Rache auf Raten: US-Militärschläge gegen Milizen im Nahen Osten

Unter Druck: US-Präsident Joe Biden
Unter Druck: US-Präsident Joe Biden (Foto: Jonathan Ernst/REUTERS)

Seit dem Beginn des Gaza-Krieges artet die Lage im Nahen Osten zunehmend aus. Sorgt das für Ruhe oder Krieg mit dem Iran? Von Christiane Jacke und Johannes Sadek, dpa

Washington/Damaskus/Bagdad. In der Nacht zum Samstag schlagen die Amerikaner erst im Irak und in Syrien zu. Das US-Militär feuert auf Stellungen proiranischer Milizen in beiden Ländern. Es ist die Vergeltung für eine tödliche Attacke auf US-Soldaten. Etwa 24 Stunden später folgt eine weitere Aktion: In der Nacht zum Sonntag fliegen Streitkräfte der USA und Großbritanniens Luftschläge gegen Ziele der Huthi-Miliz im Jemen, die ebenfalls von Teheran unterstützt wird. 

Die Serie an Militärschlägen ist eine Machtdemonstration der USA und ihrer Partner - und der Versuch, dem zunehmenden Kontrollverlust im Nahen Osten etwas entgegenzusetzen. Ob das Erfolg hat, ist offen. Klar ist nur, dass weitere US-Militärschläge folgen werden. Wie groß ist die Gefahr eines neuen Krieges mit dem Iran?

Die Eskalationsspirale

Am vergangenen Sonntag waren bei einem Drohnenangriff proiranischer Milizen in Jordanien, nahe der syrischen Grenze, drei amerikanische Soldaten getötet und zahlreiche weitere verletzt worden. US-Präsident Joe Biden kündigte danach sofort Vergeltung an, ließ sich mit dem Gegenschlag aber mehrere Tage Zeit. Er stand vor der schwierigen Aufgabe, eine Balance zu finden: Die von Teheran unterstützten Kräfte in der Region abzuschrecken, ohne dabei noch härtere Reaktionen zu
provozieren; Stärke zu zeigen, ohne die Lage im Nahen Osten komplett zu eskalieren und einen Krieg mit dem Iran zu riskieren. 

Seit dem Beginn des Gaza-Krieges zwischen Israel und der islamistischen Hamas im Oktober artet die Lage in der Region zunehmend aus. Während Israel die Hamas im Gazastreifen bekämpft, kommt es in der israelisch-libanesischen Grenzregion fast täglich zu Angriffen zwischen Israel und der Schiitenmiliz Hisbollah. Gleichzeitig tyrannisiert die jemenitische Huthi-Miliz, die ihre Solidarität mit der Hamas erklärt hat, die internationale Container-Schifffahrt im Roten Meer. Alle drei Gruppen – Hamas, Hisbollah und Huthi - sind eng mit dem Iran verbunden. Und der Gaza-Krieg wird mehr und mehr zu einem Schattenkonflikt nicht nur zwischen Israel und dessen Erzfeind Iran, sondern auch zwischen Washington und Teheran. 

Der Iran und die USA standen in der Vergangenheit immer wieder am Rande eines Krieges. Je tiefer die USA nun in die neuen Konfrontationen mit dem Iran und dessen Verbündeten gezogen werden, desto größer ist die Gefahr, dass diese eine Eigendynamik entwickeln - unabhängig vom Gaza-Krieg, auch wenn dieser der Auslöser war.

Der erste Teil der Vergeltung

Biden entschied sich bei dem Vergeltungsschlag für einen Mittelweg. 30 Minuten lang feuerten amerikanische Streitkräfte in der Nacht zum Samstag aus der Luft auf mehr als 85 Ziele an sieben Standorten im Irak und in Syrien: Kommandozentralen, Geheimdienststandorte und Waffenlager, die demnach von den iranischen Revolutionsgarden (IRGC) und mit ihnen verbundenen Milizen genutzt wurden. Die Serie an Luftschlägen bedeutet eine neue Eskalation im Nahen Osten - auch wenn die Amerikaner bewusst darauf verzichteten, Ziele im Iran selbst anzugreifen. Doch Biden macht klar: Dies ist nur der Anfang. 

Die Reaktion der USA habe erst begonnen, erklärt er nach den Luftschlägen im Irak und in Syrien. «Sie wird fortgesetzt zu Zeiten und an Orten unserer Wahl.» US-Regierungsvertreter hatten bereits vorab angekündigt, die Vergeltung werde in mehreren Schritten erfolgen. Wann, wo und wie die Amerikaner als Nächstes zuschlagen, dürfte davon abhängen, was der Iran und dessen verbündete Milizen nun tun.

