"Die Zukunft der Scharia ist der säkulare Staat"

Wie kann man die Scharia definieren? Der in den USA lehrende und aus dem Sudan stammende Rechtsprofessor Abdullah An-Naim geht von einer Vereinbarkeit der Scharia mit dem modernen Leben aus. Cem Sey hat ihn getroffen.

Abdullahi A. An-Naim; Foto: Emory Law School
Die Anwendung der Scharia, wie sie heutige Islamisten propagieren, widerspreche modernem internationalem Recht, meint Abdullah An-Naim.

​​Das islamische Recht, die Scharia, hat einen schlechten Ruf - insbesondere in westlichen Ländern, aber auch unter vielen säkularisierten Muslimen. Es steht für Unterdrückung der Frauen, Verachtung der Menschenrechte und Rückständigkeit.

Abdullah An-Naim, Rechtsprofessor an der amerikanischen Emory-Universität in Atlanta und keineswegs Fundamentalist, versteht den Begriff Scharia freilich ganz anders. Scharia, sagt er, sei positiv und zukunftsfähig, die Zukunft liege allerdings in einem säkularen Staat und nicht in einem islamischen:

"Mein Argument ist, dass die Idee des islamischen Staates eine postkoloniale Idee ist. Sie hat sich aus der europäischen Staatslehre und der europäischen Rechtslehre heraus entwickelt. Das passt nicht in die Natur der Scharia und ist nicht vereinbar mit der Geschichte der islamischen Gesellschaft."

Die auf das siebte Jahrhundert zurückgehenden Rechtslehren der Scharia, so an-Naim, seien in ihrer ursprünglichen Form mit der Lebensrealität im 21. Jahrhundert einfach nicht mehr vereinbar. Man müsse sie neu definieren. Die Anwendung der Scharia, wie sie heutige Islamisten propagieren, widerspreche modernem internationalem Recht.

Die Scharia hat eine Zukunft

Diese Gedanken versucht An-Naim in seinem neuen Buchprojekt "Die Zukunft der Scharia" zu beschreiben. Neben einer arabischsprachigen Ausgabe wird das Buch von Farsi bis Russisch für die Leser in Zentralasien in insgesamt sieben Sprachen veröffentlicht werden. Denn die Debatte über die Scharia ist unter vielen Muslimen aktuell.

Der aus dem Sudan stammende An-Naim ist strikt gegen das Konzept des islamischen Staates, wie er heute im Iran oder in Afghanistan zu sehen ist. Das widerspreche der islamischen Tradition, meint er:

"Es gab immer eine Trennung zwischen der religiösen und der politischen Autorität. Emire oder Sultane waren politische Herrscher - aber keine religiösen Autoritäten. Die Scharia entwickelte sich unabhängig vom Staat in der autonomen Domäne der Gelehrten. Jedes Mal, wenn der Staat versuchte, die Gelehrten auf seine Seite hinüberzuziehen, korrumpierte er das islamische Gelehrtentum. Er verursachte Spannungen und Unterdrückung sowohl von religiösen Minderheiten unter den Muslimen als auch unter anderen Religionen."

Deshalb befürwortet An-Naim einen Säkularismus, in dem ein neutraler Staat die Gesetze für alle Bürger so gestaltet, dass den Bürgern genug Raum bleibt, ihr Leben nach den Regeln ihres Glaubens zu führen.

Unterschiedliche Interpretationen der Scharia

So könne zum Beispiel ein muslimischer Geschäftsmann seine Geschäfte ohne Zinsen abwickeln - auch wenn der Staat die Zinsen generell nicht verbietet.

Dabei müssten sich aber auch die vielen vorhandenen unterschiedlichen Islamauffassungen entfalten dürfen, betont der Scharia-Experte. Denn das islamische Gesetz sei schon in der Geschichte immer sehr unterschiedlich interpretiert worden.

Der Staat solle nach Auffassung An-Naims neutral sein, die muslimischen Gelehrten und Meinungsführer oder die Muslime als solche sollten allerdings beginnen zu überprüfen, wie die Scharia in der Vergangenheit verstanden wurde.

Seine liberalen Auffassungen seien nicht dadurch entstanden, dass er seit zwanzig Jahren im Westen lebe, betont An-Naim. Auch wenn die Europäer etwas mehr über den Islam und ihre Geschichte kennen würden als die US-Amerikaner: Der Blick des Westens auf die islamische Welt sei generell oft durch Arroganz gekennzeichnet:

"Man nimmt an, dass der Westen die Rationalität und die Modernität definiert und die Muslime sich damit abkämpfen, sich damit zu arrangieren. Tatsache ist aber, dass der westliche Kolonialismus die natürliche Evolution der islamischen Gesellschaften gestört und neue Realitäten geschaffen hat, mit denen sich die Muslime arrangieren müssen. Aber die Ideen und die Werte, von denen ich rede, sind keineswegs neu in der muslimischen Tradition."

Gescheiterte Reformbewegung im Sudan

Diese Ideen hat Abdullah An-Naim erstmals als 22-jähriger Jurastudent in seinem Heimatland Sudan kennen gelernt. Damals hatte er sich der islamischen Reformbewegung unter Mahmoud Mohamed Taha angeschlossen. 1986, nachdem Taha wegen seiner abweichenden Meinung hingerichtet wurde, verließ er sein Land als politischer Flüchtling.

Seitdem arbeitet er in den USA weiter an den Theorien seines Vorbildes Taha. "Ohne damit irgendjemanden im Sudan in Verbindung zu bringen", fügt er schnell hinzu - denn islamische Reformbewegungen werden in dem afrikanischen Land noch strikt verfolgt bis hin zur Todesstrafe, auch wenn An-Naim hofft, dass sich diese Situation allmählich verbessert. Alleine fühlt er sich mit seinen Gedanken ohnehin nicht, auch nicht innerhalb der islamischen Welt. Seine Stimme sei sogar die der Mehrheit:

"Das Spektakulärere, Gewalttätigere, Theatralischere, das heutzutage im Terrorismus zum Ausdruck kommt, kommt nur daher, weil eine Minderheit sich mit Gewalt aufdringen will. Wir aber rufen zu demokratischen, konstitutionellen und die Menschenrechte respektierenden Regierungen und Staaten auf. Unsere Stimme wird nur nicht so sehr gehört, weil sie nicht zu den Stimmen zählt, aus denen heute Schlagzeilen entstehen."

Lernen von Muslimen im Westen

Gerade die arabische Welt und die islamischen Gelehrten dort würden immer wieder nach Alternativen zum überlieferten Islamverständnis suchen. Sie würden dabei auch von den Erfahrungen von Muslimen in nicht-islamischen oder zumindest nicht-arabischen Ländern lernen, etwa in Sachen Menschenrechte, Demokratie und Säkularismus.

An-Naim sieht sich als Teil einer internationalen Gemeinschaft islamischer Intellektueller, die über die aktuellen Herausforderungen für die islamische Welt debattieren. Sich daran zu beteiligen und nach dem richtigen Weg zu suchen, sei seine Pflicht als gläubiger Muslim.

Abdullah An-Naim plant nach Veröffentlichung seines Buches auch, in verschiedene islamische Länder zu reisen, um seine Gedanken dort vorzustellen. Der heute 60-jährige Rechtswissenschaftler, der vor fünf Jahren US-Bürger geworden ist, kann mittlerweile wieder in den Sudan reisen. Auch dort habe er öffentlich reden können, freut er sich, das Interesse an seinen Thesen sei sehr groß. Er sei voller Hoffnung, dass auch der Sudan sich ändern wird.

Cem Sey

© DEUTSCHE WELLE 2006

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