Eine dritte Legislaturperiode für den Hindu-Nationalismus?

Indien: Regierungschef Narendra Modi sitzt vor einem Blumenstrauß.
Der indische Regierungschef Narendra Modi (bei einem Wahlkampfauftritt Mitte März in Westbengalen). Ab 19. April wird in Indien in den ersten Bundesstaaten gewählt. Am 4.Juni sollen schließlich alle Stimmen ausgezählt sein. Seit zwei Legislaturperioden regiert nun die Indische Volkspartei BJP und Premierminister Narendra Modi mit absoluter Mehrheit. (Foto: Subrata Goswami/DW)

Nach amtlicher Lesart hat das Wirtschaftswachstum dazu beigetragen, viele Inder aus der Armut zu befreien. Kritiker warnen jedoch davor, dass ein erneuter Wahlsieg der Hindu-Nationalisten den autoritären Umbau der Gesellschaft weiter vorantreiben wird.

Von Dominik Müller

Nicht zu den Nutznießern der BJP-Politik gehören beispielsweise Bauern und Landarbeiter. Sie spielen schon rein zahlenmäßig eine wichtige Rolle: 44 Prozent, also knapp die Hälfte der indischen Bevölkerung, lebt vom primären Sektor, somit vor allem von Land- und Forstwirtschaft sowie Fischerei. Zum Vergleich: In der Europäischen Union sind es durchschnittlich zwei Prozent.

Wie schon vor den Wahlen 2019 protestieren auch jetzt wieder viele ihrer Organisationen und Gewerkschaften in Neu Delhi. Sie fordern unter anderem einen staatlich festgelegten Mindestpreis für ihre Produkte. Vertragslandwirtschaft und mächtige Abnehmer – vor allem Supermarktketten – drücken die Erzeugerpreise. „Hätte es einen Mindestpreis gegeben, wären wir nie in die Schuldenfalle geraten“, erklärten Bauern Mitte März bei Protesten in Delhi.

Verschuldung ist einer der Hauptfaktoren, der Bauern und Landarbeiter in die Verzweiflung treibt: Mehr als 10.000 von ihnen nehmen sich nach offiziellen Statistiken jedes Jahr das Leben. Tendenz steigend.

Bauernproteste

Auch vor den Wahlen zur Lok Sabha 2019, dem indischen Unterhaus, gab es große Bauernproteste. Unter dem Titel „Keine Stimme für die BJP“ wurde sogar eine Kampagne gestartet. Trotzdem konnte die BJP vor fünf Jahren Stimmengewinne verzeichnen und stärker als zuvor ins Unterhaus einziehen. Dabei hatte sie nichts von ihrem Wahlversprechen „Ache Dhin“ – „Die guten Tage kommen“ – eingelöst, im Gegenteil: Ohne Ankündigung hatte die Regierung faktisch über Nacht einen Großteil des indischen Bargelds entwertet und damit vor allem die ärmeren Schichten in große Not gestürzt.

Besonders der Straßenhandel, nach der Landwirtschaft die wichtigste Einkommensquelle der Bevölkerung, litt unter der neuen Umsatz- und Mehrwertsteuer. 600 Millionen Inder waren damals unter 25 Jahre alt - doch auch das versprochene Jobwunder blieb aus. Vor allem mit verbalen und zum Teil tätlichen Angriffen auf die mehr als 170 Millionen Menschen zählende muslimische Minderheit versuchten die BJP und ihre Anhänger von ihrer Verantwortung für die sozialen Verwerfungen abzulenken. Nach den Wahlen 2019 folgte die Verschärfung des Staatsbürgerschaftsrechts vor allem für Muslime - und 2020 die Grundsteinlegung für den Ram-Tempel in Ayodhya.

Die Arbeitslosigkeit ist nach wie vor hoch. Die Inflation liegt auf hohem Niveau, die Investitionen sind rückläufig. Indien ist neben Südafrika das Land mit der größten Einkommens- und Vermögensungleichheit weltweit. Doch das ist für die BJP kein Thema im aktuellen Wahlkampf, den sie mit einem national-religiösen Auftritt eröffnete.

