"Nicht so belastet von der Tradition ..."

Die Anzahl deutscher Muslime nimmt stetig zu. Unter ihnen entwickelt sich ein Islam, der sich ganz selbstverständlich in die demokratischen Strukturen Deutschlands einfügt. Ursula Trüper hat mit deutschen Konvertitinnen gesprochen.

Konvertitin in Berlin, Foto: Christoph Eckelt

​​Besonders schlimm war es nach dem 11. September 2001. "Plötzlich richteten sich alle Augen auf mich", erinnert sich Beate Al Katib (Name geändert). "Ich stand unter dauerndem Rechtfertigungsdruck, als ob ich für die Anschläge mitverantwortlich wäre." Damals legte sie kurzzeitig ihr Kopftuch ab.

Heute trägt sie es wieder. Nicht nur, wenn sie die Bilal-Moschee in Berlin besucht. Deren Hauptraum ist mit einem prächtigen roten Teppich ausgelegt, das Muster nach Mekka ausgerichtet - eine Orientierung für die Betenden.

Freitags-Vortrag auf Deutsch

Jeden Freitagnachmittag organisiert der "Deutschsprachige Muslim Kreis", kurz DMK genannt, dort den Freitags-Vortrag zu einem aktuellen Thema. Eine dünne Holzwand trennt die Männer- und die Frauenseite voneinander, jedoch so, dass alle den Vortragenden sehen können. Etwa 20 Frauen trudeln nach und nach auf der Frauenseite ein und setzen sich in Grüppchen an der Wand entlang auf den Boden. Alle tragen lange Gewänder und elegant geschlungene Kopftücher.

Viele junge Mädchen sind dabei. Vorne am niedrigen Rednerpult baut der Gemeindeleiter nun das Mikro auf, dann begrüßt er die Anwesenden herzlich – und zwar auf Deutsch. Deutsch ist hier die allgemeine Verkehrssprache. Das verwundert nicht, denn ungefähr siebzig Prozent der Mitglieder des DMK sind deutscher Herkunft.

Von Ost nach West

Eine von ihnen ist Beate Al Katib. 1957 kam sie in Ostberlin zur Welt. An den Tag, der ihr Leben vollkommen verändern sollte, erinnert sie sich noch gut. Sie war damals 19 Jahre alt und besuchte mit ihren Eltern das Pressecafé am Alexanderplatz. Am Nebentisch saß ein interessanter Mann, ein Ausländer offensichtlich. Irgendwann stand er auf und stellte sich formvollendet vor.

Wie sich herausstellte, stammte er aus Syrien und arbeitete in Westberlin als Lackierer. Er besuchte sie danach regelmäßig, schenkte ihr Rosen und hielt schließlich um ihre Hand an. Ihre Eltern waren gegen diese Ehe, sie wollten ihre einzige Tochter nicht an das ferne Land Syrien oder an das genauso ferne Westberlin verlieren.

Aber die junge Frau ließ sich von ihrem Entschluss nicht abbringen und stellte einen Ausreiseantrag. "Das war dramatisch", schildert sie ihre damaligen Gefühle. "Ich mit meinem kleinen Köfferchen am Grenzübergang Friedrichstraße. Meine Eltern in Tränen aufgelöst. Und in Westberlin, einige S-Bahnstationen weiter, wartete dann mein Mann auf mich."

"Wie ein Ausländer im eigenen Land"

Der Westen war ein Schock. Das Geld, die Umgangsformen, die Waren, die Mentalität - alles war fremd. Ein Jahr nach der Hochzeit kam ihr erstes Kind zur Welt, der Sohn Mehedi. Auf Grund eines ärztlichen Kunstfehlers holte sich die junge Mutter in der Klinik einen schweren Infekt und musste mehrfach operiert werden. "Glauben Sie an Gott?", fragte damals der behandelnde Professor, und als sie verneinte, fügte er hinzu: "Das sollten Sie aber!" Denn sie war nur knapp einer tödlichen Bauchfellvereiterung entgangen.

Wieder zu Hause, standen eines Tages mehrere türkische Frauen vor der Tür. Sie wohnten im gleichen Haus, hatten Blumen, Strampelhosen und Gebäck dabei und wollten sie kennen lernen. "Ich fragte mich damals, woher kommt diese Warmherzigkeit, diese Solidarität unter Frauen," erinnert sich Beate Al Katib. Und sie konnte sich gut in die Situation der anderen Frauen hineinversetzen: "Ich fühlte mich ja selbst wie ein Ausländer im eigenen Land."

