Am Rande der Unregierbarkeit

Der gegenwärtige Machtkampf am Nil wird im Westen oft als Konfrontation zweier Lager verstanden: Die eine Seite ist entschlossen, eine Diktatur zu errichten, während die andere für Freiheit und Demokratie kämpft. In Wirklichkeit aber drängen alle politischen Parteien das Land an den Rand der Unregierbarkeit, meint die Politikwissenschaftlerin Nagwan El Ashwal.

Von Nagwan El Ashwal

Im aktuellen Konflikt in Ägypten tritt einerseits die Muslimbruderschaft als politischer Akteur auf. Sie strebt nach der Kontrolle von Verwaltung und Institutionen, was Schwierigkeiten bereitet, da es ihr schlicht an entsprechend ausgebildetem Personal fehlt. Zudem kann sie aufgrund fehlender Mittel keine zusätzlichen Arbeitsplätze in der bereits überfrachteten Bürokratie schaffen.

Anstatt strukturelle Reformen voranzutreiben, arbeitet sie also mit und durch die vom alten Regime geerbten Institutionen und betreibt politische Geschäfte mit denjenigen, die Mubaraks Herrschaft begründeten und stärkten.

Die Muslimbruderschaft duldet zudem stillschweigend die Gewalt, die von Sicherheitskräften des Innenministeriums an ägyptischen Zivilisten verübt wurde. Die einfache Wahrheit ist, dass die Bewegung über nicht genug Macht oder politische Willensstärke verfügt, um einen Sicherheitsapparat abzubauen, der unter Mubarak darauf trainiert wurde, mit viel Brutalität außerhalb des Gesetzes zu operieren und der nach dem Sturz des Regimes nun scheinbar außerhalb jeder effektiven Kontrolle operiert.

Mit zweierlei Maß

Demonstration in Kairo von Anhängern und Gegnern Mohammed Mursis; Foto: Reuters
Verhärtete Fronten: Anhänger der säkularen und liberalen Strömung werfen der Muslimbruderschaft vor, die Macht im Staat zu usurpieren und die demokratischen Grundrechte auszuhöhlen. Sie fordern daher den Rücktritt des islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi und der Regierung.

​​Auf der anderen Seite stehen die säkularen und liberalen Parteien. Sie schreien lautstark nach "Freiheit", während sie gleichzeitig die Armee auffordern, in die politischen Vorgänge einzugreifen. Sie scheinen sich des Widerspruchs nicht bewusst zu sein, den ein Aufruf zur Demokratisierung durch Waffengewalt in sich birgt.

Anscheinend sehen sie auch keinen Widerspruch darin, auf der einen Seite eine politische Rolle für religiöse Autoritäten, beispielsweise für Ägyptens führende islamische Institution, die Al-Azhar, oder die Orthodoxe Kirche zu fordern und andererseits einen zivilen Staat zu verlangen.

Tatsächlich missachten und unterminieren alle ägyptischen Parteien schamlos demokratische Regeln und Gesetze. Die Muslimbruderschaft entfernt sich immer weiter von den Zugeständnissen, die sie im Verlauf mehrerer Runden des Nationalen Dialogs gemacht hatte, und bietet keine deutlichen Garantien zur Durchsetzung der Beschlüsse des Nationalen Dialogs.

Die säkularen Parteien schmieden Allianzen mit den Überbleibseln des gestürzten Regimes, sofern sich diese offen gegen die Muslimbruderschaft wenden. Tatsächlich neigen auch sie dazu, Gewalt zu dulden. Dabei verfolgen sie zwei Ziele: Erstens, den gewählten Präsidenten zu schwächen und zweitens, die Parlamentswahlen aufzuschieben, da sie befürchten – aufgrund fehlender Unterstützung aus der Bevölkerung – keine Aussicht auf ausreichende Mandate zu haben.

Auslagerung der Politik auf die Straßen

Die starke Polarisierung zwischen politischen Parteien in Ägypten hat beide Seiten dazu veranlasst, die Politik auf die Straße auszulagern, anstatt die Kämpfe im demokratischen institutionellen Rahmen auszufechten. Somit wurde die ohnehin unberechenbare Situation weiter destabilisiert.

Mohammed ElBaradei; Foto: picture-alliance/dpa
Auf Konfrontationskurs mit der Muslimbruderschaft: Oppositionsführer Mohammed ElBaradei rief vor kurzem zum Boykott der Parlamentswahlen im kommenden April auf. Er wolle an diesem "Akt der Täuschung" nicht teilnehmen, erklärte der Chef des Oppositionsbündnisses "Nationale Heilsfront".

​​Heute liegt die größte Herausforderung Ägyptens in der Um- und Neustrukturierung der Institutionen des Staats, in dem sich nach wie vor Anhänger des alten Regimes verschanzt haben. Es bedarf einer kompletten Reform – angefangen beim Innenministerium bis hin zum Wandel hinsichtlich des Umgangs sowie der Wahrnehmung der Bürger. Im Innenministerium besagt die vorherrschende "Sicherheitsdoktrin" beispielsweise, dass Demonstranten keine politisch aktiven Bürger, sondern vielmehr "Verräter" seien, die im fremden Interesse handeln.

Grundlegende Reformen notwendig

Zudem muss das Justizwesen grundlegend reformiert werden, um Agenten der Staatssicherheit zu entfernen, die dort eingeschleust wurden und zu Mubaraks Zeiten als Richter aufstiegen. Polizisten und anderes Personal des Sicherheitssektors werden bis heute systematisch von der Staatsanwaltschaft frei gesprochen – angeblich aufgrund fehlender Beweise, was weiterhin für öffentlichen Unmut sorgt.

Den vom alten Regime vererbten "tiefen Staat" zu bewältigen, ist eine wichtige Aufgabe, die beide politischen Lager nur gemeinsam bewältigen können. Doch selbst wenn sie künftig kooperierten, so wird diese Aufgabe kaum ohne Hilfe von außen möglich sein. Um den Staatkollaps abzuwenden, ist dringend finanzielle Unterstützung nötig.

Ebenso müssten die Europäer die politischen Kräfte Ägyptens dazu auffordern, sich gemeinsam dieser Herausforderung zu stellen, anstatt nur eine Seite auf Kosten der anderen zu unterstützen. Eine solche einseitige Unterstützung könnte tatsächlich zur Folge haben, dass Ägypten in eine anhaltende Phase der Regierungslosigkeit gestürzt wird.

Nagwan El Ashwal

Die Politikwissenschaftlerin und Publizistin Nagwan al-Ashwal arbeitet derzeit bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) am Forschungsprojekt zu Elitenwandel und sozialer Mobilisierung in der arabischen Welt.

© Qantara.de 2013

Übersetzt aus dem Englischen von Laura Overmeyer

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de