In Gaza stirbt die internationale Ordnung

Mohamed ElBaradei, Director General Emeritus of the International Atomic Energy Agency and Nobel Peace Prize Laureate (2005), speaks during the 2022 Vienna Conference on the Humanitarian Impact of Nuclear Weapons at the Austrian Centre in Vienna, Austria
Rohe Gewalt statt Konfliktlösung: Die arabische und muslimische Welt hat das Vertrauen in westliche Werte wie internationale Gesetze und Institutionen, Menschenrechte und Demokratie verloren, schreibt Mohamed ElBaradei. (Foto: JOE KLAMAR / AFP)

Der Krieg zwischen Israel und der Hamas hat der regelbasierten internationalen Ordnung einen vernichtenden Schlag versetzt und droht die gesamte arabische und muslimische Welt vom Westen zu entfremden.

Essay von Mohamed ElBaradei

Nachdem Covid-19 im Jahr 2020 für Chaos und Leid gesorgt hatte, bestand meine Hoffnung darin, dass sich nach dieser globalen Katastrophe ein Silberstreif am Horizont abzeichnen würde. Eine Zeit lang schien das auch möglich zu sein. Die Pandemie erinnerte uns eindringlich an unsere gemeinsame Verwundbarkeit, unsere Verbundenheit als Menschen und die Bedeutung einer Solidarität, die Unterschiede und Grenzen überwindet.  

Mittlerweile frage ich mich jedoch, ob es falsch war, überhaupt zu hoffen. Nachdem die Pandemie abgeklungen war, stürmten wir mit neuem Elan zurück an den Abgrund. Die Lehren über Solidarität perlten von uns ab, als wären wir mit Teflon überzogen. Viele, wenn nicht sogar alle Pfeiler der internationalen Ordnung der Nachkriegszeit scheinen zu bröckeln. 

Der Einsatz militärischer Gewalt ist mittlerweile die Standardmethode zur Beilegung von Konflikten zwischen Ländern (Russland und Ukraine) und innerhalb von Ländern (Jemen und Sudan). Gleichzeitig verschwindet das multilaterale Sicherheitssystem, an dessen Spitze die Vereinten Nationen stehen, in der Bedeutungslosigkeit. 

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Darüber hinaus hat sich die Kluft zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden vergrößert und immer mehr Länder des Südens leiden unter einer erdrückenden Schuldenlast. Diese verschärft wiederum die Armut, schürt die Migration und schafft Misstrauen.  

Vor dem Hintergrund des erstarkenden Populismus und Autoritarismus haben Missachteung von Menschenrechten und Angriffe auf demokratische Werte an Intensität zugenommen. In manchen Fällen hat eine Fassade aus Wahlen diesen Attacken zu scheinbarer Legitimität verholfen. Die sich verschärfende Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten und China entwickelt sich gerade mit hohem Tempo zu einem reinen Selbstzweck.  

Skrupellose Missachtung des Völkerrechts

Ein besonders schwerer Schlag für die regelbasierte internationale Ordnung bedeutet vor allem der anhaltende Krieg zwischen Israel und der Hamas. Die gravierenden Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht zum Schutz der Zivilbevölkerung sind unfassbar. Die Gräueltaten an der Zivilbevölkerung, zuerst in Israel und jetzt in Gaza, stehen für das Böse schlechthin. 

Diese verabscheuungswürdigen Taten sollten ganz oben auf der Prioritätenliste des Anklägers am Internationalen Strafgerichtshof stehen und in Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof behandelt werden. Wir müssen dem freien Fall in den Abgrund Einhalt gebieten.  

Die nonchalante Missachtung der Grundsätze und Normen des Völkerrechts wie etwa die Beschränkungen beim Recht auf Selbstverteidigung sowie die vorsätzliche Blockade des Sicherheitsrates bei der Wahrnehmung seiner "Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit” sind skrupellos. 

Hochrangige UN-Mitarbeiter im Bereich humanitärer Hilfe haben im Gazastreifen ihre Verzweiflung mit Formulierungen wie "Hölle auf Erden” und "eine Menschheit, die aufgibt” beschrieben. Allerdings scheinen nur wenige hinzuhören. 

