Breiviks Ruf zu den Waffen

Weder Geert Wilders noch andere Rechtspopulisten, die von Breivik in seinem Manifest ausführlich zitiert wurden, haben zu direkter physischer Gewalt aufgerufen. Doch ihre Texte und Äußerungen waren hasserfüllt genug, um eine psychisch-labile Person dazu anzustiften, schreibt Ian Buruma in seinem Essay.

Von Ian Buruma

Nehmen wir nur einmal hypothetisch an, dass Geert Wilders, der niederländische Politiker, der überzeugt ist, dass Europa sich "in der Schlussphase seiner Islamisierung" befindet, Recht hat: Anders Breivik, der norwegische Massenmörder, ist verrückt.

Wilders twitterte: "Dass ein Psychopath die Schlacht gegen die Islamisierung missbraucht hat, ist ekelerregend und ein Schlag ins Gesicht der weltweiten Anti-Islam-Bewegung."

Die Vermutung ist ja auch nicht so weit hergeholt. 60 junge Menschen in einem Sommercamp mit einem Sturmgewehr zu erschießen, nachdem man zuvor einen Teil der Osloer Innenstadt kaputt gebombt hat, ist, um es vorsichtig auszudrücken, moralisch exzentrisch – also etwas, worauf die meisten Menschen, die klar bei Verstand sind, nicht einmal im Traum kommen würden, eine solche Tat auszuführen.

Teil der Taktik im Krieg gegen die Dekadenz

Dasselbe ließe sich selbstverständlich von einer Gruppe junger Männer sagen, die sich entschließen, Selbstmord und Massenmord zugleich zu begehen, indem sie zwei Verkehrsflugzeuge in große öffentliche Gebäude in New York und Washington hineinsteuern.

Der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders in Berlin; Foto: dapd
Breivik hatte in einem Internet-Beitrag vor eineinhalb Jahren Geert Wilders Freiheitspartei (PVV) als "wahrhaft konservative Partei" gelobt.

​​Weder Breivik, noch die Terroristen vom 11. September 2001, töteten ohne Grund, in einer Weise, wie es manche nihilistische amerikanische Amokläufer tun. Islamisten sehen ihre Taten willkürlichen Massenmords nicht als persönliche Werbeaktionen, sondern als Teil der Taktik im Heiligen Krieg gegen den dekadenten, sündigen Westen.

Breivik nimmt sich selbst dagegen als ein Krieger der anderen Seite wahr. Sein Ziel bestand darin, den Westen vor der Islamisierung zu schützen. Seine Feinde sind nicht nur Muslime, sondern auch die liberalen westlichen Eliten und ihre Kinder, die Europa von innen durch "Multikulturalismus" und "kulturellen Marxismus" zerstören.

Tatsächlich ist das, was Breivik in seinem weitschweifigen Manifest mit dem Titel "Eine europäische Unabhängigkeitserklärung" schrieb, mehr oder weniger das, was auch Populisten wie Geert Wilders immer wieder gesagt haben. Sicher steht noch einiges andere in dem Manifest – Fantasien von einem Wiederaufleben des mittelalterlichen Templerordens zum Beispiel –, was für eine noch um einiges bizarrere Veranlagung spricht. Und Wilders hat sich ja auch umgehend von Breivik und seinen gewaltsamen Methoden distanziert.

Nur ein rechtsgerichteter europäischer Politiker, der der in Berlusconis Koalition mitregierenden "Lega Nord" angehörende Francesco Speroni, verteidigte Breivik und das mit dem Argument, dass dessen "Ideen die westliche Zivilisation verteidigen" würden.

Wie ernst müssen wir also die ideologischen Beweggründe nehmen, mit denen Breivik und die Terroristen des 11. September ihre Mordtaten rechtfertigen?

Radikale Verlierer

Vor einigen Jahren schrieb der deutsche Autor Hans Magnus Enzensberger einen faszinierenden Essay über den "radikalen Verlierer". Radikale Verlierer seien junge Männer, die so erbost über das Fehlen jeglichen sozialen, wirtschaftlichen und sexuellen Selbstwertgefühls und über das Desinteresse der Welt um sie herum seien, dass sie sich nach einem Akt der Zerstörung sehnten: "Die Fusion von Zerstörung und Selbstzerstörung [und] erlaubt es ihm, seine Größenphantasien ebenso auszuagieren wie seinen Selbsthass."

Hans-Magnus Enzensberger; Foto: dpa
Zorn über das Desinteresse der Welt und das Fehlen jeglichen Selbstwertgefühls - so beschreibt Enzensberger den "radikalen Verlierer" in seinem Essay.

