"Wir müssen kontroverse Diskussionen zulassen"

Benjamin Idriz ist Imam der Islamischen Gemeinde Penzberg und Vorsitzender des "Münchner Forum für Islam“.
Benjamin Idriz ist Imam der Islamischen Gemeinde Penzberg und Vorsitzender des "Münchner Forum für Islam“.

Benjamin Idriz, Imam der Moschee in Penzberg bei München, ist einer der profiliertesten Vertreter des Islam in Deutschland. Er sieht seine Aufgabe darin, Brücken zur Mehrheitsgesellschaft zu bauen, ohne das eigene Profil aufzugeben. Moscheegemeinden sollten ein Ort der offenen Diskussion sein, in dem auch kontroverse Meinungen möglich sind. Mit ihm sprach Claudia Mende für Qantara.de.

Von Claudia Mende

Herr Idriz, aktuell gibt es eine erregte öffentliche Debatte zum Thema Gebetsruf, hervorgerufen durch ein Modellprojekt der Stadt Köln. Wie gehen Sie in Penzberg mit dieser Frage um?

Benjamin Idriz: Das Thema eines Gebetsrufes kam bei uns etwa vor einem Jahr auf, als die Moscheen wegen der Pandemie geschlossen waren. Da hatte ich spontan die Idee, am Freitag einen öffentlichen Gebetsruf zu machen als Signal an die Gläubigen, dass wir da sind, damit sie im Lockdown die Hoffnung nicht verlieren. Wir haben das bei der Stadt Penzberg beantragt.  Als diese Idee bekannt wurde, gab es eine Diskussion mit Leserbriefen in Zeitungen und einer Demonstration, die von einer islamfeindlichen Gruppe aus München organisiert wurde. Sie sind deswegen extra nach Penzberg gekommen. Da habe ich gemerkt, dass unser Wunsch nach dem Gebetsruf eine kontroverse Diskussion ausgelöst hat.

Wie haben Sie auf die Anfeindungen reagiert?

Idriz: Ich habe meine Bitte in Vereinbarung mit unserem Bürgermeister wieder zurückgezogen. Vielleicht ist die Zeit einfach noch nicht reif dafür. Ich war ein bisschen traurig, dass die deutsche Gesellschaft noch nicht bereit ist, für fünf Minuten einen muslimischen Gebetsruf zu dulden. Ich will in einem Land leben, in dem die Kirchenglocken als religiöses Symbol in der Öffentlichkeit hörbar sind, aber auch der Gebetsruf nicht als Bedrohung unserer Werte verstanden wird, sondern als eine Bereicherung. So könnten wir auch Vorbild sein für muslimische Länder, in denen christliche Symbole nicht öffentlich sichtbar sein dürfen.

Saudi-Arabien und andere Länder zu kritisieren, wo die Christen ihren Glauben nicht öffentlich praktizieren dürfen, aber hierzulande nicht den Gebetsruf für die Muslime zu begrüßen, ist paradox. Aber das Thema Gebetsruf darf nicht die deutsche Islamdebatte dominieren. Wir haben Fragen, die viel wichtiger und elementarer sind und die wir dringender diskutieren sollten als den Gebetsruf. Er sollte ein kommunales Thema sein und nicht flächendeckend in ganz Deutschland thematisiert werden.

Neue Gemeindemitglieder, neue muslimische Lebenswelten in Deutschland 

 

In Ihrem neuen Buch "Wie verstehen Sie den Koran, Herr Imam?“ werben Sie für ein zeitgemäßes Verständnis des Koran, das den historischen Kontext der heiligen Texte mitbedenkt. Welches Verständnis des Koran bringen denn Ihre Gemeindemitglieder in Penzberg mit?

Idriz: Sie kommen aus ganz unterschiedlichen Kulturen und islamischen Rechtschulen, außerdem haben sie auch unterschiedliche Weltanschauungen. Sie bringen verschiedene Traditionen und familiäre Erfahrungen mit, die sie hier oder in ihren Heimatländern gemacht haben und verfügen über ein unterschiedliches Bildungsniveau. Deshalb haben wir in mehrerer Hinsicht eine sehr vielfältige und bunte Gemeinde.

Für mich als Imam ist es wichtig, diese unterschiedlichen Ansichten, die Auffassungen aus verschiedenen Rechtsschulen und die religiösen Erfahrungen, die die Gläubigen gemacht haben, aus der Perspektive des Koran zu reflektieren, notfalls zu korrigieren und eine Richtschnur zu geben, wie die Gläubigen in der heutigen Zeit und an dem Ort, an dem sie leben, den Koran lesen, verstehen und umsetzen können.

