Völkerrecht als Vorwand

In Gaza suchen Menschen verzweifelt nach sicheren Räumen
Die Bewohner des Gazastreifens sollen sich in den südlichen Teil begeben, doch auch dort sind sie nicht sicher. (Foto: Abed Rahim Khatib/Anadolu/picture alliance)

Im Schatten des Gaza-Krieges radikalisiert sich die israelische Regierung weiter. Kennt die Bundesregierung diese Tendenz und die damit verbundenen Risiken? Nichts deutet darauf hin. Eine deutsche Nahostpolitik, die diesen Namen verdient, gibt es nicht.

Essay von Stefan Buchen

Die israelische Armee hat den Krieg in den gesamten Gazastreifen getragen. Flugzeuge, Drohnen und Artillerie schießen aus der Distanz. Panzer und Fußsoldaten schießen aus der Nähe. Sie sind in ehemals bewohntes Gebiet vorgerückt und haben sich in oder zwischen eroberten Häuserruinen verschanzt. Die ehemaligen Bewohner drängen sich an anderen Orten des Gazastreifens zusammen, vor allem im Südteil. Dort ist es aber auch nicht sicher.  

Mit dem Völkerrecht wird man den israelischen Feldzug bis zum heutigen Tag (8.12.23) gut begründen können. Denn es ist ein Gegenschlag, die Antwort auf den Überfall der Hamas vom 7. Oktober, bei dem mehr als 1.000 Israelis, die meisten von ihnen Zivilisten, massakriert und mehr als 200 entführt wurden.  

Mit dem Recht lässt sich der militärische Gegenschlag in Einklang bringen, zumal die Hamas auch nach zwei Monaten immer noch israelisches Territorium mit Raketen beschießt. Sogar die gewaltsame Besetzung von Krankenhäusern und anderen zivilen Einrichtungen kann man, wenn aus diesen herausgeschossen oder sonst in irgendeiner Form militärischer Gebrauch davon gemacht wird, als "legal" rechtfertigen.   

In Khan Yunis, Gazastreifen, flüchten Menschen weiter südlich in Richtung Rafah und ägyptische Grenze
Auf der verzweifelten Suche nach einem sicheren Ort: In Khan Yunis, Gazastreifen, flüchten Menschen weiter südlich in Richtung Rafah und ägyptische Grenze. (Foto: Mohammed Dahman/AP/picture alliance)

Das Völkerrecht hilft hier nicht weiter

Gewiss, es lassen sich auch völkerrechtliche Gegenargumente finden. Diese beziehen sich vor allem auf die Zahl der zivilen Toten in Gaza, mehr als 10.000, viele von ihnen Frauen und Kinder. 

Hinzu kommen die zeitweise Unterbindung und mengenmäßige Begrenzung lebenswichtiger Hilfslieferungen, etwa von Nahrungsmitteln und Medikamenten, in das umkämpfte Gebiet, in dem mehr als zwei Millionen Menschen, nicht erst seit dem Krieg, eingeschlossen sind.  

Die völkerrechtliche Debatte ist, wir ahnen es, steril. Sie hilft nicht weiter. Sie führt zu keinem Ziel, sondern dreht sich im Kreis. Zudem gibt es faktisch weder Richter noch Gericht. Gerade deshalb mag das Völkerrecht in diesem Konflikt ein willkommener Rückzugsort für Akteure sein, die ihre Ohnmacht gern verschleiern möchten, wie etwa die Bundesregierung.   

Was nützen die Hinweise auf das "völkerrechtlich verbriefte Selbstverteidigungsrecht" Israels, wie sie etwa von Bundeskanzler Olaf Scholz oder Bundesaußenministerin Annalena Baerbock zu hören sind? Was bringen die Ermahnungen, bei der Kriegsführung bitte das Völkerrecht zu beachten?  

Scholz sagte beim EU-Gipfel in Brüssel am 26. Oktober, er habe "keinen Zweifel", dass Israel bei seinem Feldzug im Einklang mit dem Völkerrecht handeln werde. "Israel ist ein demokratischer Staat mit sehr humanitären Prinzipien, die ihn leiten", erklärte Scholz. Es ist der sichere Weg, sich klein zu machen und jeglichen Gestaltungsanspruch abzugeben. Der politische Preis, den die Bundesregierung dafür bezahlt, ist die Entkopplung von der Realität. 

