Ein Frauenmörder im Dienst Allahs 

Ali Abbasis Film "Holy Spider“ erzählt die wahre Geschichte eines Serienkillers in der iranischen Pilgerstadt Maschhad. Dass er sich daran am Ende verhebt, macht ihn nicht weniger interessant. Von Andreas Kilb 

Von Andreas Kilb

Am Anfang dieses Films gibt es einen Dialog, der wie ein Kommentar zu den aktuellen Massenprotesten im Iran wirkt. Er findet zwischen der Reporterin Arezu und einem Hotelangestellten statt: "Bitte bedecken Sie Ihr Haar.“ – "Das geht Sie nichts an.“ – "Aber die Sittenpolizei . . .“ – "Kümmern Sie sich um Ih­ren eigenen Kram.“



Die iranische Kurdin Mahsa Amini, deren Tod in den Händen der Sittenpolizei im September die Proteste ausgelöst hat, war angeblich ebenfalls nicht korrekt verschleiert. Trotzdem wäre es übertrieben, dem Film "Holy Spider“, der im Sommer zuvor entstanden ist, die Gabe der Prophetie zuzuschreiben. In Iran liegt das Unrecht, ge­gen das sich die Protestbewegung richtet, auf der Straße, es gehört zur Textur der Gesellschaft, die der Film beschreibt. 

Der Dialog ist zugleich eine sekundenkurze Charakterisierung von Arezu Rahimi, der Heldin des Films. Sie ist aus Teheran angereist, um über das Treiben eines Serienmörders in der Pilgermetropole Maschhad zu berichten, der zweitgrößten Stadt des Iran. Arezu arbeitet als freie Journalistin, seit sie den Chefredakteur der Zeitung, bei der sie angestellt war, wegen sexueller Belästigung angezeigt hat.



Die Gerüchte, die über sie in der Branche umlaufen, besagen freilich etwas anderes: Da sei wohl "etwas gelaufen“ zwischen ihr und ihrem Chef, raunt der Lokalreporter Sharifi, den Arezu für ihre Recherche befragt. 




 

Der männliche Blick, ge­gen den sich die Journalistin zur Wehr setzt, ist nicht nur in der Hotellobby, sondern überall um sie herum am Werk, auch bei der Polizei, deren Kommissar sie abends in ihrem Zimmer aufsucht und bedrängt, ehe sie ihn mit knapper Not loswird. Zar Amir Ebrahimi, die Darstellerin der Arezu, wurde 2006 selbst Opfer eines MeToo-Skandals, als ein an­geb­li­ches Sexvideo von ihr im Internet zirkulierte.



Statt ins Gefängnis zu gehen, floh Ebrahimi nach Paris, wo sie bis heute lebt. Im Mai letzten Jahres bekam sie für ihre Rolle den Schauspielerinnenpreis des Filmfestivals von Cannes. 

Auf den Straßen von Maschhad findet Saeed, der Serienmörder, seine Opfer. Der Film beginnt mit einer seiner Taten. Eine junge Frau verabschiedet sich in ei­nem Armeleuteviertel von ihrem Kind, sie schminkt sich, zieht ein buntes Kopftuch an und stellt sich an den Straßenrand.



Man sieht sie mit zweien ihrer Kunden, die sie demütigen und beschimpfen, dann steigt sie zu einem dritten auf ein Motorrad. Es ist Saeed. Er bringt sie in ein halb fertiges Gebäude, wirft sie zu Bo­den und erwürgt sie mit ihrem Tuch. Die Kamera zeigt das angstverzerrte Ge­sicht der Toten in Großaufnahme. 

Solche Bilder haben "Holy Spider“ bei seiner Premiere in Cannes den Vorwurf exzessiver Gewaltdarstellung eingetragen. Tatsächlich ist die Gewalt in dieser Geschichte allgegenwärtig: in den Beziehungen zwischen den Prostituierten und ihren Kunden, in den Blicken der Männer auf Arezu, in den von Drogensucht geprägten Armenvierteln von Maschhad.



Der Mörder selbst ist durch jahrelangen Fronteinsatz im Krieg zwischen Iran und Irak traumatisiert: Als Saeed beim Picknick im Park versehentlich einen Fußball an den Kopf be­kommt, bricht er zusammen und weint wie ein Kind. Den Anblick seiner Taten auszublenden wäre so gesehen ästhetisch inkonsequent. Die Frage ist, was das für einen Film bedeutet, der nicht nur ein Krimi sein will, sondern auch ein Gesellschaftsporträt. 



