Versöhnung statt Islamismus

Die Schriftstellerin Maїssa Bey ist eine der wichtigsten Stimmen Algeriens. In ihren Romanen thematisiert sie nicht nur die Unterdrückung der algerischen Frauen, sondern auch die Verwerfungen der algerischen Geschichte und Gegenwart. Martina Sabra stellt die Autorin vor.

Von Martina Sabra

Maїssa Bey; Foto: dpa
Widerstand in Romanform: Maїssa Bey setzt sich mit ihren Erzählungen gegen staatliche Willkür und für eine Politik der gesellschaftlichen Aussöhnung in Algerien ein.

​​ In den Romanen und Erzählungen der algerischen Schriftstellerin Maїssa Bey sind Frauen und Mädchen fast immer die Hauptfiguren. Es ist ihre Sicht der Dinge, die zählt. Doch ihre Themen betreffen die gesamte algerische Gesellschaft. In einem ihrer jüngsten Romane – er ist noch nicht ins Deutsche übersetzt – beschäftigt Maїssa Bey sich mit der Aufarbeitung des sogenannten "schwarzen Jahrzehnts". Nach der Revolution und der Abschaffung des Einparteienregimes im Jahr 1988 waren bei den ersten demokratischen Wahlen in Algerien die Islamisten im Begriff, zu gewinnen. Die Militärs wollten das nicht zulassen und putschten 1991 – was folgte, waren fast zehn Jahre Terror und Gewalt, ein undurchsichtiger Krieg gegen das Volk, der schätzungsweise 200.000 Menschen das Leben kostete. Tausende sind bis heute spurlos verschwunden.

Zur falschen Zeit am falschen Ort

Viele kehrten damals Algerien den Rücken. Doch Maїssa Bey blieb in ihrer Heimatstadt Sidi Bel Abbès in Westalgerien, wo sie als Französischlehrerin arbeitete, und erlebte die Gewalt aus nächster Nähe mit. "Die meisten waren einfach im falschen Moment am falschen Ort, andere wurden gezielt getötet", erinnert sich die 61-jährige Schriftstellerin. "Doch für alle gilt: Man will über die Fakten nicht reden, über diesen unendlichen Schmerz um Menschen, die letztlich in jeder Hinsicht unschuldig waren, weil die meisten weder mit der einen noch der anderen Seite irgendetwas zu tun hatten." Das algerische Regime hat in den vergangenen Jahren mit dem "Gesetz über die nationale Eintracht" und dem Dekret über die "nationale Versöhnung" beschlossen, dass die Verbrechen der 1990er Jahre zum großen Teil ungesühnt bleiben sollen. Den Medien wurde das Recherchieren verboten. Journalisten, die es in den vergangenen Jahren trotzdem wagten, wurden massiv bedroht, zusammengeschlagen oder kamen unter ungeklärten Umständen ums Leben.

