Sechs Monate Krieg in Nahost - Israel zieht Truppen im Süden Gazas ab

Für Zivilisten im südlichen Gazastreifen würde eine israelische Militäroffensive in Rafah neues Leid bedeuten.
Palästinensische Zivilisten im südlichen Gazastreifen: Mehr als 33.000 Menschen wurden seit Beginn des israelischen Militäreinsatzes nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober im Gazastreifen getötet. (Foto: Abed Rahim Khatib/Anadolu/picture alliance)

Chan Junis gilt als wichtiger Stützpunkt der islamistischen Hamas. Nun kündigt Israel dort einen Truppenabzug an. Ob dies zu einem Durchbruch bei Verhandlungen über eine Waffenruhe führt, bleibt ungewiss.ab Von Christina Storz, Sara Lemel, Lars Nicolaysen und Johannes Sadek, dpa

Tel Aviv/Gaza. Sechs Monate nach Beginn des Gaza-Krieges hat Israel einen Teilabzug seiner Truppen aus dem Palästinensergebiet eingeleitet. «Die 98. Kommando-Abteilung hat ihren Einsatz in Chan Junis beendet», teilte die Armee am Sonntag mit. Sie habe den Gazastreifen verlassen, erhebliche Truppen verblieben jedoch im Gazastreifen. Die Stadt Chan Junis im Süden des abgeriegelten Küstengebiets gilt als wichtiger Stützpunkt der islamistischen Hamas.

In Kairo sollten am Sonntag neue indirekte Verhandlungen über eine Waffenruhe beginnen - ob es einen Zusammenhang mit dem israelischen Abzug gab, blieb zunächst unklar.

Große Bodenoffensive möglicherweise beendet

Jüngste Drohungen aus dem Iran versetzten Israel und die USA derweil in höchste Alarmbereitschaft. Nach Angaben der Armee werden die Truppen den Gazastreifen verlassen, «um sich zu erholen und auf weitere Operationen vorzubereiten». Israelische Medien deuteten den Teilabzug als Ende der großen Bodenoffensive, die am 27. Oktober vergangenen Jahres begonnen hatte. Künftig seien in der Stadt nur noch gezielte, punktuelle Einsätze geplant, schrieb die Nachrichtenseite ynet. Die Armee werde es den Einwohnern, die Chan Junis verlassen haben, erlauben, in ihre Wohnungen zurückzukehren. Der Abzug umfasse drei Brigaden, nun solle nur noch eine Brigade in dem Küstenstreifen bleiben, berichtete die «Jerusalem Post». 

Mehr als 33 000 Tote im Gazastreifen

Auslöser des Krieges war der Terrorangriff der Hamas auf das israelische Grenzgebiet am 7. Oktober bei dem mehr als 1200 Menschen getötet wurden. Es war das schlimmste Massaker in der Geschichte des Landes. Terroristen der Hamas und anderer extremistischer Organisationen verschleppten dabei mehr als 250 Menschen in den Gazastreifen. Bis heute werden dort nach israelischen Informationen noch 133 Menschen festgehalten, davon sollen noch knapp hundert am Leben sein.
 
Mehr als 1,7 Millionen der insgesamt 2,2 Millionen Einwohner des Gebiets am Mittelmeer, das flächenmäßig etwa so groß ist wie München, wurden nach UN-Angaben seitdem zu Binnenvertriebenen. Nach Angaben der von der Hamas kontrollierten palästinensischen Gesundheitsbehörde in Gaza wurden im vergangenen halben Jahr mehr als 33 000
Palästinenser getötet, unter ihnen zahlreiche Frauen, Kinder, Sanitäter, Journalisten und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen. Israel spricht von 12 000 getöteten Terroristen. Alle Zahlenangaben lassen sich derzeit nicht unabhängig überprüfen.

