"Zünde dein Leuchtfeuer an!”

Derwische auf einem Deckengemälde in einem Kulturzentrum in Masar-i-Sharif, Afghanistan
Derwisch-Abbildungen auf einem Deckengemälde in einem Kulturzentrum in Masar-i-Sharif, Afghanistan (Foto: Marian Brehmer)

Schon zu Rumis Lebzeiten machten Krieg und Unsicherheit den Menschen Angst. In seiner Dichtung können wir viel über die menschliche Natur lernen. Von Marian Brehmer

Von Marian Brehmer

Während am 17. Dezember 2023 hunderte von Menschen in das Mevlana-Museum von Konya strömten, um an der Gedenkzeremonie zu Rumis 750. Todestag in dessen Grabmal teilzunehmen, fielen zeitgleich im Minutentakt die Bomben auf Gaza und der Krieg in der Ukraine näherte sich seinem zweiten Jahrestag. Sag nicht: Alle führen Krieg, was bringt da schon mein Frieden? / Du bist nicht einer, sondern Tausende. Zünde dein Leuchtfeuer an!, dichtete Rumi einst in einem seiner Ghaselen — Verse, die nun einmal mehr aktuell erscheinen.  

“Alle führen Krieg” — auch wer zu Rumis Zeiten aufwuchs, mag den Eindruck gewonnen haben, die Welt ertrinke förmlich in vergossenem Blut. Wenige Jahre, nachdem Rumi mit seiner Familie das heimatliche Balch im heutigen Afghanistan verlassen hatte, fegten die Mongolen über die Region hinweg. Dschingis Khan zerstörte mit seinen Horden ganze Landstriche und Kulturen. 

Die Feldzüge der berittenen Mongolenkämpfer waren eine beispiellose Katastrophe in der damaligen islamischen Welt. Balch lag in Schutt und Asche. Später, als Rumi bereits in Anatolien lebte, drangen die Mongolen bis ins Seldschuken-Reich vor: Die Stadt Sivas ergab sich kampflos, Kayseri wiederum wurde 1242 von den Mongolen eingenommen und dem Erdboden gleich gemacht. Konya blieb verschont, was später in der Heiligenliteratur der Gegenwart Rumis in der Stadt zugeschrieben wurde.  

In einem Gedicht des Diwan-e Schams verkündete Rumi später: Die Menschen fliehen vor den Mongolen / Wir dienen dem Schöpfer der Mongolen. Der Vers ist ein gutes Beispiel für Rumis Perspektive der Einheit allen Daseins, die unberührt bleibt vom ständigen Kampf der Gegensätze in unserer Welt. Er zeigt auch den unerschütterlichen Gleichmut eines Mystikers, der sich in seinem Inneren eine Quelle von Vertrauen und Gewissheit erschlossen hat, die durch keinen äußeren Umstand zum Versiegen gebracht werden kann — auch nicht durch einen drohenden Krieg.  

Vom Theologen zum Mystiker

Wie gelangte Rumi zu dieser Einheitsperspektive, in der es weder Freund noch Feind gibt? Den Wandel vom verstandesbetonten Theologen zum liebestrunkenen Mystiker verdankte Rumi seinem spirituellen Gefährten Schams al-Tabrizi. Als Schams in dessen Leben trat, gab Rumi — damals ein 37 Jahre alter Prediger und Korangelehrter — jegliche Lehrtätigkeit auf. 

Es wird gesagt, dass sich die beiden monatelang zurückzogen, wobei Schams Rumi seine Weisheit übertrug und ihn über den Verstand hinaus in Welten führte, die sich dem gewöhnlichen Denken entziehen. Schams machte mit Rumi, was dieser später im Masnawi von seinen Schülern einforderte: Verkauf deine Klugheit und kaufe Verwirrung! / Klugheit ist Meinung, doch Verwirrung ist Vision.  