Bundeskanzler Scholz beim EU-Gipfel in Brüssel
Bundeskanzler Scholz sagte beim EU-Gipfel in Brüssel am 26. Oktober, er habe "keinen Zweifel", dass Israel bei seinem Feldzug im Einklang mit dem Völkerrecht handeln werde. "Israel ist ein demokratischer Staat mit sehr humanitären Prinzipien, die ihn leiten". Der politische Preis, den die Bundesregierung für solche Äußerungen bezahlt, ist die Entkopplung von der Realität, schreibt Stefan Buchen. (Foto: Kenzo Tribouilliard/AFP)

Machterhalt um jeden Preis

Die nahöstliche Realität wird wesentlich von der ebenso ultranationalistischen wie “irrationalistischen” israelischen Regierung bestimmt, die, nachdem sie für alle Welt sichtbar gescheitert ist, auf Demagogie setzt, um an der Macht zu bleiben. Der Kontext des Krieges ist bekanntlich fruchtbar für jegliche Demagogie.  

Netanjahu kündigt eine dauerhafte Militärherrschaft über den Gazastreifen an. Er sagt ganz offen, er sei der einzige Politiker in Israel, der die Errichtung eines palästinensischen Staates verhindern könne. Wenn Netanjahu aber den Palästinenserstaat erfolgreich verhindert, sind die Appelle der Bundesregierung für eine Zweistaatenlösung, die Scholz und Baerbock regelmäßig erklingen lassen, leeres Gerede.  

Avi Dichter, Landwirtschaftsminister im Kabinett Netanjahu, hat für die Palästinenser im Gazastreifen eine "Nakba 2023" angekündigt, also eine Wiederauflage der Massenvertreibung von 1948. Der TV-Sender "Channel  14", der die israelische Regierungspolitik propagiert, ruft regelmäßig zur Vertreibung der Palästinenser aus dem Gazastreifen nach Ägypten auf.  

Die Panel-Gäste von "Channel 14", Lautsprecher der herrschenden nationalreligiösen Tendenz, fordern beinahe täglich die Wiedererrichtung israelischer Siedlungen im Gazastreifen. Diese waren 2005 unter Premierminister Ariel Sharon geräumt worden. Sharon hatte sich allein auf die Siedlungstätigkeit im Westjordanland konzentrieren wollen. 

Minister für Nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir (l.) und Finanzminister Bezalel Smotrich lehnen einen Palästinenserstaat ab.
"Die nahöstliche Realität wird wesentlich von der ebenso ultranationalistischen wie 'irrationalistischen' israelischen Regierung bestimmt, die, nachdem sie für alle Welt sichtbar gescheitert ist, auf Demagogie setzt, um an der Macht zu bleiben." Auf dem Bild der Minister für Nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir (links) und Finanzminister Bezalel Smotrich (Foto: AMIR COHEN/REUTERS)

Sägen am Ast der Koexistenz

Nach dem mörderischen Überfall der Hamas am 7. Oktober erwog der Oppositionsführer in der Knesset, der liberale Yair Lapid, dem Kriegskabinett beizutreten. Er stellte dafür die Bedingung, dass die beiden rechtsextremen Minister Itamar Ben Gvir (Nationale Sicherheit) und Bezalel Smotrich (Finanzen und Siedlerangelegenheiten) entlassen werden. Netanjahu lehnte das ab. Während der Krieg seinen Lauf nimmt, zeigt Netanjahu, wie sehr er auf den faschistischen Rand seiner Regierung setzt, um selbst politisch zu überleben.   

Geradezu enttäuscht scheinen Netanjahu und sein Gefolge darüber zu sein, dass die arabischen Bürger Israels, rund 20 Prozent der Bevölkerung des Gebiets innerhalb der Grenzen vom 5. Juni 1967, Loyalität gegenüber dem Staat Israel zeigen. Wortführer der arabischen Bevölkerung, etwa der Knesset-Abgeordnete Mansour Abbas, haben das von der Hamas am 7. Oktober begangene Massaker in unmissverständlichen Worten verurteilt. 
 
