Spätkoloniale Zuckungen

England stoppt einen iranischen Tanker in Gibraltar. Italien und Frankreich unterstützen in Libyen gegnerische Kriegsparteien. Deutschland hat andere Prioritäten. Europa macht es noch mal fast so wie vor 100 Jahren. Ein Essay von Stefan Buchen

Essay von Stefan Buchen

Es schien Vergangenheit zu sein. Vergangene Geschichten mit Auswirkungen auf die Gegenwart, gewiss. Aber eben doch Vergangenheit.

2011 erschien das Buch "A Line in the Sand" (Ein Strich im Sand) des britischen Journalisten und Historikers James Barr. Es erzählt, wie die Londoner "Times" treffend rezensierte, "die ganze schäbige Geschichte" des Gerangels zwischen Frankreich und England während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts um die Hegemonie im Vorderen Orient, dem großen Gebiet zwischen Mittelmeer und westpersischem Hochland, zwischen den Quellen von Euphrat und Tigris und den Oasen der Arabischen Halbinsel.

Es ist eine der besten und wichtigsten Beschreibungen europäischer Kolonialgeschichte im arabisch-islamischen Raum. Man kann das Buch nur atemlos und staunend lesen. In Deutschland ist es kaum bekannt.

Die Kolonialpolitik zweier ebenso selbstbewusster wie selbstgefälliger europäischer Staaten, die sich beide als führende Weltmacht sehen, wird porträtiert. Der Leser erkennt, dass er die Geschichte der arabischen Mandatsgebiete und des Zionismus auch als Funktion des Gerangels zwischen Frankreich und England lesen muss.

Am meisten verblüfft die Anhäufung absurder und absurdester Gleichzeitigkeiten. Während im Ersten Weltkrieg in Flandern Hunderttausende Briten und Franzosen Seite an Seite im Stellungskrieg gegen die deutschen Truppen kämpften und starben, spielten sie in Syrien und Palästina Weltmacht und versuchten mit den hinterhältigsten Methoden, dem anderen zu schaden und das eigene Einflussgebiet auf Kosten des anderen auszuweiten.

Der "Strich im Sand"

) "A Line in the Sand" des britischen Journalisten und Historikers James Barr; Verlag: Simon & Schuster
Treffende Analyse: Das Buch des britischen Historikers James Barr "A Line in the Sand" erzählt, wie die Londoner "Times" treffend rezensierte, "die ganze schäbige Geschichte" des Gerangels zwischen Frankreich und England während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts um die Hegemonie im Nahen- und Mittleren Osten.

Das beliebteste Mittel dabei waren zeitlich und örtlich begrenzte Bündnisse mit lokalen Akteuren. Die Abenteuer des britischen Spions Lawrence von Arabien, die sich nicht nur gegen Deutschland und das Osmanische Reich, sondern auch gegen Frankreich richteten, sind nur die bekannteste unter vielen anderen Episoden.

Der "Strich im Sand" bezeichnet das geheime Abkommen zwischen Sir Mark Sykes und François Georges-Picot, die im Jahre 1916 ihr jeweiliges Imperium vertraten.

Mit dem Abkommen teilten sie den Vorderen Orient auf in ein Gebiet nördlich des Striches, das an Frankreich fiel, und eines südlich des Striches, das an England ging. Aber damit waren die Dinge nicht geklärt.

Ebenso heimlich wie beharrlich versuchte jeder, seine Lage auf Kosten des anderen zu verbessern, während man in Europa eine gemeinsame Front gegen Deutschland bildete.

Drusische Rebellen, die Anfang der Zwanziger Jahre den Aufstand gegen die neuen französischen Herren in Damaskus probten, hatten im englischen Mandatsgebiet in Transjordanien einen Rückzugsraum, in dem sie sich mit Waffen eindeckten.

Palästinensische Aufständische, die gegen England rebellierten, konnten sich vorübergehend in den französisch beherrschten Libanon zurückziehen und dort aufrüsten.

Europäische Rivalen

Im Zweiten Weltkrieg befreiten Briten und Franzosen gemeinsam mit amerikanischer Unterstützung unter hohen Verlusten Frankreich von der deutschen Besatzung und zwangen Nazi-Deutschland von Westen her in die Kapitulation.

Derweil bildete das gaullistische Freie Frankreich Mitglieder der radikalsten zionistischen Gruppierungen in Terrormethoden aus, zu Lasten der Briten.

Autor James Barr weist nach, dass jüdische Attentäter, die tödliche Anschläge auf britische Amtsträger im Orient verübten, vom französischen Geheimdienst trainiert worden waren.

Ähnliches ließe sich von italienisch-englisch-französischen Rivalitäten am Horn von Afrika und entlang der Küsten des Roten Meeres erzählen.

Folgen der europäischen Kolonialgeschichte wirken bekanntlich bis heute nach. Der Orient wird von tiefen und bitteren Konflikten geteilt, um nicht zu sagen zerrissen. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist nicht der einzige, aber vielleicht der bitterste und dauerhafteste.

Bei allen Nachwirkungen hätte man glauben können, dass die konkreten Methoden und Muster des europäischen Kolonialismus dann doch Geschichte seien. Es ist ein Irrtum. Die Methoden und Muster leben wieder auf, zu neuen grotesken Zuckungen. Dass es die letzten sind, traut man sich nicht zu sagen.

