"Tatsächlich vertraue ich den Aussagen der Hamas"

Israeli author David Grossman attends an awards ceremony at the French consulate headquarters in Jerusalem
„Frieden ist die einzige Option“: Der renommierte, israelische Schriftsteller David Grossman kämpft für das Ende der israelischen Besatzung der palästinensischen Gebiete. (Foto: GIL COHEN-MAGEN/AFP)

Der israelische Schriftsteller David Grossman hält auch nach dem Massaker vom 7. Oktober an der Zweistaatenlösung fest. Die Israelis seien dazu verdammt, mit der Hamas Geschäfte zu machen.

Interview von Julia Encke

Der israelische Schriftsteller David Grossman gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart. Am Donnerstag (29.1.2024) ist er siebzig Jahre alt geworden. „Frieden ist die einzige Option“ heißt das Buch, das jetzt im Hanser Verlag erscheint. Es ist eine Sammlung von Reden und Zeitungsartikeln, die Grossman in den vergangenen Jahren und Monaten, auch nach dem Massaker der Hamas in Israel, gehalten und geschrieben hat.

Herr Grossman, gerade hat der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die Darstellung von US-Präsident Joe Biden zurückgewiesen, eine Zweistaatenlösung sei mit ihm realistisch. Sicherzustellen, dass der Gazastreifen keine Bedrohung für ­Israel darstelle, stehe im Widerspruch zur Forderung nach palästinensischer Souveränität. Sie waren immer ein Verfechter der Zweistaatenlösung. Haben Sie noch Hoffnung, dass sie sich realisieren lässt?

David Grossman: Ich denke mehr noch als zuvor, dass die einzige mögliche Lösung die Zweistaatenlösung ist.

Warum?

Grossman: Diejenigen, die den binationalen Staat befürworten, sollten aufwachen und verstehen, dass diese beiden Völker, die Israelis und die Palästinenser, keine politische Einheit bilden können. Tatsächlich vertraue ich den Aussagen der Hamas. Sie meinen, was sie sagen. Sie erklären offen, dass Israel ausgelöscht werden sollte. Sie haben am 7. Oktober damit begonnen. Deshalb müssen wir sie ernst nehmen. Wenn wir eine Zukunft haben wollen, ist es unvermeidlich, Vereinbarungen mit ihnen zu treffen. Aber natürlich wird jede Vereinbarung zwischen uns und ihnen auf Unsicherheiten beruhen. Es wird viel Misstrauen geben. Es ist nicht leicht, zu akzeptieren, dass wir dazu verdammt sind, mit der Hamas Geschäfte zu machen. Wir wurden von ihnen so brutal angegriffen, und wir wissen, dass sie jede Möglichkeit nutzen werden, um Israel zu schaden.

Und doch halten Sie Vereinbarungen für möglich?

Grossman: Es gibt keinen anderen Weg, als zu versuchen, zwischen uns und ihnen eine Art Dialog herbeizuführen. Wir hoffen, dass es für sie nie wieder eine Gelegenheit wie die des 7. Oktober geben wird, was bedeutet, dass wir die ganze Zeit auf der Hut sein werden. Es ist ein gefährlicher Geisteszustand. Unsere vollständige Existenz oder der größte Teil davon wird eingeschränkt, weil wir ständig auf der Hut sein und nach Signalen oder Anzeichen für Hinweise auf etwas suchen müssen, das für uns gefährlich sein könnte. Wir sind verloren. Wir hofften, wie Athen zu leben, und mussten feststellen, wir leben wie Sparta. Unsere Herausforderung als Gesellschaft wird darin bestehen, uns vorzusehen und den Wunsch nach einem erfüllteren Leben zugleich wachzuhalten.

Ein schmerzhafter Deal

Was die Hamas verlangt, ist kein humanitärer Waffenstillstand, sondern ein vollständiger Rückzug der israelischen Armee aus dem Gazastreifen und die Freilassung Tausender palästinensischer Gefangener, darunter Mörder von Zivilisten. Viele Israelis und die große Mehrheit der Familien der Geiseln sind davon überzeugt, dass dieses schmerzhafte Abkommen geschlossen werden muss.

