Kein Abschied vom Dialog

Vor dem Hintergrund islamfeindlicher Debatten in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit rät die islamische Theologin Hamideh Mohagheghi dazu, sich auf keinen Fall zurückziehen. Gerade jetzt sei es wichtig, dass Muslime selbstbewusst ihren Glauben leben und sich öffentlich zu Wort melden. Mit ihr sprach Canan Topçu.

Von Canan Topçu

Frau Mohagheghi, Sie sind als junge Frau vor mehr als 40 Jahren aus dem Iran nach Deutschland emigriert. Was hat sich für Sie als Muslima – etwa in Ihrer Religiosität oder im täglichen Praktizieren Ihres Glaubens – durch den Wechsel in einen anderen Kulturkreis verändert?

Hamideh Mohagheghi: Die ersten 22 Jahre meines Lebens habe ich im Iran gelebt und bin dort sozialisiert worden. Meine Erziehung war sehr streng, ich bin mit sehr vielen Verboten aufgewachsen. Die Vorstellungen über Moral und über das, was Frauen dürfen und nicht dürfen, standen immer im Vordergrund. Frauen sollten nicht in der Gesellschaft präsent sein, sie sollten eine bestimmte Kleiderordnung einhalten... all diese übertriebenen Vorstellungen von Moral, mit denen ich groß geworden bin, habe ich hier ablegen können. Sie existieren für mich nicht mehr, weil ich sie hier reflektieren konnte. Und was die Glaubenspraxis betrifft: Da hat sich eigentlich nicht viel verändert. Jedenfalls sind es keine Veränderungen, die ich selbst wahrnehme. Ich denke aber schon, dass man sich unbewusst verändert, wenn man lange in einem anderen Kulturkreis lebt, in dem man aufgewachsen ist und sozialisiert wurde.

Können Sie konkretisieren, wovon Sie sich verabschiedet haben?

Mohagheghi: "Wenn Du dies und jenes tust, dann kommst Du in die Hölle!". Oder: "Wenn Du dies oder jenes nicht tust, dann wird Gott Dich bestrafen": Das sind Sätze, die ich oft zu hören bekam. Die Angst vor einem strafenden Gott war mein permanenter Begleiter. Mein Verhalten danach zu orientieren, welche Belohnungen ich im Jenseits bekomme, wenn ich mich auf eine bestimme Weise verhalte beziehungsweise nicht verhalte: Das mache ich nicht mehr. Meine Motivation für das, was ich tue und wie ich mich verhalte, orientiert sich nicht ausschließlich für die Zeit im Jenseits.

Was Sie aus Ihrer Kindheit und Jugend berichten, erleben Kinder heute auch noch – und das nicht allein in islamischen Ländern mit strengen Regeln. Auch hier wachsen muslimische Kinder mit der Vorstellung von einem strafenden Gott und der Angst vor dem Höllenfeuer auf. Was ist zu tun, damit dieses angstbesetzte Verhältnis zu Gott  nicht von einer Generation zur nächsten weitergebgeben wird?

Islamischer Religionsunterricht an einer deutschen Schule; Foto:  DW
Richtige Weichenstellung für die Zukunft der jüngeren Generation: "Der islamische Religionsunterricht, der in der Schule erteilt wird, gibt den Kindern die Möglichkeit, eine andere Gottesvorstellung und eine andere Form von Glaubenslehre kennenzulernen. Wenn das Wissen über die eigene Religion religiös und didaktisch gut ausgebildete Lehrer vermitteln, dann wird es dazu beitragen, die strengen Muster der eigenen Familie und des Kulturkreises zu überwinden", meint Mohagheghi.

Mohagheghi: Der islamische Religionsunterricht, der in der Schule erteilt wird, gibt den Kindern die Möglichkeit, eine andere Gottesvorstellung und eine andere Form von Glaubenslehre kennenzulernen. Wenn das Wissen über die eigene Religion religiös und didaktisch gut ausgebildete Lehrer vermitteln, dann wird es dazu beitragen, die strengen Muster der eigenen Familie und des Kulturkreises zu überwinden. Das jedenfalls ist meine Hoffnung.

Wird sich dieser Veränderungsprozess nicht erst in der nächsten Generation bemerkbar machen - wenn also die muslimischen Kinder von heute als muslimische Eltern von morgen ihrem Nachwuchs den Glauben vermitteln?

Mohagheghi: Nicht unbedingt! Veränderungen sind schon jetzt zu beobachten. In Niedersachsen beobachte ich beispielsweise, dass ein Umdenken erfolgt – sowohl in den Moscheegemeinden als auch in den Familien. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass die Kinder, die am islamischen Religionsunterricht in der Schule teilnehmen, ihre Väter und Mütter mit Fragen konfrontieren. Mit Fragen und Themen, auf die die Eltern möglicherweise zunächst schockiert reagieren. Ich höre zudem immer wieder von Imamen, dass sie sich mit der Frage beschäftigen, was sie den Kindern und Jugendlichen in der Moschee lehren sollten. Nur fromme Sprüche, Gebete und Verse beibringen und auswendig lernen lassen, das Lesen des Korans beibringen? Das reicht auf Dauer nicht!  Weil die Kinder einen Vergleich haben – sie konfrontieren die Imame mit dem, was sie in der Schule über ihre Religion erfahren.