In Libyen unterstützt die frühere Kolonialmacht Italien die Regierung von Premierminister Fayez as-Sarraj, die den Großteil der Hauptstadt Tripolis und einige umliegende Gebiete kontrolliert. Frankreich hingegen steht auf der Seite der Rebellentruppe des ehemaligen CIA-Vertrauensmanns Khalifa Haftar, der von Osten kommend einen Feldzug führt, um sich das ölreiche Land mit Gewalt zu unterwerfen und dabei die Hauptstadt Tripolis aus der Luft bombardiert.

Frankreich und Italien, zwei Gründungsmitglieder der Europäischen Union, die bekanntlich eine "Gemeinsame Außenpolitik" führen möchte, unterstützen zwei gegnerische Kriegsparteien in unmittelbarer Nachbarschaft des Kontinents! Als gälte es, die Ansprüche auf kolonialen Einfluss und Weltmachtstellung noch einmal unter Europäern auszufechten. Nur dass Italien heute ein quasi bankrotter Staat ist, der allmählich von China aufgekauft wird, und dass von der französischen Weltgeltung tatsächlich nicht viel übrig geblieben ist. Wer sich ein Bild von der aktuellen Lage Europas machen möchte, muss sich mit diesen neuen Gleichzeitigkeiten beschäftigen.

Abstieg in Raten

Truppen Khalifa Haftars beim Vormarsch auf Tripolis; Foto: Getty Images/AFP
Zweifelhaftes Wirken im libyschen Bürgerkrieg: Frankreich und Italien, zwei Gründungsmitglieder der Europäischen Union, die bekanntlich eine "Gemeinsame Außenpolitik" führen möchte, unterstützen zwei gegnerische Kriegsparteien in unmittelbarer Nachbarschaft des Kontinents! So unterstützt die frühere Kolonialmacht Italien die Regierung von Premierminister Fayez as-Sarraj, Frankreich hingegen steht auf der Seite der Rebellentruppe des ehemaligen CIA-Vertrauensmanns Khalifa Haftar.

England hat, wie der bekannte Historiker Ian Kershaw treffend analysiert, seinen Abstieg von der Stellung des Weltimperiums noch nicht vollendet. Der Boden wurde mit der Unabhängigkeit der großen Kolonien vor nun schon 70 Jahren noch nicht erreicht. Es ist noch Raum nach unten, wie der Brexit zeigt.

Aber noch herrscht Großbritannien über Gibraltar, jenen Felsen an der strategischen Meerenge zwischen Europa und Nordafrika, der auf arabisch "Djabal at-Tariq" heißt. Und Großbritannien beweist gerade, dass Gibraltar mitnichten nur eine schrullige Touristenattraktion für Spanienurlauber ist, die sich zu warm angezogene englische Soldaten beim Exerzieren anschauen wollen, sondern eine Trumpfkarte, die es im aktuellen geopolitischen Spiel eiskalt einzusetzen gilt.

Ein iranischer Öltanker, der vom Atlantik kommend die Straße von Gibraltar passieren wollte, um angeblich nach Syrien zu fahren, wurde von der britischen Marine gestoppt. Der Kapitän und der Erste Offizier des Schiffes wurden von den Briten festgenommen. London wirft ihnen vor, die Sanktionen gegen Iran und Syrien zu brechen. Der deutsche Außenminister betont derweil die Wichtigkeit des Festhaltens am Atomabkommen mit dem Iran. Frankreich und Deutschland warnen zudem vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch des mit "den härtesten Sanktionen der Geschichte" überzogenen Landes.

Schrullig ist wohl das passende Attribut für den englischen "Tankersprung" von Gibraltar. Die historischen Reminiszenzen sind zu eindeutig. Die iranische Propaganda greift natürlich gerne zu, um diese abzufeiern. Der englische Griff nach Persien, die Opiumkriege, die "Anglo Iranian Oil Company" in Abadan im Südwesten Irans, die Operation Ajax, also der im Jahre 1953 von den britischen und amerikanischen Geheimdiensten eingeleitete Sturz des iranischen Premierministers Mohammad Mosaddegh, der die "Oil Company" in Abadan nationalisieren wollte usw. usw.

Rückfall in alte koloniale Spielchen

Was bedeutet der Rückfall in die vergangen geglaubten Muster? Spätkoloniale Zuckungen hat es immer wieder gegeben. Man denke an den Suezkrieg von 1956. Aber im Jahre 2019?

Dass mit den einzelnen Griffen, Sprüngen und Operationen europäischer Staaten die beabsichtigten Ziele erreicht werden, darf nach den Erfahrungen der Vergangenheit bezweifelt werden. Das bedeutet nicht, dass sie folgenlos bleiben. Nur die Folgen werden andere sein als die gewollten.

Ein Psychoanalytiker wird wohl nur mit Unbehagen auf dieses Europa schauen. Im Innern zerlegt es sich. Einige wollen raus aus der EU, andere plädieren für einen neuen Autoritarismus. Man kann sich nicht einigen, weder über Sach- noch über Personalfragen. Flüchtlinge will niemand mehr aufnehmen. Mitten in der Krise spielen die gefallenen Imperialmächte nun noch mal die alten kolonialen Spielchen. Es wirkt wie ein groteskes Aufbäumen vor dem Fall in die endgültige Bedeutungslosigkeit.

Stefan Buchen

© Qantara.de 2019

Stefan Buchen arbeitet als Fernsehjournalist für das ARD-Politikmagazin Panorama.