Mehr als 160 Mal griffen proiranische Gruppen seit Mitte Oktober die US-Stützpunkte im Irak und Syrien an, das US-Militär reagierte mehrfach. In dieser Spirale aus Angriffen und Gegenschlägen ist unwahrscheinlich, dass die Attacken proiranischer Milizen jetzt einfach aufhören. Gefährlich werden könnte es besonders dann, wenn durch eine erneute Attacke von Milizen - etwa durch schlechte Planung oder Ausführung - eine noch größere Zahl US-Soldaten getötet würde. Danach wäre ein direkter Angriff auf Irans Revolutionswächter denkbar - und damit eine dramatische Ausweitung des Konflikts. 

«Die Vereinigten Staaten streben keinen Konflikt im Nahen Osten oder irgendwo sonst in der Welt an», betont Biden. «Aber all jene, die uns Schaden zufügen wollen, sollen dies wissen: Wenn Sie einem Amerikaner Schaden zufügen, werden wir darauf reagieren.»

Die Luftschläge gegen die Huthi

Das bekommen auch die Huthi zu spüren. Nur einen Tag nach den Luftschlägen im Irak und in Syrien feuern Streitkräfte der USA und Großbritanniens gemeinsam auf Stellungen der Miliz im Jemen: 36 Ziele an 13 Orten. Es ist bereits der dritte gemeinsame britisch-amerikanische Militäreinsatz in den vergangenen Wochen gegen die Huthi. Deren Militärsprecher Jahja Sari spricht von 48 US-britischen Luftangriffen im Jemen und kündigt als Antwort eine «Bestrafung» an.

Bei den Huthi-Attacken auf Handelsschiffe wurden bislang zwar weder Zivilisten noch US-Soldaten getötet. Die Schäden und Brände an mehreren Schiffen haben den wichtigen Seeweg über das Rote Meer und den Suezkanal, über den etwa 15 Prozent des Welthandels laufen, aber empfindlich getroffen. Große Reedereien meiden die sehr gefährlich gewordene Route und nehmen den langen, teureren Umweg über das Horn von Afrika in Kauf.

Die Huthi geben sich nach den Luftschlägen unbeeindruckt. Ein Karikaturist zeichnet deren Anführer Abdul-Malik al-Huthi, der sich von den USA - verkörpert durch «Uncle Sam» - mit einer Feder unter dem Arm kitzeln lässt. Für die Miliz, die nach bald zehn Jahren Bürgerkrieg weite Gebiete des Jemen beherrscht, kommen die US-Angriffe sogar gelegen. Sie können sich erneut zeigen als Rebellen, die einem mächtigen Aggressor von außen die Stirn bieten.

Ihre Solidarität mit der Hamas ist auch nur ein Grund für ihre Angriffe in der Region. Vor allem geht es ihnen darum, im Jemen und in der Region mehr Anerkennung zu finden. Der Irak und Syrien wiederum verurteilen die Angriffe auf ihrem Boden. Absprachen habe es vorher nicht gegeben, heißt es aus Bagdad. Die Diskussion über einen möglichen Abzug der rund 2500 im Land stationierten US-Soldaten ist längst neu entfacht. Auch die iranische Führung verurteilt die US-Luftschläge scharf und spricht von einer «strategischen Fehlkalkulation», die nur zu noch mehr Spannungen in der Region führen werde.

Der Druck auf Biden in der Heimat

Nichtstun war für Biden jedoch keine Option. Mit dem Tod der drei US-Soldaten wurde eine neue Dimension erreicht. Der Präsident stand unter großem Druck, nun härter als zuvor zurückzuschlagen. Der Demokrat steckt mitten im Wahlkampf für eine zweite Amtszeit. Republikaner hatten ihm zuletzt Schwäche vorgeworfen und ihn aufgefordert, endlich durchzugreifen. Und sie geben keine Ruhe: Mehrere republikanische Kongressmitglieder werten die Luftschläge als unzureichend, zu spät, zu lasch. Scharfmacher wie der republikanische Senator Lindsey Graham hatten einen US-Angriff auf iranischem Boden gefordert. Das wäre der drastischste und wohl folgenreichste Schritt gewesen, gegen den sich Biden bewusst entschied. Zumindest vorerst. (dpa)