Übertritt zum Islam

Konvertitinnen in Berlin, Foto: Christoph Eckelt

​​Ihre Nachbarinnen nahmen sie mit in die Moschee. Sie begann, sich ernsthaft mit dem Islam zu beschäftigen und las alles, was sie zu diesem Thema bekommen konnte. Noch im selben Jahr legte sie in einer Berliner Moschee öffentlich das islamische Glaubensbekenntnis ab und war damit Muslimin.

Von den etwa 732 000 Muslimen mit deutscher Staatsangehörigkeit sind, dem Soester "Zentralinstitut Islam Archiv Deutschland" zufolge, etwa 12 400 deutscher Abstammung.

Wunsch nach interreligiösem Dialog

Außer dem "Deutschsprachigen Muslim Kreis" (DMK) gibt es in Berlin noch eine weitere deutschsprachige Muslim-Gruppe, die Islamische Gemeinschaft Deutschsprachiger Muslime Berlin. Beide Gruppen suchen den interreligiösen Dialog und vertreten einen friedlichen und eher liberalen Islam. Rechtlich sind sie als Moscheevereine organisiert.

Der DMK ist außerdem Mitglied im Zentralrat der Muslime. Damit stellt er eine Ausnahme unter den Moscheevereinen dar. Denn fast 90 Prozent der Moscheevereine gehören keinem übergeordneten Dachverband an, erklärt der evangelische Theologe Ulrich Dehn von der Berliner "Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen". Gerade innerhalb der selbständigen Moscheevereine entfalte sich "ein moderner Islam, der sich als Teil der säkular-pluralistischen Gesellschaft versteht, als religiöse Gemeinschaft in einem demokratischen Staatswesen".

Heirat mit muslimischen Männern

Dies gilt sicher auch für den DMK. Das Bildungsniveau seiner Mitglieder ist hoch, viele sind Akademiker. Zum Beispiel Stephanie Mohammad (Name geändert). Sie ist Studentin der Orientalistik, mit einem Palästinenser aus dem Libanon verheiratet und gehört zur Frauenschura, dem weiblichen Führungsgremium des DMK. Sie berichtet, dass der DMK mittlerweile 65 Mitglieder aus 26 Nationalitäten hat, und zwar weitaus mehr Frauen als Männer. Ein Drittel der Frauen kam, so Stefanie Mohammad, "von alleine", zwei Drittel sind mit muslimischen Männern verheiratet.

"Viele Frauen treten ja wegen ihres Mannes zum Islam über", erzählt Beate Al Katib lächelnd, "bei uns ist es eher so, dass er sich meinetwegen wieder stärker mit dem Islam beschäftigt hat." Ihr Mann war zwar islamisch erzogen worden, hatte aber zum Zeitpunkt seiner Eheschließung ein eher pragmatisches Verhältnis zum Islam.

Zunächst war er wenig begeistert vom religiösen Eifer seiner Frau. Plötzlich gab es keinen Rotwein mehr zum Essen und keinen Sekt mehr bei festlichen Gelegenheiten. Andererseits hatte er selbst den Eindruck, als Vater, der er nun war, müsse er auch für seine Kinder ein Vorbild sein.

Unterscheidung zwischen Islam und Tradition

Konvertitinnen in Berlin, Foto: Christoph Eckelt

​​Zur Stellung der Frau im Islam haben die DMK-Frauen eine differenzierte Sicht: Da müsse man genau unterscheiden, "was Tradition ist und was Islam", erläutert Stephanie Mohammad. "Wir deutschen Muslime sind nicht so belastet von der Tradition. Wir suchen uns auch die entsprechenden Männer aus. Das ist eine große Chance, auch für die Männer."

Gerade die deutschen Muslime, die nicht in eine islamische Tradition hineingeboren sind und sich viele Gedanken um ihre Religion gemacht haben, könnten zu einer Erneuerung des Islam beitragen, davon ist sie überzeugt. "In Deutschland können wir theologisch forschen. In den arabischen Ländern herrschen ja oft Diktaturen. Da ist irgendwann Schluss mit Forschen und Erneuern."

Konvertiten wollen ihre Religion verstehen

Die Leipziger Religionssoziologin Monika Wohlrab-Sahr hält diese intensive Beschäftigung mit dem Koran für ein typisches "Konversionsphänomen". Während der traditionelle Islam eine eher praktische Religion sei, habe der Versuch, durch "Schriftgelehrtheit" die authentische Religion jenseits der späteren Traditionen zu erkennen, etwas sehr "Protestantisches".

Auch das Selbstbewusstsein, die neue Religion intensiver und besser zu verstehen, als Menschen, die in diese Religion hineingeboren wurden, ist Wohlrab-Sahr zufolge typisch für religiöse Newcomer - nicht nur bei Neu-Muslimen, sondern auch bei frisch bekehrten Christen.

Ursula Trüper

© Qantara.de 2003