"Wir brauchen jemanden, der uns unsere Würde zurückgibt"

Palästinenser in einem Café in der Stadt Bethlehem. Im Hintergrund die israelische Siedlung Har Homa im besetzten Westjordanland, 7. Dezember 2023. Israel hat den Bau weiterer 1700 Wohnungen im Westjordanlandgenehmigt, gab eine Nichtregierungsorganisation am 6. Dezember 2023 bekannt.
Palästinenser in einem Café in der Stadt Bethlehem. Im Hintergrund die israelische Siedlung Har Homa im besetzten Westjordanland, 7. Dezember 2023. Israel hat den Bau weiterer 1700 Wohnungen im Westjordanland genehmigt, gab eine Nichtregierungsorganisation am 6. Dezember 2023 bekannt. (Foto: HAZEM BADER/AFP via Getty Images)

Der 7. Oktober und der Krieg in Gaza verändern auch das Westjordanland grundlegend. Viele hier unterstützen zunehmend den bewaffneten Kampf – und das Vorgehen der Hamas. Eine Reportage aus Ramallah.

Von Andrea Backhaus

Immer, wenn Lama Yahya den Fernseher anschaltet oder durch Social Media scrollt, sind die Bilder aus Gaza da. Die ausgebombten Straßen, die Mütter, die ihre verwundeten Kinder im Arm halten, die Toten, die unter den Trümmern verwesen. Die Gefühle überwältigen sie dann, die Wut, die Hilflosigkeit, die Scham. "Wir schauen dabei zu, wie unsere Brüder und Schwestern abgeschlachtet werden", sagt Yahya. "Und wir können nichts für sie tun."

Die 29-jährige Studentin betreibt in Ramallah, dem politischen Zentrum des Westjordanlandes, einen Souvenirladen. Sie verkauft Töpferwaren, Karaffen, handgestickte Kissenbezüge, doch in diesen Kriegstagen hat sie kaum Kundschaft. Die Klimaanlage bläst eine warme Brise in das karg möblierte Büro, es riecht nach abgestandenem Zigarettenqualm. Yahya ist eine liberale Palästinenserin und gut vernetzt, sie kennt die Befindlichkeiten ihrer Gemeinschaft. Und sie möchte über den Zorn sprechen, der die junge Generation erfasst.

Sie sagt, die Menschen hätten das Gefühl, Israel führe Krieg gegen das ganze palästinensische Volk. Israels Armee sage zwar, sie wolle in Gaza nur Terroristen bekämpfen. Doch Yahya glaubt, die Soldaten töteten vor allem Unschuldige, Kinder und Frauen. Dass die westlichen Staaten Israels Vorgehen in Gaza unterstützen, sei für viele Menschen enttäuschend. "Die Palästinenser fühlen sich von der Welt im Stich gelassen", sagt Yahya. Deswegen würden viele neuerdings mit der Hamas sympathisieren, die in Gaza gegen das israelische Militär kämpft. "Sie glauben, dass ihnen sonst niemand hilft, sich gegen diese Ungerechtigkeit zu wehren", sagt Yahya.

Das Dorf Kharas nördlich von Hebron umringt von israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten im Westjordanland.
"Die Palästinenser fühlen sich von der Welt im Stich gelassen", sagt Lama Yahya, die in Ramallah einen Souvenirladen betreibt. Auf dem Bild ist das Dorf Kharas nördlich von Hebron umringt von israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten im Westjordanland zu sehen. (Foto: John Macdougall/AFP)

Popularitätsschub für die Hamas

Die Stimmung im Westjordanland scheint sich zu drehen. Die Hamas war hier vor dem Krieg nicht sehr einflussreich, doch scheint sie nun unter den rund drei Millionen palästinensischen Bewohnern zunehmend Anhänger zu finden. Das Massaker vom 7. Oktober, bei dem die Hamas mehr als 1200 Zivilisten in Israel tötete, hat der Terrorgruppe offenbar einen Popularitätsschub verpasst. Das belegt eine Umfrage, die das angesehene Palästinensische Zentrum für Politik und Umfrageforschung (PSR) nach Kriegsbeginn durchgeführt hat. Laut den Ergebnissen, die Mitte Dezember veröffentlicht wurden, unterstützen 44 Prozent der Palästinenser im Westjordanland die Hamas, im September waren es nur 12 Prozent. Auch spricht sich die Mehrheit für "bewaffneten Widerstand" aus.

