Biden und Erdogan – wie viel Zuckerbrot, wie viel Peitsche?

Ausblick auf die US-amerikanisch-türkischen Beziehungen im Jahr 2021.
Ausblick auf die US-amerikanisch-türkischen Beziehungen im Jahr 2021.

Erste Erklärungen der künftigen Administration Biden lassen vermuten, dass man im Umgang mit der Türkei Zuckerbrot und Peitsche einsetzen will. Ankara dagegen glaubt, seine Verhandlungsposition in verschiedenen Fragen stärken zu können, was die Zusammenarbeit mit dem neuen Mann im Weißen Haus angeht. Aus Istanbul informiert Ayşe Karabat

Von Ayşe Karabat

Der Wahlsieg von Joe Biden zum neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten löste in der Türkei gemischte Reaktionen aus: Besorgnis, Hoffnung, Unsicherheit, Verschwörungsfantasien und Neugierde auf das, was auf die beiden NATO-Partner zukommt.

Im vergangenen Jahr zog Joe Biden während seiner Wahlkampagne den Zorn Ankaras auf sich, als er sagte, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sei ein Autokrat und Washington solle die türkischen Oppositionsführer ermutigen, "sich Erdogan vorzunehmen und zu bezwingen – nicht per Staatsstreich, sondern durch Wahlen".

Davon abgesehen ist eines für jeden klar, der die Beziehungen zwischen Ankara und Washington aufmerksam verfolgt: Die türkisch-amerikanischen Beziehungen, die weitgehend auf die sonderbaren Beziehungen zwischen dem scheidenden US-Präsidenten Donald Trump und Erdogan reduziert worden waren, werden unter der neuen Regierung sicherlich neu justiert.

Es ist anzunehmen, dass es zwischen den beiden Präsidenten weniger direkte Telefongespräche geben wird und die Hintertürdiplomatie per jeweiligem Schwiegersohn Geschichte sein dürfte. 

Berat Albayrak, der vor kurzem als Finanzminister zurückgetretene Schwiegersohn von Erdogan, und Jared Kushner, Schwiegersohn von Trump, spielten beide eine aktive Rolle in der Pflege der bilateralen Beziehungen zwischen beiden Ländern. 

 

Demokratların ABD Başkanlığı adayı @JoeBiden Türkiye’de muhalefeti destekleyerek @RTErdogan iktidarını değiştireceğini ve en son yapabileceği şeyin Kürtler hakkında Erdoğan’a “taviz vermek” olacağını söyledi. Joe Biden samimi bir Kürt ve Kürdistan dostudur. pic.twitter.com/PqzGuOWWUF

— Arif Zêrevan (@ArifZerevan) August 15, 2020

 

In der Türkei wurde heftig spekuliert, der Rücktritt Albayraks habe sich nicht zufällig mit der Wahl Bidens überschnitten. Vielmehr sei der Rücktritt auf Bemühungen Ankaras zurückzuführen, sich auf die Biden-Ära einzustellen.

Michael Carpenter, geschäftsführender Direktor des Penn Biden Center for Diplomacy & Global Engagement, war an den genannten Spekulationen beteiligt, indem er sagte, dass Albayraks Rücktritt "ein Hinweis darauf sein könnte, dass die Verdichtung der Faktenlage zur Bereitschaft beiträgt, Politik und Personal neu zu bewerten". 

Während eines Livestreams, der von dem griechischen gemeinnützigen Forschungsinstitut Hellenic Foundation for European and Foreign Policy (ELIAMEP) veranstaltet wurde, meinte Carpenter: "Lasst uns das testen."

Es scheint, als bereite sich Ankara auf diesen Test vor: Nicht nur werden Verbindungen zu neuen Interessenvertretern geknüpft, die für gute Beziehungen zur US-Regierung sorgen sollen, Ankara stellt auch Reformen in Aussicht, die die Rechtsstaatlichkeit verbessern und die Wirtschaft stärken sollen.

Die türkische Wirtschaft kämpft mit diversen Problemen. Insbesondere seit 2018, als Trump der Türkei in einem Tweet Sanktionen androhte und später Strafzölle verhängen ließ, weil Ankara den amerikanischen evangelikalen Pastor Andrew Brunson inhaftiert und wegen Verbindungen zum Terrorismus angeklagt hatte. Brunson wurde schließlich nach zwei Jahren Haft freigelassen.Ankara dürfte diesen Vorfall nicht vergessen haben und scheint auf eine neue Ära in den Beziehungen zu den USA zu hoffen. Man setzt darauf, dass Biden weniger impulsiv als Trump sein wird. Ankara hofft, dass beide Länder ihre Beziehungen auf gemeinsame Interessen gründen und vorhandene Hürden umschifft werden können.

Bei demselben Treffen erklärte Carpenter, die neue Regierung plane keine empfindlichen Sanktionen gegen die Türkei. Das Ziel dürfe nicht darin bestehen, "die Türkei in die Enge zu treiben". Dies werde von Ankara als "vielversprechender Anfang" betrachtet, wie Burhanettin Duran, Leiter des prominenten regierungsfreundlichen Think-Tanks SETA, in seiner Kolumne in der regierungsfreundlichen Tageszeitung Sabah schrieb. 

