''Migration als gestaltbare Chance sehen''

Klaus Bade, Begründer des Instituts für Migrationsforschung der Uni Osnabrück, ist der Meinung, dass die EU durch eine unfaire Wirtschaftspolitik Wanderungsbewegungen verstärkt. Jan-Philipp Scholz hat sich mit ihm unterhalten.

Strengere Überwachung der Außengrenzen, überfüllte Auffanglager, Drittstaatenregelung – hat Europa Ihrer Meinung nach den richtigen Umgang mit Flüchtlingen aus Afrika und anderen Weltregionen gefunden?

Klaus Bade: Weltweit sind immer mehr Menschen betroffen von Kriegen und politischen Krisen, von lebensfeindlichen Umweltveränderungen und von Armut bei starkem Bevölkerungswachstum. Bei Fluchtbewegungen geht es nicht nur um "Wirtschafts-" oder "Armutsflüchtlinge". Die Flucht nach Europa ist eine Ansammlung von Einzelfällen mit den verschiedensten konkreten Motiven.

Die meisten globalen Fluchtwanderungen bleiben überdies nach wie vor innerhalb der Region oder sogar innerhalb des Herkunftslandes. Der Schutzwall der "Festung Europa" führt zu immer gefährlicheren Routen. Der meist irreguläre Weg nach Europa ist nicht nur wegen der dazu in aller Regel nötigen Schlepperdienste teuer, sondern auch riskant und oft lebensgefährlich. Die nationale Flüchtlingspolitik wurde weitgehend auf die EU-Ebene verlagert.

Klaus Bade; Foto: privat
Klaus Bade: "Anstatt auf einseitige Abschottung gegenüber nordafrikanischen Flüchtlingen zu setzen, sollte vielmehr ein europäischer Marshall-Plan für Nordafrika vorangetrieben werden, der auch Möglichkeiten legaler Migration auf Zeit nach Europa einschließt"

​​Die unangenehme Aufgabe der Grenzsicherung wird teils durch europäische, teils durch bilaterale Abkommen zunehmend auf Drittstaaten abgewälzt. Die Sicherung der EU-Außengrenzen wurde dabei oft um den Preis fragwürdiger Kooperationen mit menschenrechtliche Standards brechenden Regimen erzielt.

Trotz der immer weiter in Richtung auf die Herkunftsländer vorverlagerten Abwehrstrategien muss sichergestellt werden, dass der humanitären Aufgabe des Schutzes von bedrohten und verfolgten Personen entsprochen wird. Dies kann mit zureichender Gründlichkeit nicht an Bord der vor den Küsten Europas operierenden Abfangflotte geschehen. Es muss entweder in Europa selbst oder außerhalb Europas unter der Kontrolle des UNHCR stehenden Einrichtungen geschehen.

Wie sollte Europa Ihrer Ansicht nach mit den zahlreichen irregulären Migranten umgehen, die bereits in der EU leben?

Bade: Irreguläre Migration und irreguläre Ausländerbeschäftigung kann man durch Verbote oder bedrohliche Strafkataloge nur begrenzen und nicht abschaffen, denn Irregularität ist ein strukturelles Phänomen. Es ist eng mit der Ausprägung europäischer Staaten als Wohlfahrtsstaaten verknüpft und auch Ausdruck eines unaufhebbaren immanenten Defizits von Zuwanderungssteuerung.

Ein junges Mädchen durchsucht den Müll nach Nahrungsmitteln in Chitungwiza bei Harare, Simbabwe; Foto: picture alliance
Flucht aus wirtschaftlicher Not: Weltweit sind immer mehr Menschen betroffen von Kriegen und politischen Krisen, von lebensfeindlichen Umweltveränderungen und von Armut bei starkem Bevölkerungswachstum, warnt Bade.

​​Wir empfehlen, für Arbeitgeber die Anreize zu irregulärer Ausländerbeschäftigung zu reduzieren. Dazu sollten im Bereich unqualifizierter und gering entlohnter Beschäftigung die unmittelbar auf den Faktor Arbeit entfallenden Abgaben nach Möglichkeit gering gehalten werden. Irregulär lebende Menschen sollten nicht aus Furcht vor Entdeckung oder Abschiebung darauf verzichten müssen, bestehende Rechte in Anspruch zu nehmen, zum Beispiel das Recht auf körperliche Unversehrtheit und auf den vereinbarten Lohn für geleistete Arbeit.

