Eintausendundeins sinkende Schlauchboote

Das stumme Puppenspiel "Eintausendundeine Titanic" verbindet traditionelle Aufführungstechniken - wie Schattentheater und Handpuppenspiel - mit Pantomime, Musik und Tanz und erzählt so die Geschichte der von Kriegen und Konflikten Vertriebenen. Von Changiz M. Varzi

Von Changiz M. Varzi

Während Flüchtlingsboote weiter auf die Küsten Europas zusteuern und die EU ihren chaotischen Streit über Aufnahme oder Aussperrung von Flüchtlingen fortsetzt, geht die "Arab Puppet Theatre Foundation" (APTF) auf Welttournee und erzählt dabei die Geschichte derjenigen, die ihrer Heimat in Schlauchbooten entfliehen oder - wie man im Nahen Osten sagt, in "Todesbooten".

"Scheherazade, die legendäre Geschichtenerzählerin aus Tausendundeiner Nacht hätte wohl keine einzige Geschichte erzählt, würde sie heute leben", sagt Mahmoud Hourani, Gründer der APTF und lächelt dabei bitter. "Stattdessen hätte sie eines der Schlauchboote nach Europa bestiegen", ergänzt der britisch-palästinensische Schauspieler, Autor und Regisseur. Houranis neuestes Stück erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der seinem kriegszerstörten Dorf entflieht und in ein Boot nach Europa steigt.

Die Aufführung thematisiert den Konflikt derjenigen, die ihre Familien auf der Suche nach Sicherheit und Frieden verlassen. Hourani sieht Parallelen zwischen den Tragödien der Todesboote im Mittelmeer und der Titanic. "Mit der Titanic ging damals ein einziges Schiff unter. Heute setzt sich die Katastrophe scheinbar endlos fort. Ebenso wie sich die Geschichten von Scheherazade über tausendundeine Nacht fortsetzen."

"Todesboote"

Ein eindrucksvolles Bühnenbild des Stücks zeigt Papierboote, die stellvertretend für die sinkenden Todesboote der Migranten im Mittelmeer stehen. Als Hauptbühnenbild ist das kleine Dorf von Ahmadi aus Pappkarton nachgebildet. Die hinfälligen Häuschen, Cafés und Läden veranschaulichen überzeugend die Verwundbarkeit der Bewohner gegenüber den Kampfbombern mit ihrer tödlichen Fracht.

Die APTF wurde 2008 im Libanon als eine Nichtregierungsorganisation ins Leben gerufen. Ihre eigenständige künstlerische Sprache bricht mit den Konventionen herkömmlicher Puppenaufführungen. Für die Künstler der APTF ist jeder Gegenstand eine potenzielle Puppe. Und jede Requisite kann plötzlich zu Leben erwachen. Als Ahmad beispielsweise gerade ein Boot besteigt, weicht sein Koffer zurück und weigert sich mitzureisen.

Szene aus "One Thousand and One Titanics"; Foto: Changiz Varzi
Odyssee auf "Todesbooten": Die Aufführung thematisiert den Konflikt derjenigen, die ihre Familien auf der Suche nach Sicherheit und Frieden verlassen. Hourani sieht Parallelen zwischen den Tragödien der Todesboote im Mittelmeer und der Titanic.

"Mit unseren Puppenspielen wollen wir der Vorstellung entgegentreten, solche Aufführungen würden meist mit Marionetten oder Handpuppen gespielt und richteten sich vorwiegend an Kinder", erläutert Hourani. "Marionetten sprechen alle Menschen an, nicht nur Kinder. In Marionetten finden Schmerz, Enttäuschung und Hoffnung ihr Echo."

Eine menschliche Odyssee

Für das Ensemble der APTF ist die Flüchtlingskrise keine Tragödie in einem fernen Winkel der Welt. Rakan Abdolrahman Al-Khalil, der 21 Jahre alte palästinensische Puppenspieler aus dem libanesischen Flüchtlingslager Burj al-Shemali, weiß das aus eigener schmerzlicher Erfahrung. 2015 überquerte sein älterer Bruder gegen den Willen seiner Familie das Mittelmeer in einem Todesboot.

"Mit der Flüchtlingskrise ist es wie bei einem Eisberg: Von außen sieht man nur die Spitze. Niemand kann sich den Schmerz und das Leid im Inneren vorstellen", so Al-Khalil. "Niemand spricht über die Not der Zurückgebliebenen, die sehnsüchtig auf ein Zeichen aus der Ferne warten. Niemand kann sich vorstellen, was meine Familie seit dem plötzlichen Verschwinden meines Bruders bis zum Eintreffen seiner ersten Nachricht durchgemacht hat."

Moustafa Hejazi, ein junger Puppenspieler aus der südlichen Vorstadt Beiruts weiß, wovon sein Mitspieler spricht. Ende 2015 machte sich sein bester Freund von Syrien aus auf den Weg nach Europa. Hejazi meint, dass das Problem weder auf den Nahen Osten noch auf die heutige Zeit beschränkt sei.

"One Thousand and One Titanics" (photo: Changiz M. Varzi)
is a creative combination of traditional performing techniques such as shadow and glove puppetry

"Diese Boote nehmen uns einen nach dem anderen fort. Doch das betrifft nicht nur die arabische Welt", betont er. "Der Nahe Osten mag derzeit im Brennpunkt stehen, aber Vertreibung gibt es überall: von Burma über Lateinamerika bis nach Afrika und Australien. Die angestammten Einwohner vieler Regionen weltweit haben keine andere Wahl, als ihre Heimat zu verlassen und in eine ungewisse Zukunft aufzubrechen."

2015 bereiste das Ensemble mit "Eintausendundeine Titanic" Schweden, Dänemark und Tunesien. Es wurde vom europäischen Publikum am Zielort der Flüchtlingskrise freundlich aufgenommen. Nach der Aufführung im Libanon probt die Gruppe nun für eine Bühnentournee durch Deutschland und das Vereinigte Königreich, wo sie ebenfalls den Menschen ihre Geschichte erzählen will.

Samar Anouse, ein 43 Jahre alter Libanese, hat kürzlich "Eintausendundeine Titanic" in Tripolis gesehen. Er meint, es sei für "jeden überall auf der Welt" ganz einfach, die Kernbotschaft des Stücks zu verstehen.

"Alles dreht sich um die Odyssee der Menschheit. Das erkennt jeder", ist er sich sicher. "Es erinnert mich an die vielen tausend Libanesen, die meiner Stadt und meinem Land in fünfzehn Jahren Bürgerkrieg den Rücken kehrten. Jeder, der Ähnliches erfahren hat, wird die Aufführung ganz und gar verstehen."

Das Stück wird schweigend gespielt und endet mit einem rasenden Rauschen der hellblauen Kunststofffolie, die stellvertretend für das Mittelmeer steht. Ahmad versucht verzweifelt, den Wellen ringsum zu entkommen, während er von einer Seite der Bühne zur anderen hastet. Doch er ist gefangen. Das Licht erlischt, die Bühne taucht ins Dunkel und das Rauschen der Kunststofffolie erstirbt.

Changiz M. Varzi

© Qantara.de 2016

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers