Ein Patt zwischen Leben und Tod

Sudanese author Stella Gaitano
Die sinnliche Intensität von Stella Gaitanos Roman geht in der Übersetzung nicht verloren. (Foto: privat)

Stella Gaitanos Debütroman "Edo‘s Souls“, der im Sudan und im Südsudan spielt, inszeniert einen epischen Kampf zwischen den Kräften des Lebens und dem Tod.

Von Marcia Lynx Qualey

Der Roman Edo's Souls (dt. Edos Seelen) von Stella Gaitano liegt nun in der hervorragenden englischen Übersetzung von Sawad Hussain vor. Der Roman knüpft an zwei beeindruckende Erzählbände der Autorin an und ist von derselben sinnlichen Intensität. Etwa wenn es um die Heftigkeit der Schwangerschaftsübelkeit oder den "Hühnergeruch“ der Muttermilch einer Protagonistin geht. 

In diesem Generationenroman wimmelt es nur so von Babys. Die Bäume im Buch riechen nach Muttermilch, die Luft ist erfüllt von Babygebrabbel und die Erwachsenen müssen aufpassen, damit sie nicht auf winzige Hände oder Füße treten. Die ersten Babys, denen wir begegnen, sind die früh verstorbenen Kinder der Titelfigur Edo, die in einem abgelegenen südsudanesischen Dorf lebt. 

Der Roman beginnt in den 1960er Jahren. Zu der Zeit wird Edo von den winzigen Körpern der Babys heimgesucht, die sie in der Nähe ihres Hauses begraben musste. Nachdem sie wieder und wieder im Kampf mit dem Tod unterlegen war, verliert Edo die Hoffnung, jemals ein Kind großziehen zu können. 

Als ihre einzige gesunde Tochter zur Welt kommt, wagt Edo kaum noch zu hoffen. Bewusst nennt sie das Kind Eghino, "die, die viel verdaut“, um das Baby vor dem Tod zu schützen. Aus Angst, ihr Herz erneut zu verlieren, gibt Edo ihr Baby in die Obhut der Dorfgemeinschaft. Eghino wird vom ganzen Dorf mit Dutzenden von Müttern und Hunderten von Geschwistern aufgezogen. 

Das Mädchen erlebt eine glückliche Kindheit. Ihre Mutter, die allein lebt und das Mädchen durch die Ritzen ihres Hauses beobachtet, will es eines Tages zurückholen. Da sieht sie, wie das Kind stürzt und sich die Knochen bricht. "Auf einen Schlag“, so erfahren wir, "kam Edo zur Vernunft; so wie ein Unglück unseren Verstand verwirren kann, so kann es ihn auch wieder klar machen". 

Edo kümmert sich jetzt um ihre Tochter und legt Eghino Schlammwickel an, bis ihre Knochen wieder zusammenwachsen. Mit der Zeit finden die beiden zu einer Art Kameradschaft. 

Bald darauf treffen christliche Missionare ein, und Eghino nimmt einen neuen Namen an: Lucy. Auch Edo erhält einen zweiten Namen, den sie mit ihrem ersten verbindet, "wie Nadel und Faden“. Später erklärt Marie-Edo, dass sie nicht wegen des Glaubens zum Christentum konvertiert sei, jedenfalls nicht ausschließlich. Sie habe sich bekehren lassen, um nach ihrem Tod in den Himmel zu kommen und von Gott Antworten zu verlangen "über meine Kinder, die er dem Tod geweiht hat“.

Cover of Stella Gaitano's "Edo's Souls", translated into English by Sawad Hussain and published by Dedalus Ltd
"Edo's Souls“ ist ein fesselnder Roman über das Schicksal mehrerer Generationen, dessen drei Hauptfiguren in einer von den Schrecken des Bürgerkriegs gezeichneten Nation gefangen sind. Sie alle sind gezwungen, sich ihrer Vergangenheit zu stellen und zu entscheiden, was ihnen am wichtigsten ist – Liebe, Familie oder Heimat. (Quelle: Dedalus Books)

Edos Vermächtnis

Als Eghino-Lucy in die Pubertät kommt, spricht ihre auf Fruchtbarkeit fixierte Mutter vor ihrem Bauch ein Gebet und sagt zu ihrer Tochter: "Ich werde Gott verzeihen, wenn er dich alle deine Geschwister gebären lässt, die gestorben sind.“

Marie-Edo fährt fort: "Möge niemals eines deiner Kinder sterben, möge niemals Mutterschmerz in dir aufkommen, mögest du so viele Kinder gebären, dass sie die gesamte Erde bevölkern. So viele, dass du sie wie einen Mückenschwarm verscheuchen möchtest“. 

