Fremde Tochter

Der Autor Sherko Fatah
Mit "Der große Wunsch" ist Sherko Fatah ein großartiger Roman gelungen, der in ruhiger, epischer Sprache einen brisanten politischen Stoff behandelt, schreibt Volker Kaminski in seiner Rezension. (Foto: Christian Charisius/dpa/picture-alliance )

Der preisgekrönte Autor Sherko Fatah erzählt in seinem neuen Roman vom Schicksal eines Vaters, dessen Tochter sich einem Glaubenskämpfer anschließt und ihm ins syrische Kriegsgebiet des IS folgt.

Von Volker Kaminski

Der Roman setzt unvermittelt im Grenzgebiet zwischen Türkei und Syrien ein. In einer sternklaren Nacht irrt Murad durch ein gebirgiges Niemandsland und stolpert buchstäblich durch Kot und Schlamm in der vagen Hoffnung auf eine Mitfahrgelegenheit, die ihn in einen auf syrischer Seite gelegenen Grenzort bringen soll. Dass er durch solche Aktionen nichts in seiner Angelegenheit erreicht, wird ihm klar, nachdem er nach Mardin zurückgekehrt ist.  

Durch einen Freund in Deutschland bekommt er Kontakt zu Schleusern, die ihm gegen Bezahlung Informationen über Naima verschaffen. Ein junger Chauffeur fährt ihn an die Orte und zu den Lokalitäten, wo er Kontaktleute treffen kann. So gelangen bald Gerüchte zu ihm, die besagen, dass sich Naima in Rakka aufhält, einer Stadt mitten im Gebiet von "Daesh“ (eine arabische Bezeichnung für den sog. Islamischen Staat).  

Naima ist volljährig und schon vor Monaten mit ihrem Freund, einem Franzosen, nach Syrien aufgebrochen. Seit wann sie sich dort aufhält, wissen weder Murad noch seine Ex-Frau Dorothee. Beide haben keine Nachrichten von ihr und mit der Zeit wird Murad bewusst, dass er schon lange keinen Zugang mehr zu seiner Tochter hat und nicht mitbekam, wie sie sich verändert hat.   

Romancover von Sherko Fatah, Der große Wunsch
Eine berührende Vater-Tochter-Geschichte vor dem Hintegrund der Konflikte im Nahen Osten. Sherko Fatah wurde 1964 in Ost-Berlin als Sohn eines irakischen Kurden und einer Deutschen geboren. Er wuchs in der DDR auf und siedelte 1975 mit seiner Familie über Wien nach West-Berlin über, wo er Philosophie und Kunstgeschichte studierte. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Großen Kunstpreis Berlin der Akademie der Künste. (Quelle: Luchterhand Verlag)

Zermürbendes Warten

In der langen Wartezeit, die Murad in einer kleinen Gartenhütte seines Vermieters verbringt, durchlebt er einen langsamen Bewusstwerdungsprozess. Er sucht nach Antworten für die Entfremdung zwischen ihm und Naima, aber auch für seine eigene Position zwischen West und Ost. 

Als Journalist und Filmemacher in Berlin hat er sich intensiv mit der Geschichte des Nahen Ostens beschäftigt, doch nun begegnet Fatahs Protagonist auf ganz andere Weise seinen eigenen Wurzeln. Er erinnert sich, dass er mit seinem Vater einst hierherkam, und wird sich der Wichtigkeit seiner Herkunft bewusst: "Letztlich war es das, was er auch hier tat, wenn er Naima suchte: zurückgehen an einen Ausgangspunkt.“

Während Murad nach Antworten sucht und das Romangeschehen durch die langen Gedankenschleifen des Protagonisten beinahe zum Stehen kommt, gelangen zur gleichen Zeit immer wieder schlaglichtartig Informationen über Naimas Situation in den Text, die für Spannungsimpulse sorgen. 

Die Arbeit der Boten und Schleuser ist nicht vergeblich, so beliefern sie Murad bald mit Sprachnachrichten, die von einer jungen Frau stammen, die entweder Naima ist oder ihr sehr ähnelt. Fotos, die ebenfalls auftauchen, zeigen eine verschleierte Frau, deren Identität auf diesem Weg nicht eindeutig zu ermitteln ist. Murad ist misstrauisch und bezweifelt nicht nur die

Echtheit der Bilder, sondern ist sich auch bei den Audiofiles nicht sicher, ob es sich um die Stimme seiner Tochter handelt.

Latente Bedrohung

In dieser Ungewissheit durchlebt Murad – und auch die Mutter Dorothee in Berlin – bange Wochen, die ihn zwingen, sich das Schlimmste vorzustellen. Wird er Naima jemals wiedersehen? Wird er sie überreden können zurückzukehren oder hat sie sich inzwischen so stark radikalisiert, dass sie in ihm und im Westen überhaupt nur noch einen Feind sieht?  

Das Offenhalten solcher Fragen und eine immer vorhandene latente Bedrohung verleihen dem Roman seine dunkle, schwermütige Färbung. Die Nachrichten, die Murad auf dem Weg der Schleuser erreichen – tagebuchähnliche Ton-Aufzeichnungen jener jungen Frau – zeigen, dass sich die Lage der Frau bald verschlechtert. Nach einer kurzen Anfangseuphorie in einer Gruppe von gleichgesinnten Frauen fühlt sie sich einsam und hat Angst um ihr Leben. 

Die jungen IS-Kämpfer befinden sich im Krieg, begehen Morde, richten ihre Gegner vor laufender Kamera hin. Die junge Frau bekommt alle diese Gräueltaten hautnah mit und erzählt davon in ihren Audionachrichten. Als Leser können wir mitfühlen, dass Murad seine Lage kaum noch aushält und verzweifelt nach einem Weg sucht, um zu Naima zu gelangen.  

Fatah ist ein großartiger Roman gelungen, der in ruhiger, epischer Sprache einen brisanten politischen Stoff behandelt. Klug verknüpft er die existenziellen Nöte seines Protagonisten mit den großen geopolitischen Verwerfungen der Gegenwart und den ungelösten Auseinandersetzungen in den arabischen Ländern und angrenzenden Gebieten.  

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Fatah ist ein großartiger Roman gelungen, der in ruhiger, epischer Sprache einen brisanten politischen Stoff behandelt. Klug verknüpft er die existenziellen Nöte seines Protagonisten mit den großen geopolitischen Verwerfungen der Gegenwart und den ungelösten Auseinandersetzungen in den arabischen Ländern und angrenzenden Gebieten.  

Neben Murat und Dorothee gibt es eine Reihe interessanter Nebenfiguren, deren Charakterzüge Fatah ebenso mit sicherer Hand zeichnet. Es lohnt sich, dem Erzähler über 380 Seiten zu folgen, wie er mit faszinierender Genauigkeit Dinge, Landschaften und lange Autofahrten beschreibt und seine Protagonisten in ausgedehnte Dialoge treten lässt, ohne sich den Anforderungen eines Plot-Diktats zu beugen.  

Volker Kaminski 

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