Waffen für die Falschen?

Die Kurden haben die Jesiden vor den IS-Terroristen gerettet, heißt es. Doch die Wahrheit ist komplizierter. Auch in den Kurdengebieten werden Jesiden oftmals diskriminiert. Wer garantiert, dass deutsche Waffen sich nicht irgendwann gegen die Minderheit richten? Von Patrick Franke

Von Patrick Franke

Wer in diesen Tagen mit in Deutschland lebenden Jesiden über die Lage im Nordirak spricht, hört nicht nur Worte der Verzweiflung und Trauer. Er hört auch Zorn und Wut. Sie richtet sich erstaunlicherweise gar nicht so sehr gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS). Zorn und Wut gelten vielmehr der kurdischen Autonomieregierung. Die Brutalität, mit der die IS-Terroristen gegen die Jesiden vorgingen, kam für sie nicht überraschend. Eine böse Überraschung war für sie hingegen das Verhalten der irakisch-kurdischen Peschmerga-Einheiten während des IS-Überfalls auf das Gebiet von Sindschar. Aus Sicht der Jesiden sind sie von den Peschmerga verraten worden.

Woher kommt dieser Ärger der Jesiden über die in der Autonomieregion herrschende Kurdische Demokratische Partei (KDP) und ihre Peschmerga? Haben nicht die Peschmerga den Jesiden den Fluchtweg freigekämpft, als sie von den IS-Terroristen eingekesselt waren? War es nicht die kurdische Autonomieregierung, die den Jesiden und den anderen von der IS verfolgten religiösen Minderheiten großzügig Zuflucht gewährte? Das ist die gängige Darstellung in Deutschland, das ist auch die Begründung für mögliche Waffenlieferungen an die Kurden. Bei genauerem Hinsehen erscheint die Situation aber wesentlich komplexer. Und Schwarz und Weiß sind nicht so einfach zu unterscheiden.

Zorn der Jesiden

Die Hauptquelle für Nachrichten aus der Sindschar-Region sind arabischsprachige Nachrichtenportale, die vornehmlich von Jesiden betrieben werden. Sie dienen dem Austausch von Informationen zwischen den Jesiden im Irak und den Diaspora-Gemeinden in Europa. In Deutschland wird zum Beispiel Bahzani.net gehostet, es gilt als unabhängiges Nachrichtenportal. Wer eine Zeitlang die hier neu eingestellten Meldungen und Berichte liest - es sind etwa 30 bis 40 pro Tag -, versteht den Zorn der Jesiden schon besser.

Da kommen zunächst einmal viele Hilferufe aus dem Irak: Jesiden klagen darüber, dass die von ihren Glaubensbrüdern in die Heimat gesandte Hilfe nicht ankommt, weil die kurdische Verwaltung ihre Verteilung behindert. Mehr als fünf Tage soll es auch bei den deutschen Hilfsgütern für die Flüchtlinge gedauert haben, bis sie am Flughafen von Erbil abgefertigt waren. Andere Jesiden berichten darüber, dass ihnen die Kundgebungen, die auf die Not der Flüchtlinge aufmerksam machen sollen, von Erbil strikt verboten worden sind, ebenso Kontaktaufnahmen mit westlichen Medien.

Deutsche Hilfsgüter in Erbil; Foto: picture-alliance/dpa
Schleppende Hilfe und politische Blockaden: Jesiden klagen darüber, dass die von ihren Glaubensbrüdern in die Heimat gesandte Hilfe nicht ankommt, weil die kurdische Verwaltung ihre Verteilung behindert. Mehr als fünf Tage soll es auch bei den deutschen Hilfsgütern für die Flüchtlinge gedauert haben, bis sie am Flughafen von Erbil abgefertigt waren.

Der wichtigste Grund für die Wut sind allerdings die Ereignisse von Anfang des Monats. Die Jesiden bezeichnen sie als die "Katastrophe von Shingal". Kampflos und fluchtartig sollen sich die Peschmerga der KDP aus der Sindschar-Region zurückgezogen haben, als die IS-Kämpfer heranrückten, obwohl sie wussten, dass sie damit die als "Ungläubige" geltenden Jesiden Tod und Versklavung auslieferten.