Dann kündigt Marie-Edo ihren Tod an, indem sie buchstäblich in ihren Sarg steigt und den Deckel über sich schließt. Lucy, noch ein Teenager, glaubt fest an die Mission und wird in der Nacht der Beerdigung ihrer Mutter mit ihrem ersten Kind schwanger. 

Doch Muttersein, so zeigt die Erzählung, hat nicht nur mit Fruchtbarkeit zu tun. Als Lucy und ihr frisch angetrauter Ehemann Marco auf der Suche nach Arbeit in den Norden in Sudans Hauptstadt Khartum fahren, hat der Lastwagen, mit dem sie unterwegs sind, eine Panne. 

Glücklicherweise versteckt sich das frisch vermählte Paar hinter einem Busch, als bewaffnete Männer auftauchen und alle Mitreisenden töten - bis auf ein Baby. Marco will den weinenden Säugling zunächst nicht mitnehmen, aber Lucy besteht darauf. 

Das Kind überlebt nicht. Aber der Wunsch, Mutter zu werden, ist stark, und Lucy ist wie eine zähe Pflanze, die sich nicht bändigen lässt. Als die beiden in Khartum ankommen, wo sie bei Marcos Freund Peter und dessen Frau Theresa wohnen, ist alles fremd und neu. 

Aber Lucy weiß, wie man mit anderen Menschen umgeht. Sie schenkt nicht nur ihren eigenen Kindern Leben, sondern bereichert alles und jeden um sie herum. Sie hat so viel Muttermilch, dass sie einen Baum im Innenhof damit tränkt, bis Peter sie bittet, damit aufzuhören. Lucy weist ihn darauf hin, dass der Baum gut gedeiht und setzt ihren Willen durch, wie fast immer. 

Schatten des Todes

Eine Zeit lang dominiert die Mutterschaft in Lucys Leben. Doch Ende der 1970er Jahre rückt in Khartum der Tod immer näher. Eine Reihe von Putschversuchen und der zunehmend autoritäre Kurs von Präsident Dschafar an-Numeiri verschärfen die Lage. 

Über die Politik des Landes erfahren wir nicht viel, zumal die Figuren selbst oft nicht wissen, was vor sich geht. Durch die Augen anderer verfolgt der Leser die Ereignisse – auch die Diskriminierung der Südsudanesen und die zunehmende Militarisierung des Landes. 

Der Roman handelt nicht nur von Lucy und Edo. Sobald sich Lucy in Khartum niedergelassen hat, greift die Erzählung weiter aus. In mehreren Kapiteln erzählt die Autorin aus der Perspektive von Marco, der nach Arbeit sucht, und dann von Peter, der sich mit seiner muslimischen Adoptivfamilie auseinandersetzt, und von Peters Schwester Jalaa, die als aktivistische Anwältin eine ambivalente Haltung zur Mutterschaft einnimmt.  

Einige dieser Passagen wirken wie im Zeitraffer geschrieben, sodass wir im Eiltempo durch die Schrecken rasen, die sich in und um Khartum abspielen. Dazu gehören die Verhaftung und Folterung Marcos, die Verhaftung und Folterung von Jalaas Liebhaber, die Flucht von Peter und Theresa aus dem Land und der Krieg auf den Straßen. 

Der Roman kommt in einer der letzten Szenen wieder zur Ruhe, als sich ein Milizionär auf einem Baum im Hof der Familie versteckt. Lucy entdeckt ihn, als sie sich zur Toilette schleicht, wo ein dicker Blutstropfen des Mannes auf sie fällt. Sie sehen sich schweigend an, bis Lucy sich zurückzieht, ohne jemandem von seiner Anwesenheit zu erzählen. 

Der Roman endet Mitte der 1980er Jahre, als eine der Töchter von Lucy und Marco in die Pubertät kommt. Das Mädchen ist irritiert von der überschwänglichen Reaktion ihrer Mutter, aber Lucys Begeisterung zeigt, dass das Leben weitergeht. 

Als Leser wissen wir aber auch, dass ein langer Krieg zwischen dem Sudan und dem Südsudan begonnen hat. So gewinnen weder die Mutterschaft als Symbol des Lebens noch der Tod in diesem Roman. Zwischen beiden herrscht nur ein Patt bis zum nächsten Tag. 

Marcia Lynx Qualey 

Aus dem Englischen übersetzt von Gaby Lammers.

© Qantara.de 2024 

Stella Gaitano, "Edo's Souls", Dedalus Books 2023, aus dem Arabischen übersetzt von Sawad Hussein