Grossman: Leider gibt es im Moment keinen anderen Weg, und es gibt keinen Grund für die Hamas, ihre Position aufzuweichen, weil sie ein solches Kapital in ihren Händen hat, nämlich die 136 Geiseln, darunter Kinder, ein Kind im Alter von einem Jahr, Kfir Bibas, und sein Bruder Ariel Bibas, der vier Jahre alt ist. Gestern habe ich ein Schlaflied für sie aufgenommen, in der Hoffnung, dass sie es irgendwie hören werden.

Ein Schlaflied?

Grossman: Ja, denn es gab einige Fälle in diesem Konflikt vom 7. Oktober, in denen Lieder oder Worte, Stimmen, die an die Geiseln gerichtet waren, von ihnen gehört wurden. Sie hatten Radios und haben sie gehört.

Das erinnert an Ihren Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“. „Hallo, Israel, Heimat? Existierst du noch?“, flüstert darin der schwer ­verletzte Avram während des Jom-Kippur-Kriegs auf verlorenem Posten in sein Funkgerät, kurz bevor er in ägyptische Gefangenschaft gerät und tagelang gefoltert wird, weil er zu einer Einheit des Nachrichtendienstes gehört. Nur ein paar Kilometer weiter hört Ilan, sein bester Freund, seine Stimme.

Grossman: Wir hoffen, dass sie vielleicht die Melodie des Wiegenliedes hören. Vielleicht wird es sie auf eine Art trösten, ich weiß nicht wie, aber okay. Können wir aufgeben? Was Israel in Gaza getan hat, das ist auch für mich schrecklich. Aber es ist für mich eine andere Form des Schreckens. Was wir am 7. Oktober erlebt haben, ist etwas noch nie Dagewesenes. Zumindest für uns. Die Snuff-Videos habe ich nicht gesehen, aber man muss sie auch nicht sehen, um von Düsternis und Verzweiflung überwältigt zu werden angesichts dessen, was Menschen einander antun können.

In Israel fühlen sich viele Menschen in der Bevölkerung auch von der eigenen Regierung verraten.

Grossman: Wer hat diese Situation geschaffen? Wir waren es nicht. Aber dieses Land hat seine Bürger verraten, es hat sie nicht geschützt. Das Leben der Bürger zu schützen, gehört zu den wichtigsten Aufgaben, die ein Staat hat. Und Israel hat es versäumt, dies zu tun.

Undemokratische Symptome

Sie nennen in Ihrem jetzt in Deutschland erscheinenden Buch „Frieden ist die einzige Option“ die Besatzung ein „Verbrechen“ und bezweifeln, ob Israel es noch verdient, eine Demokratie genannt zu werden.

Grossman: Auf der einen Seite sind wir eine Demokratie. Wir haben Redefreiheit, Berufsfreiheit, Versammlungsfreiheit. Ich kann die übelsten Dinge über unseren Premierminister schreiben, und sie werden auf der ersten Seite der nächsten Zeitungsausgabe veröffentlicht. Demokratie ist sehr tief in der israelischen Tradition verwurzelt, aber wenn man ein anderes Volk besetzt, vor allem für so lange Zeit – wir reden von über 56 Jahren, können Sie sich das vorstellen? –, dann kann man nicht mehr wirklich von Demokratie sprechen. Die Demokratie entstand aus der edlen Idee, dass jeder Mensch gleichberechtigt mit einem anderen Menschen geboren wird. Wenn man ein anderes Volk unterdrückt, fängt man aber unweigerlich an, zu glauben, dass die Menschen nicht alle gleich seien. Dass es Menschen gebe, die wertvoller seien als andere. All das sind undemokratische Symptome. Sie sind für mich auch ein Grund, für das Ende der Besatzung zu kämpfen, denn ich habe das Gefühl, dass diese verdorbene Geisteshaltung, ein Besatzer und gleichzeitig ein Demokrat zu sein, uns lebendig auffrisst.