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Ein vom westlichen Genrekino geprägter Blick 

Ali Abbasi, der Regisseur, ist 2002 aus Iran zum Studium nach Europa ge­gan­gen und nicht zurückgekehrt. Sein Examen machte er an der Filmhochschule in Ko­pen­ha­gen. Sein Regiedebüt war ein Horrorfilm, sein zweiter Spielfilm "Bor­der“, der als dänischer Beitrag für den Auslands-Oscar eingereicht wurde, handelte von einer Trollfrau, die entdeckt, dass sie ihr Geschlecht wechseln kann.

In Abbasis "Holy Spider“, könnte man sagen, trifft ein vom westlichen Genrekino geprägter Blick auf eine für Genrefilme ungeeignete Realität. Aber das wäre höchstens die halbe Wahrheit, denn "Holy Spider“ be­müht sich sehr darum, kein Genrefilm zu sein. Abbasi will vielmehr die Wirklichkeit Irans aus einem Abstand von zwanzig Jahren rekonstruieren und zugleich heutigen Erzählweisen gefügig machen, und es ist diese doppelte Anstrengung, an der er sich am Ende verhebt. 

Im Jahr 2001 hat es tatsächlich einen Serienkiller in Maschhad gegeben. Der "Spinnenmörder“ Saeed Hanaei, der so genannt wurde, weil er seine Opfer oft zu sich nach Hause lockte, erwürgte sechzehn Frauen, ehe er gefasst wurde. Vor Gericht erklärte Hanaei, er habe die Stadt von Unmoral und Verderbnis reinigen wollen, nachdem seine Ehefrau für eine Prostituierte gehalten worden sei.



Religiöse Hardliner und Kommentatoren konservativer Zeitungen forderten seine Freilassung. Schließlich wurde Hanaei zum To­de verurteilt und im April 2002 hingerichtet. Im selben Jahr erschien ein Do­ku­men­tar­film, in dem er seine Ansichten im Interview ausbreiten durfte. 

Die Kamera weiß nicht, wo sie hinschauen soll 

Was es damals nicht gab, war eine Re­por­te­rin, die Hanaei zur Strecke brachte. Abbasi hat sie erfunden, um den Mörder nicht zur Hauptfigur seines Films machen zu müssen und uns eine Sympathieträgerin an die Hand zu geben. Das geht eine ganze Weile gut, weil Zar Amir Ebrahimi mühelos jede Einstellung beherrscht, in der sie auftritt.

 

 

Aber es muss auf Dauer schiefgehen, weil "Holy Spider“ eben doch von der Welt des Saeed Hanaei handelt, seinen Zwängen, seinen Lüsten, seinem Hass. Dieses Scheitern wird nicht zufällig gerade in der Szene offenbar, in der die beiden aufeinandertreffen. 

Eine klassische Genre-Dramaturgie würde das Duell zwischen Heldin und Bösewicht bis zur Neige auskosten. Aber das würde dem Ernst des Films widersprechen. Ganz oh­ne Knalleffekt wiederum möchte Abbasi die Suche der Journalistin nach dem Mörder auch nicht ausgehen lassen.



So rettet er sich in ein halbherziges Handgemenge, das beide Möglichkeiten der Inszenierung, die krimihafte und die halbdokumentarische, ästhetisch verfehlt. Selbst die Kamera weiß dabei nicht mehr ge­nau, wo sie hinschauen soll. Von Zar Amir Ebrahimi ist nach diesem Auftritt ohnehin nur noch we­nig zu sehen. Der Rest der Ge­schich­te gehört dem Täter. 

Ein großes Bild immerhin gibt es in "Holy Spider“. Es ist der Blick von oben auf die nächtliche Stadt. Im Lichtmuster von Maschhad, sagt Abbasi, habe er das Spinnennetz des Serienmörders wiedergefunden. Sein Film ist der Versuch, in den Konturen einer Ge­schichte das Drama eines Landes zu spiegeln. Dass er am Ende nicht gelingt, macht ihn nicht weniger interessant. Auch die Proteste auf den Straßen Irans haben ein Muster, das ge­le­sen werden muss. 

Andreas Kilb 

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2023