Trägt Europa selbst eine Mitverantwortung für Abwanderungen aus Weltregionen wie Afrika, beispielsweise durch eine unfaire Wirtschaftspolitik?

Bade: EU-Staaten forcieren Wanderungsbewegungen, indem sie in Herkunftsstaaten wirtschaftliche Lebensgrundlagen zerstören. Es gibt nicht nur auf die verschiedenste Weise begründete europäische Einfuhrsperren für diverse afrikanische Produkte, die die grenzüberschreitende Marktentfaltung in Afrika behindern. Es gibt umgekehrt auch europäische Importe, die die afrikanische Produktion behindern oder sogar ruinieren.

So ruinieren Fischereiabkommen die afrikanische Küstenfischerei: Fleischimporte ruinieren bereichsweise die afrikanische Fleischproduktion: In der EU nicht verkäufliche Fleischprodukte werden für zum Teil weniger als die Hälfte des Preises nach Afrika exportiert und liegen damit sogar unter den dortigen Preisstandards.

In den letzten Jahrzehnten haben ärmere Länder einen erheblichen Teil ihrer Akademiker durch Abwanderung in Industrieländer verloren. Zerstört Migration nach Europa auch Entwicklungspotenziale in diesen Ländern?

Bade: Migration zerstört Entwicklungspotenziale, wenn ihr Effekt ein Brain Drain ist. Diese Entwicklung ist vielfach zu beobachten, insbesondere im Bereich der Medizin. In die zunehmend unter Legitimationsdruck geratene herkömmliche Entwicklungspolitik haben deshalb Instrumente der Migrationspolitik Eingang gefunden.

Von einer Verschränkung der beiden Politikbereiche vor allem in Gestalt "zirkulärer Migrationsprogramme" erhoffen sich entwicklungspolitische "Migrationsoptimisten" verbesserte Steuerungsmöglichkeiten und eine Verbesserung der Situation in den Herkunftsländern, "Migrationspessimisten" fürchten eine Wiederkehr von "Gastarbeitererfahrungen".

Italienische Küstenwache vor einem gekenterten Boot bei Porto Empedovle; Foto: dpa
Verheerende Bilanz: Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl wirft der EU vor, beim Flüchtlings- und Menschenrechtsschutz politisch und moralisch versagt zu haben. 2011 hätten bislang über 2.000 Flüchtlinge an den europäischen Außengrenzen den Tod gefunden. Allein im Kanal von Sizilien seien 1.600 Bootsflüchtlinge ums Leben gekommen.

​​Damit "zirkuläre Migranten" zurückkehren und sich initiativ wieder in den wirtschaftlichen Prozess ihres Landes einbringen, müssen in den Herkunftsstaaten entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen werden. Das gilt insbesondere für Rechtssicherheit, eine möglichst korruptionsarme Bürokratie und wirtschaftliche Entwicklungsbedingungen.

Wie könnte Ihrer Ansicht nach eine zukunftsweisende europäische Migrationspolitik aussehen?

Bade: Anstatt auf einseitige Abschottung gegenüber nordafrikanischen Flüchtlingen zu setzen, sollte vielmehr ein europäischer Marshall-Plan für Nordafrika vorangetrieben werden, der auch Möglichkeiten legaler Migration auf Zeit nach Europa einschließt und somit die Chancen statt der Risiken von Migration akzentuiert.

Ganz allgemein muss Europa unter dem Druck des demographischen Wandels lernen, Zuwanderung nicht nur als Bedrohung sondern auch als Hilfe von außen und damit als gestaltbare Chance zu begreifen.

Das Interview führte Jan-Philipp Scholz

© Deutsche Welle 2011

Klaus Bade ist Begründer des Instituts für Migrationsforschung und interkulturelle Studien der Universität Osnabrück und Vorsitzender des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR).

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de