Ungewissheit bis zuletzt

Die Annäherung Armeniens und der Türkei gestaltet sich schwierig. Die kürzliche Unterzeichnung der Vereinbarung über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen wäre fast gescheitert. Michael Ludwig berichtet.

Die Annäherung Armeniens und der Türkei gestaltet sich schwierig. Die kürzliche Unterzeichnung der Vereinbarung über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen wäre fast gescheitert. Einzelheiten von Michael Ludwig

Vertragsunterzeichnung zwischen Armenien und der Türkei; Foto: AP
Historische Wende: Nach einem Jahrhundert der Feindschaft haben die Türkei und Armenien ein Abkommen unterzeichnet, das unter anderem die Öffnung der gemeinsamen Grenze vorsieht.

​​Als der Südkaukasus vor einem Jahr vom Krieg zwischen Georgien und Russland erschüttert wurde, hatte eine andere Entwicklung schon begonnen, die am letzten Wochenende (10./11. Oktober) in Zürich einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat - die Annäherung Armeniens und der Türkei.

Nach monatelangen Geheimverhandlungen unter Vermittlung der Schweiz haben die Außenminister beider Länder am vergangenen Samstag zwei Protokolle unterzeichnet, die den Weg zu gutnachbarschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern ebnen sollen.

Schatten der Vergangenheit

Diplomatische Beziehungen hatten sie wegen des Streits über die Massaker an etwa 1,5 Millionen Armeniern im Osmanischen Reich 1915 erst gar nicht aufgenommen, nachdem die Türkei 1991 als einer der ersten Staaten das unabhängige Armenien anerkannt hatte; wegen des armenisch-aserbaidschanischen Kriegs um die von Armeniern bewohnte Exklave Nagornyj Karabach in Aserbaidschan hatte die Türkei zudem 1993 die gemeinsame Grenze geschlossen.

Plakat mit den Fotos der Überlebenden des Massakers an den Armeniern in Eriwan; Foto: AP
Neben der Öffnung der Grenze zwischen den Nachbarländern soll auch das Massaker an Armeniern im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs durch eine Expertenkommission untersucht werden.

​​Bis zur letzten Minute blieb es am letzten Samstag ungewiss, ob es zu der angekündigten Unterzeichnung der Anfang September veröffentlichten Protokolle kommen würde, zu der die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton eigens nach Zürich gereist war.

Dem Vernehmen nach wollten die Türken versuchen, den in den Protokollen nicht erwähnten Streit über Nagornyj Karabach und die armenische Besetzung von sieben aserbaidschanischen Bezirken in der Umgebung der Exklave in einer Schlussbemerkung anzusprechen.

Die Türkei hat Aserbaidschan in diesem Konflikt bisher stets unterstützt. Sie stärkte mit ihrer Blockadepolitik gegenüber Armenien Aserbaidschan den Rücken, während das von Handelsbarrieren umgebene Armenien auf die Schutzmacht Russland angewiesen blieb. Alle wichtigen Verkehrs- und Infrastrukturprojekte im Südkaukasus umgingen bisher Armenien.

Neuorientierung der türkischen Außenpolitik

Im Zuge einer Neuorientierung der türkischen Außenpolitik in der Region in den vergangenen Jahren kehrte Ankara von seinem früheren pantürkischen Ansatz für seine Politik im postsowjetischen Raum ab.

Bestimmend sollte fortan die Anbahnung problemfreier Beziehungen zu allen Nachbarn werden. Wegen der türkisch-armenischen Annäherung war es in den Beziehungen zwischen Ankara und Baku darauf zu ernsthaften Verstimmungen gekommen.

Türken demonstrieren gegen die Ratifizierung der Protokolle; Foto: AP
Widerstand gegen die Ratifizierung: Während die Armenier vom "ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts"</wbr> sprechen, sieht die Türkei diese Ereignisse als Unruhen im Zuge der Auflösung des Osmanischen Reichs.

​​Die von der Türkei ursprünglich genannte Vorbedingung, dass es vor der Unterzeichnung der Protokolle zumindest zu Fortschritten bei der Lösung des Karabach-Konflikts kommen müsse, wurde sehr zum Unmut der aserbaidschanischen Führung bald wieder fallengelassen.

Aserbaidschan drohte mit dem Abzug aserbaidschanischer Investitionen in der Türkei oder der Umorientierung seiner Öl- und Gasaußenpolitik zum Nachteil Ankaras.

Als sich die Öffnungspolitik der Türkei und Armeniens, die mit einem gemeinsamen Besuch des Fußball-WM-Qualifikationsspiels Armenien-Türkei in Eriwan durch die beiden Präsidenten vor einem Jahr begonnen hatte, im Frühjahr konkretisierte, versuchte der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan die Aseris bei einem Besuch in Baku noch mit der Versicherung zu beruhigen, dass die Grenze erst dann geöffnet werde, wenn Armenien die Besetzung der aserbaidschanischen Gebiete aufgegeben habe.

