''Keine Regierung hat das Recht, die eigene Bevölkerung zu unterdrücken''

Im Gespräch mit Samira Sammer berichtet der Journalist und Medienexperte Sharif Nashashibi von der Organisation "Arab Media Watch" über die Rolle der Medien im Arabischen Frühling, die Probleme von Medienschaffenden in bewaffneten Konflikten und die Tragödie des syrischen Bürgerkriegs.

Von Samira Sammer

Welche Rolle spielten panarabische Nachrichtensender wie Al-Jazeera und Al-Arabiya beim "Arabischen Frühling"? Haben sie die Umbrüche nachhaltig beeinflusst?

Sharif Nashashibi: Die Nachrichtenberichterstattung kann die ausländische Wahrnehmung des Arabischen Frühlings beeinflussen, doch wurden die Revolutionen überwiegend von den Ereignissen in den betroffenen Staaten bestimmt. Tatsächlich war es für die Nachrichtensender sehr schwierig, über diese Revolutionen in adäquater Weise zu berichten, da die Regierungen dieser Länder den Journalisten die Einreise verwehrten oder den wenigen Reportern, die doch hinein kommen konnten, daran hinderten, ihren Job zu machen.

Die Berichterstattung gestaltete sich daher sehr schwierig, was erheblich dazu beigetragen hat, dass der Bürgerjournalismus entstehen konnte.Soziale Netzwerke wie Twitter und Facebook gewannen an Bedeutung und wurden als Mitteilungsplattform genutzt – neue Medien, auf die dann wiederum Journalisten als Informationsquellen zurückgriffen.

Würden Sie also sagen, dass letztlich die sozialen Netzwerke die Berichterstattung entscheidend geprägt haben?

Nashashibi: Die sozialen Netzwerke haben eine ungemein wichtige Rolle im Verlauf des Arabischen Frühlings gespielt. Da die großen Nachrichtensender wegen der Einreiseverbote für Journalisten und der anhaltenden Gewalt nicht in der Lage waren, ihre Arbeit auszuführen, mussten sie auf Informationen der sozialen Netzwerke zurückgreifen. Problematisch an diesen Medien ist jedoch, dass es sehr schwer ist, ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen.

Sharif Nashashibi; Foto: privat
Sharif Nashashibi: "Die arabischen Regierungen haben sich mit ihren Medienverboten ins eigene Bein geschossen, denn so wurde den oppositionellen Bewegungen die Möglichkeit gegeben, andere Wege zu nutzen, die viel schwerer zu kontrollieren sind"

​​Die Regierungen haben sich mit ihren Medienverboten und Restriktionen aber letztlich ins eigene Bein geschossen, denn so wurde den oppositionellen Bewegungen die Möglichkeit gegeben, andere Wege zu nutzen, die viel schwerer zu kontrollieren sind. Gegenwärtig haben wir es mit einem Propagandakrieg zwischen der Opposition und der Regierung zu tun – wie in vielen anderen Kriegen auch, herrscht auch in Syrien Desinformation auf beiden Seiten.

In den westlichen Medien ist oft die Rede davon, dass Assad angeblich der Schutzherr der Minderheiten in Syrien sei. Was halten Sie von dieser Annahme? Und glauben Sie, dass diese Minderheiten nach Assads Sturz wirklich in Gefahr sein könnten?

Nashashibi: Die Geschichte des Zusammenlebens der verschiedenen Völker in Syrien geht nicht auf Baschar al-Assad oder seinen Vater zurück. Tatsächlich hat das Regime auf zynische Art und Weise die Ängste der Minderheiten instrumentalisiert, um an der Macht zu bleiben. Ein Beispiel: Die Familie meiner Mutter gehört der christlich- armenischen Minderheit in Syrien an. Meine Mutter vermittelte mir das verklärte Bild von einer toleranten und säkularen Gesellschaft, etwa wie sie ihren jüdischen Nachbarn in Aleppo beim Sabbat geholfen hatte, oder sie sprach über ihre damalige Hochzeit mit meinem Vater – einem Muslim –, und dass die Religionszugehörigkeit für sie und andere Familien nie von Bedeutung gewesen war. Doch dies existierte bereits vor der Assad-Dynastie.

Nach dem Ende der Assad-Herrschaft dürfen die Rechte der Minderheiten in Syrien natürlich unter keinen Umständen eingeschränkt werden. Man muss jedoch auch berücksichtigen, dass Assad nicht nur bei den Minderheiten Unterstützung findet, und dass sich die Opposition gegen ihn nicht nur aus der sunnitisch–muslimischen Bevölkerungsmehrheit zusammensetzt. Es gibt noch jene, die sich nicht zu den politischen Geschehnissen äußern, was von manchen als Komplizenschaft mit dem Regime interpretiert wird.