​​Alles kann einen solchen Akt auslösen: die Zurückweisung durch ein Mädchen genauso wie eine Entlassung oder eine nicht bestandene Prüfung. Und manchmal greifen sie zu ideologischen Rechtfertigungen: der Aufbau eines angeblich reinen islamischen Glaubens, der Kampf für Kommunismus oder Faschismus, oder eben die Rettung des Westens. Die Ideale mögen im Einzelnen unwichtig sein – es sind eben jene, die gerade, je nach Mode oder historischen Umständen, zur Verfügung stehen –, jeder Grund ist ihnen genug.

Vielleicht. Doch heißt dies, dass keine Verbindung besteht zwischen den geäußerten Meinungen radikaler Kleriker oder Politikern und den in deren Namen begangenen Verbrechen?

Bei allen Vorwürfen, denen Wilders jetzt ausgesetzt ist, nur weil Breivik bekundete, ihn zu bewundern, sollten die Taten eines gestörten Mörders, nicht dazu benutzt werden, um das zu diskreditieren, wofür jemand wie Wilder steht, warnen andere. Schließlich ist nichts Irrationales, oder gar Mörderisches an der These, dass Multikulturalismus als Ideal Schwachstellen aufweise, dass sich der Islam nicht mit modernen westeuropäischen Vorstellungen von Geschlechtergleichheit oder den Rechten für Homosexuelle vereinbaren lasse, oder dass eine massenhafte Einwanderung zu ernsthaften sozialen Konflikten führen könne.

Zunächst wurden diese Thesen bereits in den 1990er Jahren von respektablen Konservativen und auch von einigen Sozialdemokraten vorgebracht. Sie reagierten damit auf ein selbstzufriedenes liberales Establishment, das dazu neigte, jedweden kritischen Gedanken zur Einwanderung oder nicht-westlichen Glaubensüberzeugungen sowie Traditionen als Rassismus und Bigotterie abzutun.

Während aber per se nichts Verkehrtes daran war, sich Gedanken über die langfristigen sozialen Konsequenzen massenhafter Einwanderung aus muslimischen Ländern zu machen, gingen einige Populisten in den Niederlanden, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Belgien und Großbritannien sowie anderen Ländern sehr viel weiter.

Apokalyptische Vision vom Untergang des Abendlandes

Anti-Wilders-Protest in London 2010; Foto: AP
"Rassisten unerwünscht!" - Proteste gegen eine Veranstaltung Wilders' in London

​​Es ist vor allem Wilders, der dazu neigt, in apokalyptischen Bildern davon zu sprechen, dass "in Europa die Lichter ausgehen" und dass es um "das blanke Überleben des Westens" gehe. Er sieht keineswegs nur eine bestimmte, gewalttätige Richtung des Islams als problematisch an, sondern den Islam als Ganzes: "Wenn man den Islam mit irgendetwas vergleichen will, muss man es mit dem Kommunismus oder dem Nationalsozialismus vergleichen – eine totalitäre Ideologie."

Dies ist die Sprache eines existenziellen Krieges, der gefährlichsten Art. Die Terminologie des Zweiten Weltkriegs wird dabei ganz bewusst wiederbelebt. Diejenigen, die sich der radikalen Feindschaft gegen alle Formen des Islams widersetzen, werden des "Appeasement" beschuldigt oder als "Kollaborateure" des "Islamo-Faschismus" denunziert.

Für einige steht der 11. September in einer Reihe mit den Ereignissen von 1938 oder gar 1940. Für sie steht das Überleben der westlichen Zivilisation auf dem Spiel. Ist es wirklich so überraschend, dass einige Menschen diese Rhetorik als Ruf zu den Waffen missverstehen?

Gewiss, weder Geert Wilders noch selbst so fanatische Blogger in den USA wie die von Breivik in seinem Manifest ausführlich zitierten Scott Spencer und Pamela Geller haben zu physischer Gewalt aufgerufen. Aber ihre Texte und Äußerungen waren hysterisch und hasserfüllt genug, um eine psychisch-labile Person dazu anzustiften. Und tatsächlich ist Breiviks Interpretation ihrer Worte, wenn auch auf bizarre Weise, rationaler als der Gedanke, dass ein Krieg um unser Überleben mit Worten allein gewonnen werden könnte.

Ian Buruma

© Project Syndicate 2011

Ian Buruma ist Professor für Demokratie und Menschenrechte am Bard College sowie Autor des Buches "Taming the Gods: Religion and Democracy on Three Continents".

Aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de