Doch der entscheidende Reifungsprozess wurde erst durch Schams plötzliches Verschwinden angestoßen. Zwei Mal verließ Schams Konya ganz plötzlich, und beim zweiten Mal sollte er nie wiederkehren. Für Rumi war die Ungewissheit, ob er seinen geliebten Freund noch einmal wiedersehen würde oder nicht, unerträglich. Später lehrte Rumi, wie das ängstliche Verlangen nach Gewissheit und Sicherheit dem Menschen auf seiner spirituellen Reise im Weg steht: All deine Ungewissheit kommt von deinem Verlangen nach Gewissheit. / Verlange Ungewissheit, dann wird Gewissheit zu dir kommen. 

Der Schmerz der Trennung von Schams war für Rumi wie ein Feuer, das alles an ihm, was noch “roh” war, auf lodernder Flamme zum Kochen brachte. Letztlich begriff Rumi, dass Schams in Wirklichkeit nie von ihm getrennt ist. Er überwand den Verlust seines Freundes, integrierte dessen Lehre und lebte fortan in einem Zustand der vollkommenen Einheit mit allem, was ist. Die Sufis nennen einen solchen Meister insān-i kāmil, einen "vollkommenen Menschen“, der sein Potenzial in dieser Welt ganz entfaltet hat.   

Sarkophag im Rumi-Mausoleum in Konya, Türkei
Mehr als ein "Botschafter der Toleranz": Sarkophag in Rumis Mausoleum in Konya, Türkei. Unter Rumis Schülern waren auch Christen, die den Weisheitslehrer nach seinem Begräbnis als “Jesus unserer Zeit” gewürdigt haben sollen. (Foto: Marian Brehmer)

Mehr als ein "Botschafter der Toleranz"

Rumi wurde so zu einem Leuchtfeuer, das Menschen aller Kulturen und Glaubensrichtungen im damaligen Konya anzog — tatsächlich waren unter seinen Schülern auch Christen, die den Weisheitslehrer nach seinem Begräbnis als “Jesus unserer Zeit” gewürdigt haben sollen. Das ist bemerkenswert und zeigt, dass es zu kurz greift, Rumi einfach nur als “Botschafter der Toleranz” zu bezeichnen, wie er heute oft genannt wird. 

Schließlich impliziert das Wort “Toleranz”, dass es etwas Andersartiges gibt, welches toleriert wird; egal, ob es sich dabei um eine fremde Weltanschauung, ein anderes Gottesbild oder eine gegnerische politische Meinung handelt. Für Rumi jedoch waren diese Trennungen aufgehoben. Er konnte sich selbst in jedem Menschen erkennen und nahm in allem zuerst den göttlichen Wesenskern wahr.  

Spannungen und Konflikte unter den Menschen, erinnert uns Rumi, beruhen auf dem Paradigma der Trennung — also zwei zu sehen, wo in Wirklichkeit nur eins besteht. Besonders zwischen den Religionen entstehen immer wieder Kriege um Namen und Formen, obgleich all diesen äußeren Erscheinungen letztlich eine untrennbare Einheit zugrunde liegt.

Auch der iranische Nationaldichter Hafis, der im Jahrhundert nach Rumi lebte, hatte dies erkannt: Verzeiht den Krieg der 72 Sekten — da sie die Wahrheit nicht erkannt haben, begaben sie sich auf den Weg der Fantasie.  

Wandmalerei in Masar-e Scharif mit Konterfei Rumis
Von Afghanistan bis in die Türkei: Rumi wird quer durch die Region bis heute verehrt. Wandmalerei in Masar-e Scharif mit dem Konterfei Rumis (Foto: Marian Brehmer)

Mangel an Demut

Besonders anschaulich wird dieses Problem in einer Masnawi-Geschichte, welche von einem Araber, einem Griechen, einem Perser und einem Türken handelt, die mit einem Dirham auf dem Markt einkaufen gehen wollen. Ein bitterer Streit bricht aus: Der Araber möchte “anab” erstehen, während es der Grieche auf “istafil” abgesehen hat, der Perser sich nach “angur” sehnt und der Türke “üzüm” kaufen will.  