2021 haben Sie anlässlich einer Demonstration auf dem Habima-Platz in Tel Aviv eine Rede gehalten. Der echte Kampf finde nicht zwischen Arabern und Juden statt, sondern auf beiden Seiten zwischen jenen, „die danach streben, in Frieden und in einer fairen Partnerschaft zusammenzuleben, und denen, die sich seelisch und ideologisch von Hass und Gewalt nähren“, haben Sie dort gesagt. Ist das noch so?

Grossman: Gott sei Dank sind die meisten Palästinenser nicht die Hamas. Und ich glaube, es gibt sogar Palästinenser, die sich für das schämen, was die Hamas in ihrem Namen getan hat. Ich bin nicht naiv. Ich weiß, dass viele Palästinenser mit dem Angriff wirklich zufrieden sind, das haben sie auch öffentlich gesagt. Aber es gibt auch andere Palästinenser, die die Brutalität des Geschehens als Zeichen für etwas sehr Schlimmes sehen, das der palästinensischen Gesellschaft widerfährt.

Die Ära von Netanjahu gilt als erledigt, aber wie soll sie enden?

Grossman: Netanjahu ist ein sehr gerissener und manipulativer Politiker, der nicht so leicht aufgeben wird. Er ist abhängig von den extremsten messianischen Kräften im Land. Aus diesem Grund wird die Politik Israels immer aggressiver.

Unmittelbar nach dem Hamas-Überfall am 7. Oktober hat Israels Regierung versucht, die US-Regierung zur Unterstützung zu einem Präventivschlag auch gegen die Hizbullah zu bewegen. Dazu kam es zum Glück nicht. Sehen Sie trotzdem die Gefahr, dass der Konflikt sich noch ausweitet?

Grossman: Ja, das ist eine sehr gute Frage. Ich bin mir nicht sicher, ob ich eine Antwort habe, aber wie Sie sagten, wurde uns glücklicherweise die schreckliche Option eines Konflikts mit mehreren Feinden erspart, indem der Konflikt sich bisher nicht auf die Hizbullah und vielleicht auf Iran und vielleicht auf die Westbank ausgedehnt hat. Und wie Sie sagen, zum Glück und wahrscheinlich aufgrund von Kabinettsmitgliedern wie Gadi Eisenkot und Benny Gantz, den beiden gemäßigteren und verantwortungsbewussten Erwachsenen im Raum. Denn wenn wir mit solchen Schlägen anfangen sollten, würde das unweigerlich einen Mehrfrontenkrieg nach sich ziehen. Und wir sind auf einen solchen Krieg nicht vorbereitet, vor allem nach der Erschöpfung durch den Krieg im Gazastreifen.

Kritik an Israel ja, aber keine Delegitimierung

Welche Rolle kann und soll Europa, welche Deutschland spielen?

Grossman: Vor dem Hintergrund der totalen Delegitimierung Israels in einigen europäischen Ländern und an den amerikanischen Universitäten war die Unterstützung des deutschen Botschafters sehr entschlossen und direkt, so, wie es sein sollte, denke ich. Er heißt Steffen Seibert.

Er ist in Deutschland sehr bekannt, er war zuvor Fernsehmoderator und Regierungssprecher von Angela ­Merkel. Sind Sie ihm begegnet?

Grossman: Ja, ich kenne ihn und bin zutiefst beeindruckt von ihm.

In Deutschland gibt es in der gesellschaftlichen Debatte einander gegenüberstehende Lager. Die einen werfen den anderen vor, der historischen Verantwortung gegenüber Israel nicht gerecht zu werden, die anderen wiederum kritisieren, dass die historische Verantwortung gegenüber Israel nicht blind machen dürfe für das Leid der palästinensischen Bevölkerung. Was raten Sie den Deutschen?

Grossman: Wissen Sie, manchmal höre ich hier Leute sagen, dass die Israelis den Palästinensern das antun, was die Deutschen uns im Zweiten Weltkrieg angetan haben. Ich denke, das ist falsch, aber ich glaube, dass etwas Komplizierteres wahr ist und es mit dem zu tun hat, was man uns angetan hat. Wir sind deshalb nicht in der Lage, wirklichen Frieden zu schließen. Das Gefühl des tiefen Misstrauens und der Verletztheit muss geheilt werden, bevor wir in der Lage sind, Frieden mit den Palästinensern zu schließen. Hier geht gerade die Sirene los . . .