Das Trauma des Bürgerkriegs

​​ Maїssa Bey will das nicht hinnehmen. "Meine Position hierzu habe ich in meinem jüngsten Roman Puisque mon coeur est mort dargelegt. Es geht um eine junge Englischprofessorin an der Universität, deren einziger Sohn von einem Terroristen ermordet wird. Unfähig, den Schmerz zu ertragen, schreibt sie allabendlich Briefe an ihren toten Sohn. Sie erzählt ihm, wie sie seinen Tod erlebt hat, wie es ihr jetzt geht, und wie die Gesellschaft versucht, ihr vorzuschreiben, wie sie mit der Trauer umgehen soll, dass sie endlich einen Strich unter die Vergangenheit machen soll. Das, was man so vielen Frauen in Algerien gesagt hat, die nicht wissen, wie sie den Verlust und das Trauma ertragen sollen." Maїssa Beys Roman ist im Mai 2010 in Algerien erschienen und hat für intensive Diskussionen gesorgt. Die Schriftstellerin wünscht sich, dass die Gesetze und Dekrete über die nationale Versöhnung in Frage gestellt und neu diskutiert werden. Ohne eine ehrliche Aufarbeitung der Vergangenheit sei eine Demokratisierung der Gesellschaft und der politischen Strukturen unmöglich. "Wir werden in Algerien nichts ausrichten können, wenn die Wahrheit nicht zur Sprache gebracht wird, und wenn die Fakten nicht anerkannt werden", sagt Maїssa Bey. "Ich meine damit alle Beteiligte: die Opfer, die Täter, die politisch Verantwortlichen für die Gewalt und auch die Autoritäten, die einen totalen Blackout über hunderttausende Familien verhängt haben." Wie kann ein Rechtsstaat aufgebaut werden, wenn Menschen, die andere berauben, terrorisieren oder sogar töten, mit keinerlei Bestrafung rechnen müssen, fragt Bey. "Wie sollen diese Menschen ein Verständnis dafür entwickeln, was Gesetze bedeuten?" Die Aufarbeitung des Terrors der 1990er Jahre fordern auch viele, die jetzt in Algerien für mehr Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit auf die Straße gehen. Andere sind skeptisch. Doch das brutale Vorgehen der zahlenmäßig haushoch überlegenen Polizeikräfte gegen die Demonstranten weckt auch die Angst, dass sich alles wiederholen könnte: Revolution, Wahlen, Putsch, Gewalt.

Der steinige Weg zur Demokratie

Anti-Regierungs-Proteste in Algier im Februar 2011; Foto: AP
Ein arabischer Frühling auch in Algerien? Trotz der Angst vor einer erneuten Gewalteskalation, die der algerische Zivilbevölkerung in der Zeit des "schwarzen Jahrzehnts" in den 1990er Jahren widerfahren ist, riskieren dennoch viele Menschen auf die Straße zu gehen und für Demokratie und Freiheit in ihrer Heimat zu demonstrieren.

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Trotz der gravierenden sozialen Ungerechtigkeiten, der Korruption und der auffallenden Sprachlosigkeit zwischen den Mächtigen und dem Volk scheinen viele Algerier die fragile Stabilität vorzuziehen, für die der Staatspräsident Bouteflika steht. "Die Angst, dass eine Revolution erneut in Chaos und Gewalt erstickt werden könnte, ist natürlich da", sagt Bey. "Ich höre viele Menschen in meinem Viertel solche Bedenken äußern. Aber ich glaube, dass Algerien aus den Erfahrungen der 1980er und 1990er Jahre gelernt hat. Die Algerier wissen heute, dass der Islamismus nicht die Lösung ist. Das ist eine Erkenntnis, die wir anderen Revolutionen in der arabischen Welt voraus haben." Der Weg Algeriens zur Demokratie werde lang und schwierig werden, sagt die Schriftstellerin. Algerien werde viel Zeit brauchen, und es werde Rückschläge geben. Von Europa erwartet die Schriftstellerin keine große Hilfe. Es sei bizarr, dass die Europäer so lange zu den Diktaturen am Südufer des Mittelmeers geschwiegen hätten. Europa werde auch weiterhin die eigenen wirtschaftlichen Interessen über die Ideale von Demokratie und Menschenrechten stellen. Dennoch ist Maїssa Bey vorsichtig optimistisch. Sie glaubt, dass die algerischen Männer und Frauen gemeinsam langfristig eine demokratische Gesellschaft aufbauen können.

Martina Sabra

© Deutsche Welle 2011

Maїssa Bey erhielt 1960 ein Stipendium für das Lycee Fromentin in Algier, das damals als eines der besten Mädchengymnasien Frankreichs galt. Nach dem Studium der Literatur wurde sie Französischlehrerin und pädagogische Beraterin in ihrer Heimatstadt Sidi Bel Abbès (Westalgerien). In den 1990er Jahren gründete sie die Frauenschreibwerkstatt "Paroles et Ecritures", aus der die erste öffentliche Bibliothek und das wichtigste unabhängige Kulturzentrum in Sidi Bel Abbès hervorgegangen sind. Bislang hat sie sieben Romane verfasst, außerdem zahlreiche Erzählungen, Theaterstücke und Essays zur Zeitgeschichte Algeriens.