Ein Vorbeigehender, der aller vier Sprachen mächtig ist, nimmt den Streithähnen ihren Dirham weg und kehrt kurze Zeit später mit einer Hand voll Weintrauben zurück. Die vier Freunde sind begeistert: Genau das wollte ich! Darauf erklärt der Schlichter, dass sie doch alle dasselbe wollten, sich nur nicht verstanden hatten.  

Die Moral der Geschichte fasst Rumi so zusammen: Die Uneinigkeit unter den Menschen wird durch Namen verursacht / Frieden entsteht, wenn sie zum inneren Sinn vordringen. Erschwert wird die Erkenntnis des inneren Sinns durch die nafs, jene egoistische Kraft im Menschen, die ihn in die Zweiheit führt und zum Schlechten anstiftet. Rumi vergleicht die nafs mit einem schlafenden Drachen, der nur auf eine Gelegenheit wartet, zum Vorschein zu kommen.  

Eine der Ausprägungen der “Triebseele”, wie sie manchmal in Übersetzungen von Sufi-Werken genannt wird, ist Arroganz und ein Mangel an Demut — ein Problem, das in unserer modernen Debattenkultur häufig sichtbar wird. So dichtet Rumi im Masnawi: Es gibt kein schlimmeres Übel in deiner Seele, du Hochmütiger, als die Einbildung der Vollkommenheit. 

Kalligraphie eines Rumi-Verses.
Kalligraphie eines Rumi-Verses: "Wenn es um die Fehler anderer geht, dann spaltest du Haare / Doch sobald du bei deinem eigenen Fehler ankommst, bist du ahnungslos." (Foto: Marian Brehmer)

Gegen Dogmatismus und Fanatismus

Rumi wandte sich entschieden gegen jegliche Formen von Dogmatismus und Fanatismus, und erkannte, wie diese in der Geschichte der Menschheit immer wieder zu neuen Kriegen und Konflikten führen. Gegensätze zwischen den Menschen und ihren Anschauungen sah er als Ausdrucksformen der vielseitigen Manifestation des Göttlichen auf Erden.  

Doch so lange die Menschen in ihrem Inneren zersplittert sind — will heißen, so lange in ihnen ein Krieg der gegensätzlichen Stimmen und Impulse herrscht — solange wird es auch im Außen keinen Frieden geben können.  

Dieser Zusammenhang ist in der heutigen Zeit wohl eine der wichtigsten Erkenntnisse aus Rumis Lehre; zu verstehen, dass Frieden in der Welt letztlich nur durch eine Transformation des menschlichen Bewusstseins herbeigeführt werden kann. Dass dieser Wandel möglich ist, daran erinnert uns Rumi immer wieder. 

Dies macht ihn zu einer zeitlosen Figur, dessen Worte auch nach siebeneinhalb Jahrhunderten weiterhin Millionen Herzen berühren. Rumi spornt uns an, die Suche nach Erfüllung in der sich ständig wandelnden äußeren Welt aufzugeben und stattdessen die Reise in uns selbst anzutreten, die uns zum Schatz in unserem Inneren führt: Reise von dir selbst zum Selbst! Denn durch diese Reise verwandelte sich Staub in eine Goldmine.  

Marian Brehmer  

© Qantara.de 2024   

Ende der Reihe zu Rumis 750. Todestag 

Marian Brehmer hat Iranistik studiert und schreibt als freier Autor mit dem Schwerpunkt islamische Mystik. Er ist Autor des Buches „Der Schatz unter den Ruinen: Meine Reisen mit Rumi zu den Quellen der Weisheit” (Herder, 2022), ein spiritueller Reisebericht, der von Begegnungen mit Sufis, Suchenden und Weisen in Afghanistan, Iran, Syrien und der Türkei erzählt.