Spricht man mit Bewohnern in Ramallah, hört man eines immer wieder: Würden im Westjordanland jetzt Wahlen abgehalten werden, würde die Hamas haushoch gewinnen. Weil sie mit ihrem Angriff gezeigt habe, dass Israel verwundbar sei, wie es ein Mann erklärt. Weil nur die Hamas in der Lage sei, die Besatzung zu beenden, so beschreibt es ein anderer.

Welches Leid die Terroristen den Menschen in Israel zugefügt haben, wollen viele nicht wahrhaben. Sie spielen das Massaker herunter, oder sagen, das hätten radikale Zivilisten verübt, die Hamas würde so etwas nicht tun. Andere leugnen, dass die Vergewaltigungen und Exekutionen stattgefunden haben. Wieder andere sagen, die Gewaltexzesse seien eine verständliche Reaktion der Palästinenser, die in Gaza unter der Blockade gelitten hätten.

"Wenn Palästinenser sterben, regt das kaum jemanden auf"

Yahya sagt, viele, die sich nun wohlwollend über die Hamas äußern, mögen die Hamas nicht an sich. Sie lehnen ihre Ideologie ab, ihr Ziel, Israel auszulöschen. "Aber es gibt keine andere Gruppe, die sich für die Palästinenser einsetzt", sagt sie. Die Palästinenser würden von vielen als Menschen zweiter Klasse gesehen. "Wenn Israelis angegriffen werden, sind alle außer sich", sagt Yahya. "Wenn Palästinenser sterben, regt das kaum jemanden auf." Und nicht nur in Gaza sterben Palästinenser. Sie sterben auch um die Ecke von Yahyas Laden.

August 1, 2023, Hebron, Westjordanland, Palästinensische Gebiete: Palästinenser ringen mit israelischen Siedlern, die auf dem Gebiet des Dorfes Halhoul nördlich von Hebron in der besetzten Westbank Zelte aufgebaut haben.
Palästinenser werden von israelischen Siedlern bedrängt, die auf dem Gebiet des arabischen Dorfes Halhoul nördlich von Hebron in der besetzten Westbank ihre Zelte aufgebaut haben, 1. August 2023. (Foto: Mamoun Wazwaz/APA Images via ZUMA Press Wire)

Die Hamas weiß die Wut für sich zu nutzen

Denn während die Welt auf Gaza schaut, entwickelt sich auch das Westjordanland zunehmend zum Schlachtfeld. Seit Wochen greifen israelische Soldaten und radikale Siedler palästinensische Bewohner und Bewohnerinnen an, nehmen sie bei Razzien fest oder bringen sie um. Offiziell gehen die israelischen Soldaten gegen Mitglieder militanter palästinensischer Gruppen vor.

Oft treffen sie aber auch Menschen, die zufällig zwischen die Fronten geraten sind. Seit dem 7. Oktober wurden laut den Vereinten Nationen fast 300 Palästinenser von israelischen Kräften im Westjordanland getötet, darunter 77 Kinder. Mit jedem toten Palästinenser wächst die Wut auf die Besatzungsmacht.

Die Hamas weiß diese Wut für sich zu nutzen. Sie inszeniert sich als starke Kraft, durchaus erfolgreich. Als im November palästinensische Gefangene im Tausch für von der Hamas verschleppte Geiseln aus israelischen Gefängnissen freigelassen wurden, verbuchten das viele im Westjordanland als Erfolg der Hamas. 

Sie empfingen die freigelassenen Frauen und Teenager jubelnd, viele schwenkten die Hamas-Flagge, einige riefen zur Solidarität mit Hamas' militärischem Arm auf und schrien: "Das Volk will die Al-Kassam-Brigaden."

Die israelische Armee führt häufig Razzien im besetzten Westjordanland durch, die zu Schusswechseln mit arabischen Jugendlichen führen.
Die israelische Armee führt häufig Razzien im besetzten Westjordanland durch, die zu Schusswechseln mit arabischen Jugendlichen führen. (Foto: AFP)

Warnung an mögliche Kollaborateure

Die Radikalisierung lässt sich Experten zufolge an vielen Orten im Westjordanland beobachten, vor allem in den palästinensischen Flüchtlingslagern und in ländlichen Gegenden. Dort schließen sich offenbar militante Kräfte unterschiedlicher Zugehörigkeit zusammen, Anhänger der Hamas, des Islamischen Dschihad und der Fatah, die die Palästinensische Autonomiebehörde, kurz PA, dominiert.