Sollen wir unterbrechen?

Grossman: Nein, es scheint kein Alarm zu sein. Was ich sagen wollte: Israel kann kritisiert werden und sollte manchmal sogar kritisiert werden. Aber es sollte nicht delegitimiert werden. Es sollte keine Zielscheibe für Stimmen sein, die dazu aufrufen, Israel zu vernichten. Wir hören es immer wieder, Massendemonstrationen, Tausende oder Hunderttausende von Menschen, die den Tod Israels fordern, die Zerstörung. Kein anderes Land der Erde hat solche Stimmen gegen sich. Nicht einmal das schreckliche, grausame Nordkorea, nicht der Irak zur Zeit Saddam Husseins, nicht Russland, das die Ukraine vergewaltigt. Niemand sagt, lasst uns Russland abschaffen, lasst uns den Irak abschaffen. Diese Rufe gibt es nur, wenn es um Israel geht.

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Und hier setzt die Verantwortung der Deutschen ein?

Grossman: Ja. Die moralische Verantwortung der Deutschen gegenüber Israel ist es, die Legitimation zu betonen und daran zu erinnern, auf die Nuancen der Situation zu achten. Es gibt so viele Nuancen. Jeder, der Ihnen sagt, dass er oder sie das Pro­blem sofort lösen könne, weiß nicht, wovon er spricht. Es wird Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, bis wir anfangen, uns zu erholen. Von der langen Besatzung und von dem schrecklichen Massaker. Und noch einmal, ich vergleiche die beiden nicht. Ich denke, dass beides zwei völlig verschiedene Realitäten sind.

Als Sie im November eine Trauer­rede für die Terroropfer gehalten haben, haben Sie am Ende die Möglichkeit eines neuen Anfangs beschworen, es könnte möglich sein, zum „zweiten Mal einen neuen Staat aufzubauen“. Was meinten Sie?

Grossman: Ich habe gesagt, dass Israel für uns, die Israelis, immer noch kein Zuhause sein kann. Es ist eher eine Festung. Die Tragödie ist, dass wir nicht einmal mehr wissen, ob es eine Festung ist. Wie wir gesehen haben, sind wir sehr zerbrechlich, sehr schwach, verletzlich.

Wie kann es ein Zuhause werden?

Grossman: Wir müssen Israel als einen reifen demokratischen Staat neu erschaffen. Erstens glaube ich, dass wir kluge und mutige Führer auf beiden Seiten brauchen, auf der Seite Israels und auf der der Palästinenser. Nur wenn diese beiden in der Lage sind, miteinander zu reden, können wir diese Gesellschaft wiederherstellen und verstehen, welchen Preis wir dafür zahlen, wenn wir kein völlig demokratisches Land sind. Das ist eine große Herausforderung. Und selbst jetzt, während ich mit Ihnen spreche, frage ich mich: Wie können wir das schaffen? Ich bin mir nicht sicher, ob ich eine Antwort habe.

Schaffen Sie es, in diesen Tagen etwas zu schreiben, oder ist es unmöglich?

Grossman: Es ist unmöglich und doch unvermeidlich. Nur wenn ich schreibe, atme ich mit beiden Lungenflügeln. Wenn ich nicht schreibe, bin ich den Gräueltaten völlig ausgeliefert. Ganz am Anfang rebelliere ich dagegen, und ich sage mir, wie kannst du eine Geschichte über dieses und jenes schreiben, während die Welt zusammenbricht, und dann, nach einer Weile, fühle ich, dass es mich belebt. Das Schreiben revitalisiert. Ich vergleiche es manchmal mit jemandem, der einen Anker nimmt und ihn in die Zukunft wirft – und dann beginnt, sich selbst mit aller Kraft zum Anker hin in die Zukunft zu ziehen.

Interview: Julia Encke

© F.A.S. 2024