Israel Regierung unter Druck

Israels Führung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu gerät angesichts der massiven Zerstörung und Zahl an Toten international immer mehr unter Druck. Selbst Verbündete üben offen Kritik. In den Vereinigten Staaten und Großbritannien mehren sich etwa Rufe nach einem Stopp der Waffenlieferungen an den jüdischen Staat. Aber auch in Israel zeigen sich viele Menschen frustriert von den Bemühungen der Regierung, die von der Hamas verschleppten Geiseln zurückzuholen. Am Samstagabend gingen Zehntausende Menschen in der israelischen Küstenstadt Tel Aviv und anderen israelischen Städten gegen Netanjahus Regierung auf die Straße. Es handelte sich Medien zufolge um die größten Proteste seit dem 7. Oktober. 

Angehörige der Verschleppten werfen Netanjahu etwa vor, einem Geisel-Deal im Wege zu stehen. Im Laufe einer einwöchigen Feuerpause Ende November hatte die Hamas 105 Geiseln freigelassen. Im Gegenzug entließ Israel 240 palästinensische Häftlinge aus seinen
Gefängnissen. 

Bericht: USA drängen Israel zu Zugeständnis 

Am Wochenende trafen CIA-Direktor William Burns und eine Delegation der islamistischen Hamas für indirekte Gespräche über eine Waffenruhe und die mögliche Freilassung weiterer Geiseln in Kairo ein. Auch der Chef des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad, David Barnea, sollte israelischen Berichten zufolge nach einer Entscheidung des
Kriegskabinetts noch anreisen.

Eine mögliche Vereinbarung der Kriegsparteien soll auch eine Freilassung weiterer Geiseln der Hamas sowie palästinensischen Häftlingen in israelischen Gefängnissen vorsehen. Ein baldiger Durchbruch der Gespräche unter Vermittlung der USA, Katar und Ägypten bleibt weiter ungewiss. 

Ein Knackpunkt in den indirekten Verhandlungen war bis zuletzt die Frage, ob und wie viele durch Kämpfe vertriebene Zivilisten in den Norden Gazas zurückkehren dürfen. Einem Bericht des «Wall Street Journal» zufolge drängen die USA Israel in der Frage zu neuen Zugeständnissen. Damit wollen die USA als Israels wichtigster Verbündeter einen Durchbruch in den Verhandlungen ermöglichen, die seit Wochen in einer Sackgasse stecken. Auch Bemühungen, vor Beginn des laufenden muslimischen Fastenmonats Ramadan zu einer Einigung zu kommen, blieben erfolglos. Der Ramadan endet voraussichtlich am Dienstagabend.

Nach israelischen Medienberichten fordert Israel, dass Menschen vor einer Rückkehr in den Norden kontrolliert werden.  Israel wolle damit sicherstellen, dass sich keine Terroristen unter sie mischen. Die Hamas lehne dies ab.

Möglicher iranischer Angriff erwartet

Unterdessen wurden am Sonntag neue Drohungen aus dem Iran laut. «Die (antiisraelische) Widerstandsfront ist bereit für alle möglichen Vergeltungsszenarien und keine israelische Botschaft weltweit ist sicher davor», sagte General Jajhja Rahim-Safawi am Sonntag. Rahim-Safawi ist ein Berater des obersten iranischen Führers, Ajatollah Ali Chamenei.
Vergangene Woche waren unter anderem zwei iranische Brigadegeneräle bei einem Raketenangriff auf das iranische Botschaftsgelände in Damaskus getötet worden. Irans Staatsspitze machte kurz darauf Israel für die Attacke verantwortlich und drohte mit Vergeltung. Seitdem gibt es Befürchtungen eines iranischen Gegenschlags auf Ziele Israels oder dessen Verbündeten USA.
 
Beobachter im Iran halten jedoch einen iranischen Angriff auf israelische Botschaften für eher unwahrscheinlich. Auch die Regierung von Präsident Ebrahim Raisi hat sich von dieser Option bislang distanziert. Wahrscheinlicher sei demnach ein iranischer Angriff auf israelische oder auch US-amerikanische Stellungen und Einrichtungen über proiranische Gruppen im Libanon, Jemen oder Irak. (dpa)