Melancholie und Einspruch

Abdellah Taïa ist der erste marokkanische Schriftsteller, der sich offen zu seiner Homosexualität bekennt. Sein "Coming Out" wagte der Literat allerdings erst, nachdem er nach Frankreich übersiedeln konnte. Ein Porträt von Kersten Knipp

Bild Abdellah Taia; Foto: Denis Dailleux
Freigeist oder Nestbeschmutzer? Der marokkanische Schriftsteller Abdellah Taïa polarisiert.

​​Gerade mal 35 Jahre ist der marokkanische Schriftsteller Abdellah Taïa alt – und hat doch schon drei autobiographisch gefärbte Romane auf den Markt gebracht. Und soeben ist der vierte erschienen. "Une mélancholie arabe" heißt er, und auch er berichtet von den jungen Jahren des Autors.

Und zu berichten gibt es einiges, gerade weil er in einer Zeit und einer Region aufwuchs, die das Heranwachsen so schwierig machte. Marokko, so jedenfalls stellt Taïa es in seinen Romanen dar, ist Heimstatt des Verzichts, ein Ort politischer, sozialer und psychologischer Entbehrungen.
Seine Jugend verbrachte Taïa unter der Herrschaft König Hassans II. Der unterdrückte die Opposition mit harter Hand, trat insbesondere auch den Jugendprotesten westlichen Zuschnitts entschlossen entgegen. Zugleich versäumte er es, die Aufbegehrenden aufzufangen, ihnen Chancen zu bieten.

Perspektiven öffneten sich den jungen Menschen nicht, die Zukunftsgestaltung wurde zum Glückspiel. Und zum politischen Druck kam – und kommt – der religiöse. Die marokkanische Gesellschaft hat sich der Moderne nur zu Teilen geöffnet, aber im Kern ist sie konservativ geblieben. Insbesondere die Beziehungen zwischen den Geschlechtern sind streng geregelt. Ab einem bestimmten Alter werden die Jungen und Mädchen sorgsam voneinander getrennt.

Homosexualität als Ersatzpraxis

​​Unter diesen Umständen, berichtet Taïa, wandten sich viele junge Männer der Homosexualität zu – die sie allerdings schlicht als eine Ersatzpraxis betrachteten. "Aber bei mir war es anders", erzählt er im Interview. "Ich meinte es ernst. Die Homosexualität war kein Behelf, sondern ein zutiefst empfundenes Bedürfnis." Seitdem er sich das eingestand, wurde das Leben schwierig. Viele Tränen seien geflossen, berichtet er, und zwar über Jahre.

Freilich hinderte ihn dass nicht, seinen Sehnsüchten nachzugehen. Marokko sei ein strenges Land, aber auch ein sinnliches. Affären mit Gleichaltrigen, aber auch mit älteren Männern: kaum ein Abenteuer, auf das er sich nicht eingelassen habe. Seine Bücher beschreiben die einschlägigen Erfahrungen auf anschauliche, um nicht zu sagen drastische Weise. Aber es bleibt bei den Abenteuern: Eine feste Beziehung und das Ansinnen, sich zur Homosexualität zu bekennen, waren tabu.

Duft der Kultur

Flucht und zugleich Halt bot die Kultur: Der Vater, Hausmeister der Stadtbibliothek von Rabat, macht den Sohn mit der Welt der Bücher bekannt, mit ihrem Geist, vor allem aber ihrer Sinnlichkeit. "Er wollte mich an den Geruch der Bücher gewöhnen", heißt es in dem bislang wie alle Werke Taïas noch nicht ins Deutsche übersetzten Roman "Mon Maroc". "Es lag ihm daran, ihren magischen, einzigartigen Duft in meinen Kopf, in meine Sinne steigen zu lassen."

​​Die Bücher waren es auch, die ihm später mehr als nur kleine Fluchträume verschafften: Mitte der 90er Jahre erhielt Taïa ein Stipendium für ein Studiensemester in Genf. Für ihn die Gelegenheit, den Sprung von Marokko nach Europa, genauer nach Frankreich, Paris, zu wagen.
In der französischen Hauptstadt wurde er zu einem scharfen Kritiker der marokkanischen Zustände, oder besser: der schwierigen Moral des Landes, das gleichgeschlechtliche Liebe zumindest offiziell nicht duldet. In einem Interview mit dem liberalen marokkanischen Politmagazin "Tel Quel", bekannte sich Taïa darum offen zu seiner Homosexualität. Das hatte vor ihm noch kein marokkanischer Schriftsteller gewagt.

Entsprechend groß war die Aufregung, die das Interview auslöste. Die des Französischen mächtigen Leser des Blattes äußerten sich noch einigermaßen zurückhaltend. Doch als er seine Aussagen auch in einigen arabischsprachigen Medien des Landes wiederholte, brach ein Sturm der Entrüstung los. Er beschmutze das Ansehen des Landes und der Religion, warf man ihm vor, ein Mensch wie er sei kein Schriftsteller. Vielmehr gehöre er verbrannt. Und seine Homosexualität bringe er nur ins Spiel, um sich dem Westen anzubiedern.

Sinnliche Sprache

Tatsächlich hat Taïa in dem Interview nur das Thema aufgenommen, von dem er schon in seinen Büchern berichtete. Seine Romane von der erwachenden Homosexualität, aber auch von vielen anderen Dingen. In einer sehr sinnlichen, anschaulichen Sprache beschreibt Taïa das Leben im Marokko der 80er, 90er Jahre, erzählt vor allem von den Bedürfnissen und Sehnsüchten einer Generation, der viele ihrer Träume verwehrt blieben. Über diese Schilderungen werden seine Romane zum Sittenbild einer Gesellschaft, spiegeln im Kleinen, was im Großen das ganze Land bestimmt.

Moderne Hochhäuser in der Hafenstadt Casablanca; Foto: dpa
Die marokkanische Gesellschaft hat sich der Moderne nur zu Teilen geöffnet, aber im Kern ist sie konservativ geblieben.

​​Literarisches Vorbild ist für Taïa der marokkanische Schriftsteller Mohammed Choukri (1935 – 2003). Aus ärmsten Verhältnissen stammend, beschrieb er in seiner Autobiographie "Das nackte Brot" seine Jugend in bis dato unvorstellbarer Drastik, berichtete von einem Leben im Zeichen von Gewalt, Sexualität und Armut. Solche Lebensumstände blieben Taïa selbst erspart. Doch wie sehr seine und die ihr folgenden Generationen noch an den Verhältnissen zu leiden haben, zeigt er nicht nur in seinen fiktionalen, sondern auch journalistischen Texten.

Als sich im März des vergangenen Jahres ein junger Selbstmordattentäter in einem Internetcafé in Casablanca in die Luft sprengte, schilderte er in einem auch in der französischen Zeitung "Le Monde" veröffentlichten Beitrag die Lebensumstände der beiden jungen Männer – Umstände, die er aus eigener Erfahrung kannte. Er könne sich vorstellen, wie die beiden Männer sich fühlten, schrieb er in dem Artikel. So könne er das Attentat zwar nicht entschuldigen, wohl aber dessen Ursachen nachvollziehen. Ihn selbst haben die Bücher gerettet. Andere wurden und werden Opfer der Verhältnisse. Auch davon handeln seine Romane.

Kersten Knipp

© Qantara.de 2008

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