Der kurdische General, der diesen Rückzug befahl, ist zwar mittlerweile entlassen, doch sehen die Jesiden darin nur ein Bauernopfer. Sie hatten darauf vertraut, dass die Peschmerga sie verteidigen würden; ihnen selbst war eine Bewaffnung vorher verweigert worden. Den plötzlichen Rückzug der Peschmerga aus der Sindschar-Region sehen sie nun als vorläufigen Höhepunkt einer Politik in der Autonomieregion, die auf ihre Marginalisierung und Vernichtung ausgerichtet ist.

Auch der zweite Teil der Geschichte, die Rettung der Jesiden vom Berg Sindschar, wird von jesidischer Seite anders erzählt, als in den deutschen Medien üblich. Nicht die Peschmerga der irakischen KDP, die zukünftig aus Deutschland mit Waffen beliefert werden sollen, haben den von der IS eingeschlossenen Jesiden den Fluchtweg freigekämpft, sondern die Volksverteidigungseinheiten der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) aus dem benachbarten Syrien. An der Rettungsaktion waren auch viele weibliche Kämpfer beteiligt. Mehrere von ihnen sind im Kampf gegen die IS-Terroristen gefallen.

Universitätsprofessor Patrick Franke; Foto: oh
Patrick Franke betont, dass Waffenlieferungen unbedingt mit der Auflage verbunden werden müssen, dass sich die Empfänger zum Schutz der religiösen Minderheiten verpflichten und ihnen in ausreichender Weise politische Rechte gewähren.

Die Einheiten der PYD sind zurzeit auch die einzige Kraft, die ernsthafte Anstrengungen zur Rückeroberung der Sindschar-Region aus der Hand der IS-Terroristen unternimmt. Eine Zusammenarbeit des Westens mit ihnen gilt wegen der ideologischen Nähe der PYD zur Untergrund-Organisation PKK derzeit jedoch als Tabu. Angesichts des heldenhaften Einsatzes ihrer Einheiten bei der Rettung der Jesiden und ihrer Unterstützung auch für die christlichen Minderheiten in Nordsyrien im Kampf gegen die IS sollte der Westen diese Position jedoch überdenken.

Verpflichtung zum Schutz der religiösen Minderheiten

Den westlichen Waffenlieferungen an die kurdische Autonomieregierung stehen die Jesiden äußerst skeptisch gegenüber. Ist gesichert, dass diese Waffen nicht irgendwann gegen sie gerichtet werden? Auch in der kurdischen Autonomieregion gibt es viele Sympathien mit dem Islamischen Staat, 700 junge Kurden sollen schon auf ihre Seite übergelaufen sein. Muslimische Geistliche predigen in der Autonomieregion ungehindert gegen die jesidischen "Ungläubigen". Die Jesiden haben das Vertrauen in die kurdische Autonomieregierung verloren, das ist überall zu hören. Politische Rechte haben sie in der Autonomieregion ohnehin kaum.

Im kurdischen Regionalparlament werden die 600.000 irakischen Jesiden nur durch einen einzigen Abgeordneten vertreten, und dieser gilt als geschmiert. Weder in der Regierung noch in den Behörden oder in den Peschmerga-Einheiten sind den Jesiden höhere Posten übertragen worden. Das Verhältnis zwischen Jesiden und kurdischer Autonomieregierung ist zur Zeit äußerst angespannt.

Nach den Ereignissen von Sindschar kann nicht mehr als selbstverständlich vorausgesetzt werden, dass die Peschmerga den Schutz dieser religiösen Minderheit gewährleisten. Waffenlieferungen an diese Seite müssen deshalb unbedingt mit der Auflage verbunden werden, dass sich die Empfänger zum Schutz der religiösen Minderheiten verpflichten und ihnen in ausreichender Weise politische Rechte gewähren. Eine neutrale Seite sollte regelmäßig überprüfen, ob diese Verpflichtung auch eingehalten wird. Nur dann schützen die Waffen aus dem Westen auch die irakischen Jesiden.

Vorerst können sie sich eine Zukunft in der Region nicht vorstellen. Dafür erscheint ihnen die Umgebung im Nordirak zu feindlich. Viele werden versuchen, nach Europa auszuwandern. Allen bleibt die Sorge um die vielen Frauen und Kinder, die sich noch in IS-Gefangenschaft befinden, und um die notleidenden Verwandten in der kurdischen Autonomieregion. Die internationale Hilfe kommt bei den meisten von ihnen offenbar noch nicht an.

Patrick Franke

© Süddeutsche Zeitung/Qantara.de 2014

Der Autor Patrick Franke, 47, ist Inhaber des Lehrstuhls für Islamwissenschaft und Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Interreligiöse Studien der Universität Bamberg.