Wie die bewaffneten Fraktionen in diesen Wochen mit Widersachern umgehen, zeigte sich Ende November, als Anhänger einer militanten Gruppe im Flüchtlingslager in Tulkarm zwei palästinensische Männer töteten, weil diese angeblich für Israel spioniert hatten. Der Nachrichtenagentur Reuters zufolge wurden die Leichen vor einer aufgebrachten Menge an einem Strommast aufgehängt, als Warnung an andere mögliche Kollaborateure.

Die dumpfe Brutalität der Militanten lehnen viele Palästinenser ab. Sie sehnen sich nach einem grundlegenden Wandel. Im Flüchtlingslager Al-Amari am Rande von Ramallah zündet sich Shaher Haroun eine Zigarette an. Haroun hilft im örtlichen Gemeindezentrum aus, er stützt sich in dem stickigen Büro auf einen massiven Holztisch, hinter ihm hängt ein Bild des 2004 verstorbenen Palästinenserführers Jassir Arafat in olivgrüner Montur, auf dem Kopf die schwarz-weiße Kufiya. Haroun sagt: "Der Angriff der Hamas war für die Palästinenser eine Zeitenwende."

Wie die Menschen in den Flüchtlingslagern auf die Geschehnisse blicken, weiß der 52-Jährige gut. Haroun hat sein ganzes Leben in Al-Amari verbracht, dort, wo die Gassen kaum einen Meter breit sind und die Stromleitungen fast bis auf die parkenden Autos herabhängen. Das Camp wurde 1948 für die Palästinenser errichtet, die während des ersten arabisch-israelischen Kriegs vertrieben worden waren, heute leben hier rund 9.000 Menschen. Die meisten würden wie Haroun selbst die Fatah unterstützen, einige auch die Hamas. Es sei schmerzhaft, was den Zivilisten zugestoßen sei, sagt Haroun. Doch Hamas' Attacke auf Israel habe den Palästinensern gezeigt: Ein Ausbrechen aus dem leidvollen Status quo sei möglich.

Die meisten Palästinenser im Westjordanland sind jung und frustriert. Ihr Alltag ist bestimmt von Armut, Arbeitslosigkeit und einer fehlenden Perspektive. Das Westjordanland ist seit 1967 von Israel besetzt, die PA verwaltet nur einen Teil. Die bisher letzte Parlamentswahl in den Palästinensergebieten liegt 17 Jahre zurück. 2006 gewann die islamistische Hamas gegen die moderatere, säkulare Fatah von Präsident Mahmoud Abbas. Seitdem herrscht die Hamas in Gaza, die Fatah im Westjordanland, beide Fraktionen sind verfeindet. Haroun, der eine örtliche Jugendgruppe der Fatah anführt, glaubt: Die Palästinenser haben den Glauben daran verloren, dass sich politisch etwas bewegen kann.

Dabei sah es nach dem Ende der Ersten Intifada 1993 für die Palästinenser gut aus. Mit den Osloer Abkommen schienen Friedensverhandlungen auf den Weg gebracht, ein eigener Staat möglich. Viele Palästinenser vertrauten darauf, dass die Zweistaatenlösung eines Tages umgesetzt wird, sagt Haroun. "Aber die Verhandlungen mit Israel haben uns in den letzten 30 Jahren nichts gebracht", sagt er. "Im Gegenteil, es hat sich alles verschlechtert."

Die Lage im Westjordanland ist prekärer geworden. Hardliner auf beiden Seiten haben den Friedensprozess sabotiert. Auch haben die politischen Führer in Ramallah durch Vetternwirtschaft und Inkompetenz viel Geld und Potenzial verschleudert. Und Israels rechte Regierungen haben das Leben für die Palästinenser immer beschwerlicher gemacht, sie haben an der Gebietsgrenze eine riesige Sperranlage errichtet und den illegalen Siedlungsbau vorangetrieben. Durch dutzende Checkpoints, Kontrollen und Ausgangssperren haben sie den Bewegungsradius der palästinensischen Bewohner immer mehr verkleinert.

Haroun sagt, viele Palästinenser könnten sich eine Koexistenz mit Israel kaum noch vorstellen. "Wir wollen Frieden", sagt er. "Aber dafür muss Israel uns die gleichen Rechte einräumen."