Neue koptische Kathedrale Geburt Christi bei Kairo; Foto: Getty Images/AFP/M. al-Shahed
Neue koptische Kathedrale Geburt Christi bei Kairo. Anders als in Ägypten dürfen etwa in Saudi-Arabien Christen keine Kirchen bauen. Mit diesem Verweis wollen manche den Muslimen in Deutschland den Gebetsruf verweigern. "Saudi-Arabien und andere Länder zu kritisieren, wo die Christen ihren Glauben nicht öffentlich praktizieren dürfen, aber hierzulande nicht den Gebetsruf für die Muslime zu begrüßen, ist paradox,“ sagt Imam Benjamin Idriz. "Ich will in einem Land leben, in dem die Kirchenglocken als religiöses Symbol in der Öffentlichkeit hörbar sind, aber auch der Gebetsruf nicht als Bedrohung unserer Werte verstanden wird, sondern als eine Bereicherung. So könnten wir auch Vorbild sein für muslimische Länder, in denen christliche Symbole nicht öffentlich sichtbar sein dürfen.“

In den letzten Jahren sind viele Gemeindemitglieder dazugekommen, die neu zugewandert sind. Bringen sie ein traditionelleres Verständnis des Koran mit?

Idriz: Auf jeden Fall, die Moscheegemeinden in Deutschland waren in den letzten 40, 50 Jahren vom türkischen Islam geprägt. Das Bild der Muslime ist aber mittlerweile durch Migranten, die aus  Krisenregionen stammen, aber auch durch Arbeitsmigranten aus den Balkanländern vielfältiger geworden. Dabei ändert sich auch bei uns in Penzberg das Bild der Moscheegemeinde.

Ich habe am Anfang viel mehr auf Türkisch und Bosnisch gepredigt, weil die Mitglieder überwiegend aus diesen beiden Kulturkreisen kamen. Mittlerweile predige ich in mehreren Sprachen, aber in den letzten Jahren ist noch etwas dazugekommen, nämlich die deutsche Sprache, die uns alle mit unseren verschiedenen kulturellen Hintergründen eint. Trotz unterschiedlicher Ansichten und Rechtsschulen können wir eine gemeinsame Sprache finden, nämlich die deutsche, und die Sprache der gegenseitigen Wertschätzung.

Für mich ist nicht nur wichtig, den Koran auf Arabisch zu rezitieren, sondern auch seine universelle Botschaft in allen Weltsprachen zu lesen, zu interpretieren und uns über ihn austauschen. Ich sehe in meiner Gemeinde, dass die Migranten, die jetzt neu dazugekommen sind mit ihren Fragen, ihren Sorgen und Erfahrungen doch in manchen Punkten anders sind als die Muslime, die in Europa ihre Erfahrungen gemacht haben. Meine Aufgabe ist es, eine Brücke zu schlagen zwischen West und Ost, zwischen Glaubensdogmen und Ratio, zwischen Religion und Demokratie sowie unterschiedlichen Weltanschauungen. Dabei will ich gemeinsame Werte betonen, wie die Achtung der Religionsfreiheit, gegenseitigen Respekt, Vielfalt und Toleranz, die sowohl das Grundgesetz als auch der Koran in den Vordergrund stellen.

Eine neue Generation von Muslimen in Deutschland 

Sie beschreiben Ihren Weg als einen Weg der Mitte, Arabisch wasat, der weder Assimilierung will, noch Abschottung, aber ein eigenes Profil. Das klingt nach einer schwierigen Gratwanderung...

Idriz: Ja, das ist nicht so einfach. Wir haben eine dynamische Entwicklung durch die sozialen Netzwerke, durch Digitalisierung, Globalisierung der Welt und eine starke Welle von Migration. All das fordert uns heraus, dabei müssen wir uns in der Mitte finden. Wir müssen die Werte, die uns einen, in den Mittelpunkt stellen und diese Welt gemeinsam aufbauen, ohne ins Extreme zu gehen und uns in einer Parallelwelt abzuschotten. Nein, wir wollen die universellen, gemeinsamen Werte in den Fokus stellen und für die gemeinsamen Anliegen von Menschen in dieser Welt arbeiten.



So verstehe ich "wasat“: Eine Gemeinde, die moderat ist, die Unterschiede zusammenbringt und nicht zu Spaltung und Parallelgesellschaften beiträgt.

Buchcover von Benjamin Idriz "Wie verstehen Sie den Koran, Herr Imam?", Gütersloher Verlagshaus 2021; Quelle: Verlag
Wie lässt sich der Koran heute verstehen? In seinem neuen Buch legt Imam Benjamin Idriz sein Verständnis des Koran für ein breites Publikum verständlich dar. Dabei verbindet er die Treue zur Tradition mit einer zeitgemäßen Auffassung und bietet so einen wichtigen Beitrag zur Diskussion über die Frage der Vereinbarkeit des Islam mit einer säkularen und demokratischen Gesellschaft. "Wir müssen die Werte, die uns einen, in den Mittelpunkt stellen, ohne ins Extreme zu gehen und uns in einer Parallelwelt abzuschotten,“ sagt Idriz. "Nein, wir wollen die universellen, gemeinsamen Werte in den Fokus stellen und für die gemeinsamen Anliegen von Menschen in dieser Welt arbeiten.“

Wie kommt das in der muslimischen Community an? Stehen Sie im Austausch mit anderen Imamen und Moscheegemeinden?

