''Der Koran erlässt keine Gesetze''

Dilwar Hussain zählt zu den wichtigsten muslimischen Reformdenker in Großbritannien. Er sieht keinen Widerspruch zwischen "westlichen" und "islamischen" Werten. Demnächst startet er das Projekt "New Horizons", das Reformdenken im Islam fördern will. Jan Kuhlmann hat sich mit ihm unterhalten.

Ihr Projekt "Neue Horizonte" soll Reformen und neue Ideen fördern. Was ist das Ziel?

Dilwar Hussain: Wir haben den Eindruck, dass nicht genug geschieht, um Ideen zu fördern, die offener und progressiver sind, Ideen, die die Realität muslimischen Lebens in Europa ansprechen. Eines der auffälligsten Beispiele ist die Gleichberechtigung von Mann und Frau. In den vergangenen 10 oder 15 Jahren ist im muslimischen Diskurs die Meinung vertreten worden, dass in den Grundlagen des Islam Referenzen für die Emanzipation der Frau zu finden sind.

Davon ausgehend haben einige Muslime argumentiert, dass der Islam der Gleichberechtigung von Mann und Frau positiv gegenüber steht, dass es kein Problem gibt, sondern dass es nur eine Frage von Tradition und Kultur ist. Und dass wir eine europäische Praxis des Islam finden, die egalitär und gleich ist, wenn wir uns einmal von den traditionellen muslimischen Kulturen wegbewegt haben. Das ist meiner Ansicht nach bis zu einem bestimmten Punkt in Ordnung, aber es reicht nicht aus.

Inwiefern?

Hussain: Wenn man diesen Weg weiterverfolgt, wird man einige Ergebnisse erzielen, aber nicht alle Ergebnisse, die wir wollen. Es gibt z.B. Referenzen im Koran zum unterschiedlichen Erbe von Mann und Frau. Oder es gibt Referenzen, die dem Mann in Extremsituationen das Recht geben, seine Frau zu schlagen, um sie zu bestrafen. Diese Dinge stehen im Text.

Dilwar Hussain; Foto: Jan Kuhlmann
Raum für unterschiedliche Interpretation schaffen: "Jeder von uns wird sich dem Koran etwas anders annähern, weshalb auch das Ergebnis unterschiedlich sein wird. Das müssen wir stärker akzeptieren", meint Dilwar Hussain.

​​Es wird uns bei diesen Themen nicht helfen, wenn wir von der muslimischen Tradition Abstand nehmen. Sie erfordern ein ernsthaftes Nachdenken darüber, wie wir den Text lesen und wie wir ihm in einem modernen Kontext einen Sinn verleihen.

Kann aus den islamischen Quellen hervorgehen, dass es eine Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau gibt?

Hussain: Das hängt davon ab, wie man die Quellen liest. Wenn man sich den Koran und die Mission des Propheten Muhammad in ihrer Gänze anschaut, dann kann man eine Entwicklung erkennen, eine Dynamik der Veränderung in einem kurzen Zeitraum. In der damaligen Zeit blieb die Emanzipation unvollendet. Aber der Koran hat eine Bewegung ausgelöst, die von uns erwartet, dass wir unsere rationalen Fähigkeiten nutzen, um die Originalbotschaft als Wegweiser zu verstehen und in diese Richtung zu gehen. Wenn man den Text wortwörtlich versteht, sind Männer und Frauen nicht absolut gleich. Aber die Quellen geben eine Richtung vor. Wenn man dieser weiter folgt, gelangt man zur Gleichberechtigung.

Wie sollten Muslime Quellen wie den Koran lesen?

Hussain: Es ist sehr schwierig, den Koran in seiner Gänze wortwörtlich zu verstehen, weil es viele Beispiele gibt, die die Sprache der damaligen Zeit benutzen. Wenn der Koran über Krieg oder Konflikt berichtet, wenn er sich auf die Landschaft in der Umgebung der Menschen, die Jahreszeiten oder den Handel bezieht, dann sind das sehr deutlich kontextuelle Beschreibungen, die an die Zeit gebunden sind. Es wäre sinnwidrig, diese als wortwörtliche Anweisungen für die Zukunft zu nehmen.