Die muslimischen Kinder erhalten also – im Idealfall – über den islamischen Religionsunterricht in der Schule ein solides Wissen über ihre Religion und dadurch auch einen anderen Zugang zu ihrem Gott. Wie sieht es denn mit den Eltern aus? Der Glaube vieler Muslime scheint mehr ein Aberglaube zu sein als eine fromme Gottesbeziehung, die sich aus intensiver Beschäftigung mit dem Koran nährt. Brauchen Erwachsene nicht "Nachhilfeunterricht" über das, was im Koran steht, wie die Suren in der Entstehungszeit gemeint waren und wie sie heute gedeutet werden müssten?

Mohagheghi: Ich kenne aus Hannover eine Frauengruppe, die sich seit mehr als 20 Jahren einmal im Monat trifft und über das spricht und reflektiert, was im Koran steht. Solche Foren für den Austausch gibt es meines Wissens nicht flächendeckend. Sinnvoll wäre es aber gewiss. Es fehlt – auch in den Moscheegemeinden an einer Infrastruktur, um sich intensiver mit dem Koran und dem Islam zu beschäftigen. Heute gibt es die Möglichkeit, sich über das Internet zu informieren. Doch das wiederum ist mit der Gefahr verbunden, in die falschen Foren zu geraten.

Symbolbild Islam in Deutschland; Foto: picture-alliance/Frank Rumpenhorst
Der Islam gehört zu Deutschland: "Muslime sind Bestandteil dieser Gesellschaft. Also hat die Politik die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass diese Menschen ihre Religion hier praktizieren können. Und umgekehrt: Muslime müssen ebenso akzeptieren, dass in dieser Gesellschaft auch andere Wert- und Moralvorstellungen existieren", so Mohagheghi.

Welche Bedeutung messen Sie der islamischen Theologie an deutschen Universitäten bei?

Mohagheghi: Seit Jahren beschäftigen wir uns in Deutschland mit der Glaubenspraxis – also, wie gebetet wird, wie oft gebetet wird, was und warum gefastet wird und ob und warum das Kopftuch getragen werden muss. Hinzugekommen ist das Thema des extremistischen Islam und islamistischer Terror. Wir sind bisher viel zu wenig dazu gekommen, uns wirklich mit der Theologie zu befassen – mit der Theologie in dem Sinne, die Gottesfrage in den Mittelpunkt zu stellen. Von welchem Gott reden wir? Wie sollte dieser Gott für uns präsent sein? Wie wollen wir diesen Gott unseren Kindern nahe bringen? Das empfinde ich als eine Schwäche der islamischen Theologie in der westlichen Welt.

Meine Hoffnung ist, dass an den Zentren für islamische Theologie an deutschen Hochschulen die essentiellen Fragen stärker aufgegriffen werden und der Glaube aus den tiefgreifenden theologischen Fragestellungen und spirituellen Perspektiven mehr Raum bekommt. Meines Erachtens ist es aber noch zu früh, um Prognosen abzugeben, welche nachhaltigen Impulse von diesen Zentren ausgehen werden.

Auf einer Tagung in Frankfurt am Main ist unlängst unter anderem über die Frage diskutiert worden, was einen europäischen beziehungsweise deutschen Islam ausmacht. Was zeichnet den Islam aus, der hier gelebt wird?

Mohagheghi: Deutscher Islam, Euro-Islam: Das sind Etikettierungen, mit denen ich nicht viel anfangen kann. Wenn wir beispielsweise über Muslime in Indonesien oder in Kanada sprechen, verwenden wir ja auch nicht Begriffe wie indonesischer beziehungsweise kanadischer Islam. Die Geschichte des Islams zeigt, dass sich Muslime an bereits bestehende Gesellschaftsstrukturen adaptiert haben.

Ich habe eine Vorstellung davon, wie Muslime in Deutschland ihren Glauben praktizieren könnten und sollten. Zunächst einmal: Muslime sind Bestandteil dieser Gesellschaft. Also hat die Politik die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass diese Menschen ihre Religion hier praktizieren können. Und umgekehrt: Muslime müssen ebenso akzeptieren, dass in dieser Gesellschaft auch andere Wert- und Moralvorstellungen existieren. Sie sollten daher nicht ihre Maßstäbe von gut und schlecht, moralisch und unmoralisch auf andere übertragen. Wenn sich beispielsweise Menschen mit freizügiger Bekleidung in den öffentlichen Raum begeben, dann sollte das nicht von Muslimen bewertet werden. Mir schwebt ein Zusammenleben vor, das von gegenseitigem Respekt geprägt ist.

In den öffentlichen Debatten werden Islam und Muslime immer wieder mit Gewalt gleichgesetzt. Wer als Muslim sich hinstellt und erklärt, dass dies nicht zutrifft und ergänzt, dass Islam Frieden sei, wird meist belächelt. Wie können denn Muslime hierzulande glaubwürdig ihre Religion verteidigen?

Mohagheghi: Auf keinen Fall, indem sie sich beleidigt zurückziehen und erklären, dass man als Muslime ja sowieso nicht akzeptiert und gehört wird. Es wäre der falsche Schritt, sich aus dem Dialog zu verabschieden und seine Ressentiments zu pflegen. Gerade jetzt ist es wichtig, dass Muslime selbstbewusst ihren Glauben leben, selbstbewusst in der Öffentlichkeit präsent sind und sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu Wort melden. Wichtig vor allem, die Werte zu leben und für die Werte einzustehen, die den Islam ausmachen: Barmherzigkeit, Güte, Nächstenliebe, innere Ruhe, Geduld.

Das Gespräch führte Canan Topçu.

© Qantara.de 2016

Hamideh Mohagheghi ist Juristin, islamische Theologin und Religionswissenschaftlerin und derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn tätig.