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Die Schwäche der Fatah ist die Stärke der Hamas

Viele Menschen haben nicht nur Israels Hardliner satt, sondern auch ihre eigenen Führer. Die große Mehrheit der Palästinenser im Westjordanland, auch das zeigt die Umfrage, hat genug vom 88-jährigen Präsidenten Abbas, der per Dekret regiert und in den vielen Jahren seiner Herrschaft keine Verbesserungen erreicht hat. Eine beliebte Redewendung lautet: Abbas ist wie ein Teppich, auf dem die Israelis herumtrampeln. Auch deswegen unterstützen nun viele die Hamas. Die Schwäche der Fatah ist die Stärke der Hamas.

Das sagt auch der Zahnarzt Belal Assi, der an diesem Tag im Gemeindezentrum von Al-Amari Patienten behandelt. Der 26-Jährige trägt einen Bart, Jeans und einen weißen Pulli. Er steht wie Haroun der Fatah nahe, oder besser gesagt: der Partei, die die Fatah einst war. Assi sagt, viele Leute seiner Generation würden die Hamas verherrlichen, weil sie sonst zu niemandem aufschauen könnten. "Früher war die Fatah das große Vorbild", sagt er. Jassir Arafat, der die Fatah Ende der Fünfzigerjahre mitgründete, setzte anfangs auf Terror und ließ Dutzende Attentate auf Israelis verüben, bevor er sich für eine Aussöhnung mit Israel einsetzte.

Assi glaubt, dass sich die Palästinenser heute Ähnliches wünschen: Eine starke Führung, die versuche, Frieden mit Israel auszuhandeln, bewaffneten Widerstand aber als legitimes Mittel ansehe. Assi sagt, er rufe nicht dazu auf, grundlos Israelis anzugreifen. "Es geht um Selbstverteidigung", sagt er. Er meint zum Beispiel: Wenn die palästinensischen Bauern von jüdischen Siedlern angegriffen werden, braucht es eine Instanz, die die Bauern vor den Angriffen schützt. "Die Fatah muss endlich anfangen zu handeln", sagt er.

Es bleibt abzuwarten, was die wachsende Beliebtheit der Hamas für eine künftige Nachkriegsordnung bedeutet. Israels Ziel, die Hamas ganz auszulöschen, halten Experten, halten auch viele Menschen im Westjordanland, für unrealistisch. "Die Hamas lässt sich nicht mit Waffen bekämpfen", ist ein Satz, den man hier immer wieder hört.

Auch wenn der Krieg in Gaza anhält, entwerfen führende palästinensische Politiker schon Szenarien für einen politischen Neuanfang. Für viele ist klar: Die Hamas muss darin einen Platz haben. Salam Fayyad, ehemaliger palästinensischer Ministerpräsident, schrieb Ende Oktober in einem Essay, die palästinensische Befreiungsorganisation PLO müsse künftig alle großen Fraktionen einbinden, auch die Hamas.

So sieht es auch der aktuelle Ministerpräsident, Mohammad Schtajjeh. In einem Interview mit Bloomberg sagte Schtajjeh, er würde nach Kriegsende die Hamas gerne als Juniorpartner in die PLO integrieren, sie solle beim Aufbau eines neuen unabhängigen Staates helfen.

Viele Palästinenser glauben nicht, dass eine Einheitsregierung realistisch ist. Die Hamas, so die Befürchtung, würde sich der Fatah nicht unterordnen, sondern die Macht an sich reißen.

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Die meisten wollen keinen islamischen Staat

Und eine Herrschaft der Hamas will im Westjordanland außer ihren militanten Unterstützern kaum jemand. Das sagen die Männer im Al-Amari-Lager, das sagen die Menschen in den Straßen von Ramallah, das sagt auch Ladenbesitzerin Lama Yahya. Zu rigide war der Herrschaftsstil der Islamisten in Gaza, wo sie den Menschen diktierten, wie sie sich zu kleiden und was sie zu sagen hatten. Wo sie jeden bestraften, der es wagte, Korruption und Missmanagement der Gruppe anzuprangern.

"Ich will nicht in einem islamischen Staat leben", sagt Lama Yahya, die religiöse Dogmen verabscheut. Sie sagt, sie und ihre Bekannten würden Gewalt ablehnen und sich lieber auf friedliche Weise gegen die Besatzung wehren, mit Demos, Weiterbildungen, Boykotten.

Doch viele ihrer Bekannten seien inzwischen überzeugt, dass friedlicher Protest allein sie nicht weiterbringe, sagt Yahya. Denn: Wer die kleinste Kritik am brachialen Vorgehen der Israelis äußere, riskiere, verhaftet zu werden. "Wir brauchen die Hamas nicht", sagt Yahya. "Wir brauchen nur jemanden, der uns unsere Würde zurückgibt." 

Andrea Backhaus

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