Rhetorik der Entmenschlichung

Zwischen dem Westen und der arabischen sowie muslimischen Welt zeichnet sich ein Bruch ab, auch wenn die Bevölkerungen im Westen und in der arabischen Welt ihre Wut auf ihre jeweiligen Führungen richten. 

Von allen Seiten ertönt eine entmenschlichende, wuterfüllte Rhetorik, die ihren Widerhall auf den Straßen der Metropolen, in Universitäten und auch in Kleinstädten weltweit findet. Sämtliche Bemühungen der letzten Jahrzehnte, Brücken des Respekts und der Verständigung zu bauen, scheinen in sich zusammengebrochen zu sein. 

Darüber hinaus haben die arabische und muslimische Welt das Vertrauen in vermeintliche westliche Normen wie Völkerrecht und internationale Institutionen, Menschenrechte und demokratische Werte verloren.

Ihrer Ansicht nach macht der Westen selbst vor, dass rohe Gewalt über allem steht. Natürlich ist die wachsende Überzeugung, dass es sich bei Demokratie und Menschenrechten - liberalen Werten, die einst den Arabischen Frühling inspirierten - lediglich um Werkzeuge westlicher Vorherrschaft handelt, Musik in den Ohren von Autokraten und Despoten. 

Jahrzehntelange Demütigung

Der Krieg lehrt uns zweierlei. Erstens: Konflikte lösen sich nicht von selbst und sie schwelen zu lassen ist kurzsichtig und gefährlich. UN-Generalsekretär António Guterres wurde von Israel heftig angegriffen, nachdem er erklärt hatte, dass der Angriff der Hamas vom 7. Oktober "nicht in einem Vakuum geschah.”  

Doch damit würdigte er eine Wahrheit – nämlich das aufgestaute Gefühl von Demütigung und Ungerechtigkeit unter den Palästinensern – die die meisten Menschen, die den palästinensisch-israelischen Konflikt verfolgen, schon lange erkannt haben. 

Der Konflikt hat den Ruf nach einer Wiederbelebung des erfolglosen "Friedensprozesses“ laut werden lassen, der seit Jahrzehnten vor sich hindümpelt. Aber dieselben Politiker, die jetzt für eine Zweistaatenlösung eintreten, haben schweigend zugesehen, wie Israel den größten Teil des für einen palästinensischen Staat vorgesehenen Gebiets (durch Annexion und Siedlungsausbau) an sich gerissen hat.  

Die Zeit nach der aktuellen Gewalt bietet möglicherweise die letzte Chance auf einen gerechten und dauerhaften Frieden im Nahen Osten, bevor die gesamte Region in Flammen aufgeht. 

Ein faires und gleichberechtigtes globales System

Die andere wichtige Lehre besteht darin, dass der Aufbau eines stabileren und gerechteren globalen Sicherheitssystems und einer ebensolchen Finanzarchitektur strukturelle Reformen erfordert. 

Zunächst einmal sollte das Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats drastisch beschnitten, wenn nicht gar abgeschafft werden.

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Außerdem müssen die USA und Russland die Atomwaffenkontrollgespräche wieder aufnehmen und sinnvolle Schritte in Richtung Abrüstung unternehmen. Es ist ein Skandal, dass es zwischen den beiden größten Atommächten der Welt überhaupt kein Abkommen zur Atomwaffenkontrolle mehr gibt.  

Die Bretton-Woods-Institutionen – Internationaler Währungsfonds und Weltbank – müssen den Entwicklungsländern im Bereich globaler Entscheidungsfindung ein angemessenes Mitspracherecht einräumen und ihnen einen gerechten Zugang zu finanziellen Ressourcen für ihre Entwicklung verschaffen. 

Obwohl die politischen Entscheidungsträger seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor mehr als 30 Jahren eine derartige Überarbeitung fordern, wurden bisher keine Fortschritte erzielt. Wir dürfen nicht zulassen, dass wir diese durch den Krieg entstandene Chance verspielen. Ohne eine radikale Reform der internationalen Ordnung wird der Gaza-Krieg zum Vorboten einer Welt außer Kontrolle. 

Mohamed ElBaradei 

Übersetzung: Helga Klinger-Groier 

© Project Syndicate 2024  

Mohamed ElBaradei war bis 2009 Generaldirektor der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO), mit der zusammen er 2005 den Friedensnobelpreis erhielt.