An anderer Stelle geht es um den Glauben, um die Rolle der Menschen, um menschliche Kernwerte, um Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Mitgefühl, Liebe. Das sind ewige Werte. Einige Teile des Korans sind also eher wörtlich zu verstehen. Für andere wiederum muss man seine Vorstellungskraft einsetzen, wie bei jedem anderen Text, den man interpretieren muss.

Fundamentalistische Bewegungen halten jedoch dagegen, dass es nur eine Lesart des Koran gibt.

Hussain: Der Koran selbst sagt nichts. Er muss von jemandem gelesen werden. Und wenn man den Koran liest, dann bringt man sich selbst in den Koran ein, man bringt all seine Erfahrungen, Emotionen, Vorurteile, alle Vorlieben und Abneigungen mit. Jeder von uns wird sich dem Koran etwas anders annähern, weshalb auch das Ergebnis unterschiedlich sein wird. Das müssen wir stärker akzeptieren. Wir müssen mehr Raum für unterschiedliche Interpretation schaffen.

Es gibt einen Widerspruch zwischen der Scharia, dem islamischen Recht, und dem Recht im Westen. Der muslimische Gelehrte Mouhanad Khorchide von der Universität Münster hat in einem Buch geschrieben, die Scharia sei nur ein menschliches Konstrukt. Würden Sie damit übereinstimmen?

Hussain: Das hängt davon ab, was man mit Scharia meint. Wortwörtlich genommen ist es der Weg zur Wasserstelle, etwas, was Leben schenkt. Ich persönlich mag es nicht, Scharia mit islamischem Recht zu übersetzen, denn Scharia ist mehr als das. Es ist eine Kombination aus den Werten und der Philosophie des Rechts sowie der Herangehensweise an das Recht.

Gelehrte nehmen all das, leiten daraus etwas für eine bestimmte Situation ab und kommen so zu einer Rechtsvorschrift: Das ist erlaubt, das ist nicht erlaubt, das ist empfohlen, oder die Scharia sagt darüber nichts aus. Es wäre besser, das islamische Recht als Fiqh zu bezeichnen.

Islamisten im irakischen Bakuba halten den Koran hoch; Foto: Reuters
Im Widerspruch zum islamistischen Credo vom politischen Auftrag des Islams: "Der Koran erlässt keine Gesetze. Er gibt Prinzipien und Werte vor. Aber er erwähnt keine Einzelheiten zu den Mechanismen oder den Formen der Gerechtigkeit, wie sie in modernen Staaten zu finden sind", so Dilwar Hussain.

​​Die Rechtsprechung und der Körper des Fiqh, die sich über Jahrhunderte um verschiedene Gelehrte entwickelt haben und in Büchern festgehalten wurden, sind ein menschliches Konstrukt. Es ist die Anwendung des menschlichen Verstandes auf das, was wir als göttliche Quellen und die Realität unseres Kontextes ansehen. Das Ergebnis muss etwas Menschliches sein.

Heißt das, dass sich eine Fatwa, ein Rechtsurteil, verändern kann?

Hussain: Ein Rechtsurteil verändert sich je nach Zeit und Ort. Das konnten wir selbst in der Zeit des Imam Al-Schafi beobachten, einer der frühen klassischen Juristen. Als er die Region, die jetzt der Irak ist, verließ und ins heutige Ägypten ging, musste er noch zu seinen Lebzeiten viele seiner Urteile ändern, weil die Menschen und die Probleme unterschiedlich waren.

Was passiert dann erst, wenn man aus der arabischen Welt oder der Türkei nach Großbritannien oder Deutschland geht? Was passiert, wenn man die Zeit 1.000 Jahre vorspult? Was passiert, wenn sich fundamentale Dinge verändern, wie das in der industriellen Revolution oder der Globalisierung geschehen ist? Das hat einen grundlegenden Einfluss darauf, wie wir denken, und deshalb muss es einen grundlegenden Einfluss darauf haben, wie wir über den Islam denken.