Am 22. Januar 2024 weihte Premierminister Modi, wie ein hoher Priester in eine goldene Kurta gekleidet, in einer feierlichen Zeremonie den lange umstrittenen Tempel von Ayodhya ein. Auf dem Gelände des Tempels soll nach den hinduistischen Lehren der von vielen verehrte Gott Ram geboren worden sein. Die Zerstörung der Babri-Moschee, die zuvor fünf Jahrhunderte an dieser Stelle gestanden hatte, führte 1992 zu schweren Unruhen, bei denen etwa 2000 Menschen ums Leben kamen. 

Indiens Regierungschef weiht umstrittenen Hindu-Tempel ein
In einer Machtdemonstration seiner nationalistischen BJP-Partei hat Indiens Regierungschef Narendra Modi einen hoch umstrittenen Hindu-Tempel eingeweiht. Die Einweihung des Tempels in der Pilgerstadt Ayodhya läute eine "neue Ära" ein, sagte Modi vor dem Bau zu Ehren der Hindu-Gottheit Ram, der auf den Ruinen einer jahrhundertealten und von extremistischen Hindus zerstörten Moschee errichtet worden war. (Foto: Ab Rauoof Ganie/DW)

Tempel-Moschee-Kontroverse von Ayodhya

Die BJP hielt die Kontroverse um dieses Stück Land in den folgenden Jahren am Leben und machte sie zu einem Thema von nationaler politischer Bedeutung. 2019 entschied schließlich der Oberste Gerichtshof Indiens, dass die Hindus das Recht haben, auf dem umstrittenen Stück Land ihren Tempel zu bauen. Radikale Hindugruppen verglichen den Tempelbau mit der Bedeutung Mekkas für die Muslime oder des Vatikans für die Christen. Bei der Einweihung des 200 Millionen Euro teuren Tempels wurde Modi von Hindu-Priestern in einer religiösen Zeremonie begleitet.

Tausende Gäste verfolgten das Ereignis vor Ort, hunderte Millionen die Live-Übertragung im Fernsehen und im Internet. Dies sei der Beginn einer neuen Ära", sagte Narendra Modi. „Nach Jahrhunderten der Geduld, unzähligen Opfern und Buße" sei die Gottheit Ram an ihren Geburtsort zurückgekehrt. „Heute haben wir uns vom Denken der Sklaverei befreit“, so Narendra Modi. Tatsächlich sehen Modi und viele seiner Anhänger die Hindus als Opfer jahrhundertelanger Unterdrückung durch die Mogulherrscher und den Islam.

Reichste Partei der Welt

Die BJP ist heute eine der reichsten Parteien der Welt, vielleicht sogar die reichste. Dazu beigetragen hat ein 2017 verabschiedetes Gesetz zur Parteienfinanzierung. Zur Bekämpfung der Korruption, so die offizielle Begründung, wurden Barspenden an Parteien zwar von umgerechnet 250 auf 25 Euro begrenzt. Allerdings kann nun jeder Bürger und jede in Indien ansässige Körperschaft – also auch ausländische Unternehmen mit Sitz in Indien – der Partei seiner Wahl über die Staatsbank ein Vielfaches zukommen lassen und sogenannte „Wahlbonds“ erwerben.

Allein in den Monaten März und April 2019, also im Vorfeld der letzten Unterhauswahlen, flossen auf diese Weise 500 Millionen US-Dollar in Form von Großspenden fast ausschließlich an die BJP. Zum Vergleich: Zwischen 2005 und 2018, also innerhalb von 13 Jahren, spendeten die fünf nach Börsenwert größten Konzerne der Welt – Apple, Microsoft, Alphabet, Amazon und Facebook – etwa die gleiche Summe an den US-Kongress. Doch anders als in den USA bleiben die Spender in Indien für die Öffentlichkeit anonym. Nur die Staatsbank und die Regierung wissen, wer für welche Partei Bonds kauft. Bis Februar 2024 wurden solche Wahlbonds für insgesamt zwei Milliarden US-Dollar gekauft. Der weitaus größte Teil ging an die BJP

Am 15. Februar schließlich erklärte der Oberste Gerichtshof das System für verfassungswidrig, da anonyme Wahlanleihen das Recht auf Information verletzten. Die Ausgabe weiterer Bonds wurde daraufhin untersagt.