Idriz: Ja, ich spüre ein Interesse bei anderen Imamen und Moscheegemeinden. Ich bekomme bundesweit viele Anfragen von muslimischen Einrichtungen. Zuerst kamen die Anfragen mehr von kirchlicher und nichtmuslimischer Seite, aber seit meinem letzten Buch Der Koran und die Frauen vor zwei Jahren ist ein großes Interesse auf muslimischer Seite spürbar. Trotz Pandemie habe ich viele Lesungen gemacht, auch mit dem neuen Buch, allein im Monat November bin ich mehreren Städten und Moscheegemeinden bundesweit unterwegs.

Hat sich der Diskurs in der muslimischen Community verändert?

Idriz: Ich spüre eine neue Basis, die nicht unbedingt in Moscheegemeinden organisiert ist. Ich sehe eine neue Generation von Muslimen, die sich mit dem Islam identifiziert, aber zugleich neue Formen der Organisation sucht. Sie gründen neue Vereine und Initiativen, die nicht typisch nach einer Moscheegemeinde ausschauen.



Diese neue Generation von Muslimen macht mich neugierig. Sie trägt dazu bei, dass der Islam nicht nur in Moscheegemeinden, sondern auch inmitten der Gesellschaft an Universitäten, in sozialen Netzwerken, in den Medien, auf Plattformen und in ganz unterschiedlichen Kanälen organisiert ist.

Sie sind offen für neue Fragen und neue Personen, für neue Themen und Herausforderungen wie Umweltfragen, Gleichberechtigung der Frauen, politisch-gesellschaftliche Partizipation, interreligiöser Dialog und vor allem für einen neuen Islamdiskurs im Kontext der Zeit. Das ist das eine Gratwanderung für die muslimische Community in Deutschland und in Europa.

 

Barmherzigkeit und Mitgefühl sind zentrale Elemente im Islam

Zu den wichtigen Themen gehört auch die Frage, wie man verhindern kann, dass junge Menschen sich radikalisieren. In Ihrem Buch schreiben Sie, es gebe bei manchen Muslimen eine "Barmherzigkeitsvergessenheit“, die zu Radikalisierung beitragen könne. Was meinen Sie damit?

Idriz: Radikalisierung beginnt mit Gedanken und Worten und kann dann in Taten enden. Daher sind die Barmherzigkeit und die Liebe sehr wichtig, sowie zwei Elemente, auf die ich großen Wert lege, nämlich Vernunft und positive Erfahrung. Diese beiden und Werte wie Barmherzigkeit und Mitgefühl sind zentrale Elemente im Islam, der Koran betont sie immer wieder. Sie sollten unser Islamverständnis prägen.

Radikalisierung findet nicht in den Moscheegemeinden, sondern vielmehr in den sozialen Medien statt. Da müssen wir als Imame noch aktiver werden, um junge Menschen zu erreichen. Ich bin sehr froh, wenn ich sehe, wie junge Muslime in den sozialen Netzwerken ein Bild von einem Islam der Liebe und Achtung verbreiten. Junge Menschen sind vor allem im Netz unterwegs, mehr als in den Moscheen, das Bild von einem Islam der Vernunft und des Mitgefühls sollte in den sozialen Medien gestärkt werden.

Was können Moscheegemeinden noch tun?

Idriz: Natürlich, die Moscheegemeinden sind alternativlos, wenn es um religiöse Bildung geht und um religiöse Erfahrung, Auslegung der Religion und ihre Praxis. Sie bleiben ein zentraler Ort für religiöse Aufklärung. Die Imame und die Vorstände der Gemeinden müssen offen sein für unterschiedliche Themen, für eine Kultur des Dialogs, der offenen Diskussion und eines Austausches, der kontroverse Meinungen zulässt.



Sie müssen offen gegenüber jungen Menschen sein, ohne einen Unterschied zwischen Männern und Frauen zu machen. Ich bedauere es, wenn Jugendliche, die überall gemeinsam unterwegs sind, in manchen Moscheegemeinden nur getrennte Aktivtäten unternehmen dürfen, denn dann können sie sich nicht austauschen. Manche Moscheegemeinden wollen das aber nicht. Solange in den Moscheegemeinden keine kontroversen Diskussionen stattfinden, werden junge Menschen dem Islam woanders nachspüren. Etwa in den sozialen Medien, wo radikale Kräfte manchmal aktiver sind als die Moscheegemeinden.

Das Interview führte Claudia Mende.

© Qantara.de 2021

Benjamin Idriz, geboren 1972 in Skopje/Mazedonien, ist Imam der Islamischen Gemeinde Penzberg und Vorsitzender des "Münchner Forum für Islam“. Er ist Autor von unter anderem "Der Koran und die Frauen: Ein Imam erklärt vergessene Seiten des Islam" (Gütersloher Verlagshaus, 2019) und "Wie verstehen Sie den Koran, Herr Imam? Grundgedanken für einen Islam heute und hier", Gütersloher Verlagshaus 2021.

 

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