Welche Rolle spielt der Koran in diesem Prozess?

Hussain: Der Koran erlässt keine Gesetze. Er gibt Prinzipien und Werte vor. Er spricht z.B. im Allgemeinen über Gerechtigkeit. Aber er erwähnt keine Einzelheiten zu den Mechanismen oder den Formen der Gerechtigkeit, wie sie in modernen Staaten zu finden sind. Der Koran appelliert an die menschliche Sehnsucht nach Gerechtigkeit. Er schafft keine detaillierten gesetzlichen Anweisungen zur Idee der Gerechtigkeit. Das überlässt er uns. Deshalb hat uns Gott den Verstand gegeben. Das größte Vermögen, das wir als Menschen haben, ist unser Verstand. Leider blenden das zu viele religiöse Menschen aus, wenn es um ihren Glauben geht. Aber das können wir uns nicht leisten.

Wird Ihr Weg der Reform dazu beitragen, die Lücke zwischen dem zu überbrücken, was wir als "islamische" und "westliche" Werte wahrnehmen?

Hussain: Ich bin in Großbritannien aufgewachsen. Meine Eltern stammen aus Bangladesch. Ich bin in Großbritannien zur Schule gegangen, ich habe englische Freunde, ich bin durch ganz Europa gereist und habe in vielen Ecken Europas Freunde gefunden. Wenn man auf den fundamentalen Kern dessen schaut, was wir als britische, deutsche oder europäische Werte betrachten, dann kann ich keine großen Widersprüche erkennen.

Wenn wir auf Werte schauen wie Offenheit, Toleranz, Liberalität, Pluralismus, Gerechtigkeit, Liebe, Barmherzigkeit, den Umgang mit dem Nachbarn, das Achtgeben auf die Armen. Oder wenn wir auf auf verantwortungsvolle Regierungsführung, auf ein faires politisches System oder auf die Gleichheit vor dem Gesetz schauen. Ich glaube nicht, dass es da irgendeinen Konflikt gibt.

Wollen Sie damit sagen, dass es überhaupt keine Konflikte gibt?

Hussain: Der Konflikt tritt dann auf, wenn man sich mit der Wissenschaft beschäftigt und einen Punkt wie das unterschiedliche Erbe für einen Jungen und ein Mädchen in einer Familie findet. Oder wenn ein Mann etwas tun darf, was nicht für eine Frau gilt. Wie gesagt, so etwas entsteht, weil es ein menschliches Konstrukt ist. Geht man in Europa fünf Jahrhunderte zurück, dann war die politische Kultur eine andere. Es gab keine Menschenrechte. Wir hatten keine Ahnung von der Freiheit des Individuums.

Diese Werte haben sich entwickelt. Und der Prozess ist noch immer im Gange. Muslimische Interpretationen des Islam haben sich ebenfalls entwickelt, aber in einem anderen Tempo. In den vergangenen 200 oder 300 haben sie sich nicht schnell genug entwickelt, sie haben nicht Schritt gehalten. Aber ich erkenne keine fundamentale Diskrepanz zwischen den Werten.

Interview: Jan Kuhlmann

© Qantara.de 2013

Dilwar Hussain, 1969 in Bangladesch geboren, studierte Physiologie am King's College der University of London und Islamwissenschaften mit Schwerpunkt Islamisches Recht an der University of Wales. Seit 2007 leitet er das "Policy Research Center" der "Islamic Foundation" in Großbritannien, der größten islamischen Einrichtung in Großbritannien. Das Zentrum beschäftigt sich vor allem mit Studien über Muslime und muslimisches Leben in Europa. Hussain berät außerdem Denkfabriken und Regierungseinrichtungen. Er schreibt zudem regelmäßig auf seiner Internetseite "Dilwar's Blog" (http://dilwarh.wordpress.com/).

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de