Wie viel politischer Einfluss?

Nach Ansicht des prominenten unabhängigen Journalisten Murat Yetkin geht Ankara davon aus, dass Biden die transatlantischen Beziehungen erneuern möchte, um den Einfluss Russlands im Mittelmeerraum und im Kaukasus sowie in anderen Regionen einzudämmen. Dabei setze er möglicherweise auf die Türkei.

 

"Wegen Erdogans riskanter Militärdiplomatie sitzt die Türkei nicht nur in der Syrienfrage mit am Verhandlungstisch, sondern auch bei anderen Konflikten, wie in Libyen und Armenien/Aserbaidschan. Das zeigt, dass in Syrien und im östlichen Mittelmeerraum ohne ihn keine Lösung machbar ist. Auch wenn sich seit der Regierung Obama das Verhältnis zu Erdogan und der Türkei eingetrübt hat, sind keine Maßnahmen zu erwarten, die die Türkei in Richtung Russland, China und Iran drängen werden", schrieb Yetkin in seinem Blog.

Laut Duran hat die Türkei gegenüber der Regierung Biden einen gewissen Handlungsspielraum, weil sie "in vielen Teilen der Welt am Verhandlungstisch sitzt und vor Ort präsent ist".

"Es gibt zwei entscheidende Punkte: Als ein führendes NATO-Mitglied gleicht die Türkei den russischen Einfluss in Libyen, Syrien und Berg-Karabach aus. Gleichzeitig kann das Land eine konstruktive Rolle spielen, während das westliche Bündnis, das die Regierung Biden wiederbeleben möchte, Moskau die Stirn bieten soll", schrieb er in seiner Kolumne.

Einige Beobachter befürchten allerdings, dass Ankara sein Blatt überreizen könnte. So beispielsweise Soli Özel, Professor an der Fakultät für internationale Beziehungen der Kadir-Has-Universität in Istanbul.

"Viele Menschen in den Vereinigten Staaten glauben, auch ohne die Türkei zurechtzukommen", sagte er gegenüber dem US-Auslandssender Voice of America und betonte, die Botschaft Bidens an die Türkei bestehe darin, "sich wie ein Verbündeter zu verhalten oder die Konsequenzen zu tragen".

Eine der allerersten Botschaften der Biden-Regierung, die Carpenter überbrachte, verdeutlicht, wie das neue Weiße Haus die Rolle einschätzt, die die Türkei spielen könnte. Es sollte aber offen ausgesprochen werden, dass sie dafür einen Preis zahlen muss.

"Statt einseitiger Drohungen sollten die NATO-Mitgliedsstaaten eine 'einheitliche Front' bilden, was Erdogan davon überzeugen könnte, dass es durchaus Raum für Zusammenarbeit gibt, aber dass eine weiterhin aggressive Politik sehr negative Folgen haben wird", sagte Carpenter.

 

Schwierige Themen auf der Tagesordnung

Trotz der anfänglichen Bereitschaft beider Seiten, die Lage zu sondieren und zusammenzuarbeiten, gibt es schwierige Themen, die sehr bald angegangen werden müssen, angefangen bei der Frage zum russischen Raketenabwehrsystem S-400.

Die Türkei hat das System von Russland gekauft. Trotz Warnung Washingtons, der Kauf verstoße gegen US-Gesetze und die Radartechnik des Systems gefährde die Verteidigungssysteme der NATO.

Ungeachtet einschlägiger Warnungen von US-Senatoren, dass ein Test des Systems Sanktionen auslösen werde, führte Ankara im Oktober Testläufe durch. Gemäß dem Countering America's Adversaries Through Sanctions Act (CAATSA) könnte Biden jetzt Maßnahmen gegen Ankara ergreifen – von symbolischen bis hin zu empfindlichen finanziellen Sanktionen.

Ein weiteres Thema, das Ankara Sorgen bereitet, ist der Fall des türkischen staatlichen Finanzinstituts Halkbank. 2018 wurde eine Führungskraft der Bank in New York unter dem Vorwurf verhaftet, an einem Plan zur Umgehung der US-Sanktionen gegen den Iran mitgewirkt zu haben.

Anfang 2021 wurde vor einem New Yorker Gericht erneut Klage gegen die Halkbank erhoben. Wie die New York Times berichtete, habe sich das US-Finanzministerium bislang jedoch zurückgehalten, was auf die guten Beziehungen zwischen Erdogans Schwiegersohn Albayrak und der Trump-Administration zurückzuführen sei.

In der Amtszeit Bidens dürften solche persönlichen Beziehungen weniger nützlich sein. Hier werden institutionelle Beziehungen das Fundament bilden, während der Rest Verhandlungssache ist. Weder Konflikte noch Kooperationen dürften daher für Überraschung sorgen.

Ayşe Karabat

© Qantara.de 2020