Man kann nicht die Rechte der Minderheiten sichern, indem man die Mehrheit der Bevölkerung unterdrückt. So obliegt es einerseits der Opposition, die Rechte der Minderheiten zu garantieren – und andererseits ist es die Pflicht der Minderheiten, sich an der Seite ihrer Landsleute an der Revolution zu beteiligen. Die Rechte aller sollten wahrgenommen, respektiert und gleichberechtigt behandelt werden.

In westlichen Medien wird in letzter Zeit häufig über die zunehmende Machterweiterung radikal-islamischer Oppositionsgruppen wie die Al-Nusra-Front berichtet. Besteht nicht die Gefahr, dass diese Gruppierungen eines Tages die Macht in Syrien übernehmen könnten?

Nashashibi: Diese radikalen Gruppen zeichnen sich durch ihren festen Willen aus, doch abgesehen von ihren militärischen Fähigkeiten verfügen sie in der syrischen Gesellschaft nur über einen geringen Rückhalt in der Bevölkerung.

Kämpfer der Al-Nusra-Front mit einem Gefangenen in der Provinz Raqqa; Foto: Reuters/Hamid Khatib
Militante Islamisten auf dem Vormarsch: Die radikale Al-Nusra-Front hatte Anfang 2012 mehrere Anschläge in den syrischen Städten Damaskus und Aleppo verübt. Seitdem ist sie im ganzen Land aktiv.

​​Jene, die sich vor Al-Qaida fürchten, und glauben, dass eine solche Organisation Syrien beherrschen könnte, sollten sich vor Augen halten, dass Al-Qaida beispielsweise in Ländern wie Algerien, Irak, Somalia, Mail oder Jemen rasch von den einheimischen Bevölkerungen ausgegrenzt wurde. In einer vielfältigen Gesellschaft wie in Syrien, wird es weder für religiösen, ethnischen noch konfessionellen Extremismus Unterstützung geben.

Die NATO hat der Bitte der syrischen Opposition, direkt in den Konflikt einzugreifen, nicht entsprochen. Die syrische Bevölkerung wolle keine ausländische Einmischung. Denken Sie, es ist richtig ist, dass sich der Westen aus diesem militärischen Konflikt heraushält?

Nashashibi: Assads brutale Reaktion auf die zunächst friedlich begonnene Revolution macht heute einen militärischen Eingriff unvermeidlich. Nach der anhaltenden Ermordung von friedlichen Demonstranten, die anfangs lediglich Reformen forderten, gehen die Menschen jetzt auf die Straße und wollen den Sturz des Regimes. Jene die eine friedliche Veränderung forderten, sahen sich auf einmal gezwungen, sich selbst zu verteidigen. Die Ablehnung einer ausländischen Intervention ist mittlerweile in einen Appell für ein Eingreifen umgeschlagen.

Die syrischen Revolutionäre, ob sie nun aus dem Ausland kommen oder nicht, sind nur sehr leicht bewaffnet. Assads Armee hingegen verfügt über schwere Waffen und Kampfjets. Außerdem wird Assad von seinen Verbündeten (vor allem Russland und Iran) mit Waffen beliefert. Trotz der kürzlich verbesserten militärischen Ausrüstung der Rebellen besteht noch immer ein eindeutiges Ungleichgewicht zugunsten der Regierungsarmee.

Während des bosnischen Bürgerkrieges hat das Waffenembargo die muslimische Bevölkerung am schlimmsten getroffen. Es waren die Zivilisten, die darunter gelitten haben – während die bosnischen Serben von den Russen mit Waffen versorgt wurden –, die es ihnen ermöglichten, Gräueltaten wie das Massaker in Srebrenica mit über 8.000 Toten zu begehen. Gleiches geschieht heute in Syrien. Das Argument der Unterstützer Assads, er sei berechtigt, ausländische Hilfe zu erhalten, weil sein Regime eine "souveräne Regierung" repräsentiere, ist absoluter Unsinn. Keine souveräne Regierung der Welt hat das Recht, seine eigenen Leute zu unterdrücken und noch dazu militärische Hilfe aus andern Ländern zu erhalten, um diese weiter vorzuführen.

Interview & Übersetzung aus dem Englischen von Samira Sammer

© Qantara.de 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

Sharif Nashashibi ist Mitbegründer von "Arab Media Watch", einer unabhängigen NGO, die im Jahr 2000 gegründet wurde, mit dem Ziel, objektiv über die gesellschaftlichen und politischen Ereignisse in der arabischen Welt für britische Medien zu berichten. 2008 wurde Nashashibi für seine ausgewogene Berichterstattung vom "International Media Council" mit dem "Breakaway Award" ausgezeichnet. Er schreibt regelmäßig für Al-Arabiya English, The Guardian und das Middle East Magazin.