Das bekräftigte er auch am vergangenen Sonntag nochmals, doch der aserbaidschanischen Führung reicht diese Zusicherung nicht.

Zankapfel Berg-Karabach

Nachdem es - nach aserbaidschanischer Darstellung - den Präsidenten von Aserbaidschan, Ilham Alijew, und von Armenien, Sersch Sarkisjan, nicht gelungen war, Fortschritte bei der Lösung des Karabach-Konflikts zu erzielen, schlug für die türkische Seite am letzten Samstag die Stunde der Wahrheit mit Blick auf die Beziehungen zu Aserbaidschan.

Karte Berg-Karabachs; Foto: AP
Die Türkei und Armenien hatten ihre Beziehungen 1993 wegen des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan um Berg-Karabach abgebrochen. In diesem Streit hatte sich die Türkei auf die Seite Aserbaidschans gestellt.

​​Nach Andeutungen des russischen Außenministers Sergej Lawrow und Äußerungen aus Armenien wollte der türkische Außenminister Davutoglu das Karabach-Problem in einer Abschlusserklärung ansprechen.

Armenien war dagegen, weshalb die Unterzeichnung wohl gescheitert wäre, wenn sich aufgrund der Vermittlung der amerikanischen Außenministerin Hillary Clinton nicht beide Seiten geeinigt hätten, ganz auf jede Erklärung zu verzichten. Armenien galt Beobachtern danach als diplomatischer Sieger.

Die innenpolitischen Gegner Erdogans in der Türkei und Sarkisjans in Armenien werden allerdings sicherlich dafür sorgen, dass die Protokolle nicht schnell ratifiziert werden. Dass der Kampf um die Macht dabei zu bemerkenswerten politischen Häutungen führen kann, zeigt das Beispiel des ersten armenischen Präsidenten nach der Unabhängigkeit, Levon Ter-Petrosjan.

Er wurde 1998 gestürzt, weil er in Sachen Nagornyj Karabach für eine Politik des Ausgleichs mit Aserbaidschan eintrat. Heute gehört er zu den lauten Kritikern der Protokolle, die Sarkisjan Verrat nationaler Interessen vorwerfen.

Politik "ohne Erbfeinde"

Dabei würde das Inkrafttreten der Protokolle und die nachfolgende Öffnung der Grenze zur Türkei bedeuten, dass Armenien sich dem Welthandel wieder anschließen könnte.

Eriwan wäre dann wirtschaftlich und politisch nicht mehr ausschließlich auf die Schutzmacht Russland angewiesen, dessen Staatskonzerne bereits den gesamten Energiesektor und die Eisenbahn Armeniens kontrollieren.

​​Wegen des zu erwartenden Widerstands gegen die Ratifizierung der Protokolle in beiden Parlamenten wird es auch zur Grenzöffnung so schnell nicht kommen. Die türkische Opposition hat einen harten politischen Kampf angekündigt.

Dabei böte ein Erfolg der vor Jahren eingeleiteten Politik "ohne Erbfeinde" Ankara die Möglichkeit, in die Rolle einer Macht hineinzuwachsen, die im Südkaukasus mitbestimmt. Der Vorschlag für eine Plattform für Stabilität und Kooperation im Kaukasus, den die Türkei nach dem Krieg in Georgien vorlegte, belegt diese Absicht Ankaras. Indem es auf Armenien zuging, hat Ankara in die lange festgefahrene Lage in der Region wieder Bewegung gebracht.

Für die Bemühungen der internationalen Vermittler in der Minsk-Gruppe der OSZE, in der Amerika, Russland und Frankreich gemeinsam den Vorsitz führen, bietet sich nun ein Zeitfenster, in dem sie die Bemühungen um die Lösung des Karabach-Konflikts verstärken können.

Zwei Jahrzehnte hatten geopolitische Rivalitäten in der Region es verhindert, dass auf Aserbaidschan, das sich zunehmend an Amerika anlehnte, und auf Armenien, das sich unter Russlands Fittiche begab, wenig gemeinsamer Druck ausgeübt wurde.

Jetzt sei es höchste Zeit, die Fortschritte in den aserbaidschanisch-armenischen Verhandlungen über Nagornyj Karabach in einen Erfolg umzumünzen, hieß es im jüngsten Karabach-Bericht der in Krisenregionen und wichtigen Hauptstädten gut vernetzten "International Crisis Group".

Dass es diese Fortschritte, trotz der jüngsten aserbaidschanischen Dementis, gibt, scheint ziemlich gewiss.

Michael Ludwig

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2009

Qantara.de

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