Einige Beobachter werten das Urteil des Obersten Gerichtshofs als Lebenszeichen einer unabhängigen Justiz. Der französische Politologe Christophe Jaffrelot, Professor für Südasienpolitik am Institut für politische Studien zu Paris (Sciences Po) und am King's College in London, will das Urteil jedoch nicht überbewerten. Viele umstrittene Entscheidungen des Gerichts in den vergangenen Jahren – etwa zum Tempelbau in Ayodhaya, zum Ende der Teilautonomie der Gliedstaaten Jammu und Kaschmir oder zur Verwässerung des Informationsfreiheitsgesetzes – seien ganz im Sinne der BJP ausgefallen.

Auch die Klagen gegen das umstrittene neue Staatsbürgerschaftsrecht sind seit vier Jahren anhängig. „Wir haben also wirklich eine Justiz, die nicht mehr das ist, was sie einmal war“, sagt Jaffrelot, der seit Jahrzehnten zu Indien forscht. Vor langer Zeit sei der Oberste Gerichtshof Indiens „von der ganzen Welt für seine unabhängige Rechtsprechung bewundert“ worden, sagte Jaffrelot in einem Interview mit dem indischen Nachrichtenportal „The Wire“.

Politiker bezeichnen Indien gerne als „größte Demokratie der Welt“. Doch sollte die BJP die Wahl gewinnen, wird sie den Umbau zu einem Hindu-Staat weiter vorantreiben. Die Chancen stehen gut für die BJP: Mit ihren finanziellen Mitteln kann keine andere Partei mithalten. Die BJP kontrolliert mittlerweile alle wichtigen elektronischen Medien: Der quotenstarke und BJP-kritische Sender NDTV wurde 2022 von der Adani-Gruppe übernommen. Der Milliardär Gautam Adani, dessen Konzern der weltweit größte private Betreiber von Kohleminen und Kohlekraftwerken ist, gehört zu den frühen Förderern von Narendra Modi.

Indischer Oppositionspolitiker Arvind Kejrival sitzt in einem Auto.
Der indische Oppositionspolitiker Arvind Kejrival auf dem Weg zum Gericht in Delhi (am 28. März). Die Opposition wirft Premierminister Narendra Modi vor, politische Gegner verdrängen zu wollen.(Foto: Hindustan Times/IMAGO)

Oppositionspolitiker in Haft

Seit kurzem sitzt einer der wichtigsten Oppositionsführer hinter Gittern: Arvind Kejriwal von der Aam Admi Party (AAP, Partei des einfachen Mannes). Ausgerechnet dem Gesicht der einstigen Anti-Korruptionsbewegung warf die indische Behörde zur Bekämpfung von Finanzkriminalität (ED) Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe von Alkoholverkaufslizenzen vor. Am 21. März wurde Kejriwal, der auch Regierungschef des Unionsterritoriums Delhi ist, verhaftet. Am 1. April verlängerte ein Gericht die Untersuchungshaft bis mindestens 15. April.

Bis dahin muss Kejriwal auf öffentliche Wahlkampfauftritte verzichten. Er ist einer der wichtigsten Sprecher der Oppositionsallianz, einem Bündnis von 27 Parteien und Organisationen, die sich gegen die BJP zusammengeschlossen haben. Die Aam Aadmi Party weist alle Vorwürfe zurück. Kejriwal sei zu Unrecht in einem konstruierten Fall verhaftet worden. Die BJP bestreitet jegliche Einflussnahme auf die Behörde. Laut der indischen Tageszeitung „Indian Express“ geht die Behörde seit der Regierungsübernahme durch die BJP jedoch in 95 Prozent der Fälle gegen die Opposition vor.

Dominik Müller

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