Wenn der Aufstand der Anständigen ausbleibt

Dem rechtsextremen Zelle NSU ist es gelungen, das Vertrauen in den Staat zu erschüttern und vielen Einwanderern das Gefühl zu geben, sie seien in diesem Land nicht sicher. Die Behörden haben es bisher nicht geschafft, sich diesem Vertrauensverlust glaubwürdig entgegenzustellen. Ein Kommentar von Tanjev Schultz

Von Tanjev Schultz

Vor einem Jahr ist die rechtsextreme Terrorzelle NSU aufgeflogen, und das Entsetzen über ihre Taten und das Versagen des Staates ist seitdem nicht kleiner geworden. Es wird größer mit jedem Detail, das nun bekannt wird und das von der Borniertheit der Behörden zeugt. Jahrelang waren die Beamten völlig neben der Spur. Das Schlimmste aber: Sie sind es zum Teil noch heute. Auf das alte Versagen folgt ein neues Versagen: ein Mangel an Demut und an ehrlichem Aufklärungswillen.

Da sind nicht nur arrogante Polizeichefs und wortkarge Verfassungsschützer, die darauf beharren, sie hätten alles richtig gemacht. Da ist auch ein Innenminister, der planlos wirkt und der es zugelassen hat, dass noch Monate nach dem Auffliegen des NSU wichtige Akten über Neonazis im Schredder gelandet sind.

Viele Bürger, vor allem Einwanderer, haben das Vertrauen in den deutschen Staat verloren, und wer will es ihnen verdenken? Fadime Simsek, die Nichte eines der zehn Mordopfer des NSU, ist jetzt in einem Interview der taz gefragt worden, ob Türken hierzulande weniger wert seien als andere Menschen: "So sieht es aus", war ihre Antwort.

Semiya Simsek (r.) und Gamze Kubasik, Angehörige von Opfern der Mordserie der terroristischen Vereinigung 'Nationalsozialistischer Untergrund' (NSU), sprechen am Donnerstag (23.02.12) im Konzerthaus in Berlin bei der zentralen Gedenkveranstaltung für die Opfer der NSU; Foto: dapd
Sind Türken in Deutschland weniger wert als andere Menschen? Die NSU-Morde und das Versagen des Verfassungsschutzes hat das Vertrauen vieler Deutscher in den Verfassungsschutz nachhaltig erschüttert. Semiya Simsek (r.) und Gamze Kubasik am 23. Februar 2012 bei der zentralen Gedenkveranstaltung für die Opfer in Berlin

​​Wenn dieser Eindruck entsteht und wenn sich dieser Eindruck weiter verbreitet, untergräbt das den inneren Frieden des Landes auf fürchterliche Weise – die leider auch noch ganz im Sinne der rechten Terroristen wäre.

Man hat zunächst den Kopf geschüttelt über eine Terrorgruppe, die all die Jahre, während sie Bomben legte und Migranten umbrachte, keine Bekennerbriefe hinterließ und damit wartete, bis die Gruppe selbst am Ende war. Ob es so kalkuliert war oder nicht: Die Öffentlichkeit hat es daraufhin mit umso größerer Wucht getroffen. Die verheerende Wirkung des Terrors geht über die kaltblütigen Exekutionen hinaus, der Terror frisst sich in den Kopf der Bürger.

Dem NSU ist es gelungen, das Vertrauen in den Staat zu erschüttern und vielen Einwanderern das Gefühl zu geben, sie seien in diesem Land nicht sicher. Die Behörden haben es bisher nicht geschafft, sich diesem Vertrauensverlust glaubwürdig entgegenzustellen.

Ein Innenminister, der nicht den richtigen Ton trifft

Daran trägt Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) eine Mitverantwortung. Seit Beginn seiner Amtszeit hat er nur selten den richtigen Ton getroffen. Er zettelt lieber eine Debatte über angeblichen Asylmissbrauch an, statt die fehlende Sensibilität, vielleicht sogar den latenten Rassismus, den es in den Sicherheitsbehörden gibt, zum Thema zu machen.

Bundesinnenminister Friedrich CSU); Foto; dapd
Trifft nicht den richtigen Ton: Anstatt die verheerenden Verfehlungen der Geheimdienste zu thematisieren, zettelt Innenminister Friedrich (CSU) lieber eine Debatte über angeblichen Asylmissbrauch an, schreibt Tanjev Schultz

​​Anfang des Jahres gab es eine würdige Gedenkfeier für die Opfer der Neonazis, Angela Merkel nannte die Morde des NSU eine "Schande für unser Land". Sie sagte, all die Jahre, in denen die Angehörigen selbst unter Verdacht standen, seien den Familien wie ein nicht enden wollender Albtraum vorgekommen. Die traurige Wahrheit ist nun: Ihr Albtraum geht weiter.

Denn die Angehörigen der Opfer nehmen Anteil an den verdienstvollen Aufklärungsleistungen der Untersuchungsausschüsse. So bekommen sie mit, dass die Polizei bei den Mordermittlungen sogar einen Geisterbeschwörer zu Rate gezogen hatte – aber kein Staatsschützer je auf die Idee kam, nach untergetauchten Neonazis zu fragen. Und was sollen die Angehörigen von einer deutschen Polizei halten, in der Beamte Dienst tun, die sich mit dem Ku-Klux-Klan eingelassen haben? Von einem Staat, in dem Verfassungsschützer der Polizei zutiefst misstrauen, und umgekehrt?

Man kann verstehen, wenn sich tüchtige Beamte dagegen wehren, dass sie alle pauschal als Versager oder sogar als Rassisten abgestempelt werden. Doch gerade sie müssten auch selbst ein Interesse daran haben, dass es bei Polizei und Nachrichtendiensten nicht so weitergeht wie bisher. Wo bleibt der Aufstand der Anständigen in den Sicherheitsbehörden?

Tanjev Schultz

© Süddeutsche Zeitung 2012

Redaktion: Lewis Gropp/Qantara.de