad" album cover, InFiné (photo: Lee Jeffries)
A process of inner exploration: Mar-Khalife has chosen to reflect this on the cover of the CD, where he is depicted in profile, though with one hand obscuring his features. The photographer was the much acclaimed Lee Jeffries, famed for his series "Lost Angels"

Es mag außerdem überraschen, dass auf diesem Album mit seinem unverkennbar experimentellen Ansatz zwei Wiegenlieder zu finden sind. Eines ist die Adaption eines Chansons, der nahezu ein Jahrhundert alt ist: "Dors Mon Gâs" hat Bachar Mar-Khalifé durch die französische Familie seiner Frau kennengelernt. Für das andere, das libanesische Traditional "Yalla Tnam Nada" kommt die iranische Schauspielerin Golshifteh Farahani ans Mikro, es wurde für den Film "Go Home" umgesetzt.

"Es ist wie ein Atemholen in der Mitte des Albums", so Khalifé. "Wiegenlieder haben ja auch immer etwas Schmerzliches für uns Erwachsene, drücken ein Fehlen aus und können auf eine aktuelle Situation übertragen werden. Dieses Aktuelle, Universelle, das ist wesentlich für mich."

Konkrete Erklärungen für seine Stücke zu geben, das mag er nicht. "Ich möchte dem Hörer ja nicht die Sicht verbauen. Er soll sein eigenes, inneres Exil entdecken können." Dieses "Nach-Innen-Gehen" spiegelt Bachar Mar-Khalifé auch auf dem Titelfoto seiner CD. Er hat sich dafür vom berühmten Fotografen Lee Jeffries ablichten lassen, der durch seine Serie "Lost Angels" Aufsehen erregt hat - Porträts von Obdachlosen, deren Gesichter durch eine ungewöhnliche Lichtinszenierung fast eine spirituelle Dimension bekommen.

Mar-Khalifé wählte für sein Foto eine Profilansicht, die Hand jedoch verdeckt seine Gesichtszüge. Verzweiflung, Zukunftsangst, Nachdenklichkeit, Innerlichkeit? Alles steckt in diesem Bild, genau wie in den Stücken auf "Ya Balad". "Der Wert eines guten Fotos bemisst sich nach der Menschlichkeit, die es atmet. Es ist non-verbal, man spricht nicht darüber", urteilt Bachar Mar-Khalifé. "Und genauso ist das mit meiner Musik."

Stefan Franzen

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