Sie haben damit ein klares Signal dafür gegeben, dass sie die Hoffnung auf eine menschenwürdige Zukunft bewahren wollen, from the river to the sea. Das Verantwortungsbewusstsein und der Mut, den dieses Verhalten heute erfordert, wurde von vielen jüdischen Israelis erkannt und als Zeichen der Hoffnung in dunklen Zeiten gewertet. 
 
Genau dies scheint der Regierung Netanjahu zu missfallen. Sie hat sich daran gemacht, an diesem letzten Ast der Koexistenz zu sägen. Der Minister für Nationale Sicherheit, der wegen rassistischer Hassdelikte verurteilte Itamar Ben Gvir, treibt im Schatten des Krieges die Verteilung von Waffen an "die Bürger" voran.  

Es kann kein Zweifel daran bestehen, wer nach dem Willen der Regierung die Zielscheibe dieser neuen privaten Feuerkraft sein soll: die arabische Bevölkerung und die jüdischen Israelis, die der Regierung kritisch gegenüberstehen. Der Regierungschef hat sich in einer Pressekonferenz am 2. Dezember explizit hinter die Massenausgabe von Schusswaffen an Zivilisten gestellt: "Ich unterstütze das." Das werde zwar "einen Preis" haben, so Netanjahu, aber "so ist das Leben".   

Trotz Kritik auch des Verbündeten USA geht der Bau israelischer Siedlungen im Westjordanland weiter.
Trotz Kritik auch des Verbündeten USA geht der Bau israelischer Siedlungen im Westjordanland weiter. Premierminister Benjamin Netanjahu sagt offen, er sei der einzige Politiker in Israel, der die Errichtung eines palästinensischen Staates verhindern könne. (Foto: Muammar Awad/XinHua/dpa/picture alliance)

Drängende politische Fragen

Ein bekannter Komiker brachte es auf den Punkt: "Nein, Herr Premierminister, das ist nicht das Leben. Das ist der Tod", kommentierte er in der Satiresendung "Wunderbares Land" (eretz nehederet). Der schwarze Humor malt es für jeden an die Wand, der es noch nicht verstanden hat: Unter dem Krieg schwelt der Bürgerkrieg.  

Was weiß die Bundesregierung davon? Was wissen die Vereinigten Staaten, der mit Abstand wichtigste Verbündete Israels, davon? Welche Rolle spielen diese Tatsachen für ihre Nahostpolitik? Offenbar keine große. Washington und Berlin haben der Regierung Netanjahu für den Vergeltungskrieg im Gazastreifen einen Freibrief erteilt, natürlich "im Rahmen des Völkerrechts."  

Gewiss, ohne rechtliches Denken ist ein Zusammenleben der Menschen, zumal über Landes- und Völkergrenzen hinweg, nicht möglich. Aber das Recht lebt auch von Voraussetzungen, die es selbst nicht schaffen kann. Der Verdacht liegt nahe, dass Israels Verbündete den mechanischen Hinweis auf das Völkerrecht als Vorwand missbrauchen, um drängenden politischen Fragen aus dem Weg zu gehen. Sie verstecken sich dahinter. So leisten Washington und Berlin der Ungestörtheit Vorschub, mit der die Dinge ihren Lauf nehmen.   

Für die Bundesregierung geht es hier nicht zuletzt um die Interpretation, die sie aus der Geschichte des deutschen Massenmordes an den Juden abzuleiten hat. Die gängige Interpretation ist bekannt: Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson. Zu leichtfertig setzen Scholz, Baerbock und die gesamte deutsche Politik Israel mit der Regierung Israels gleich. Nicht von ungefähr hat der israelische Historiker Moshe Zimmermann am 26. Oktober darauf hingewiesen, dass diese Regierung für den Fortbestand des Staates Israel "gefährlich" sei.  

Bereits am 13. April 2023 sagte Zimmermann: "Eine Regierung, die rechtsextrem ist, kann nicht ein Partner sein für eine deutsche Regierung, die darauf baut, dass sie aus der Geschichte gelernt hat." Ein gründliches Lernen aus der Geschichte verbiete die Zusammenarbeit "mit Rassisten", so Zimmermann. Dass Netanjahus Regierung, die seit dem 29. Dezember 2022 im Amt ist, eine Regierung von Rassisten ist, daran besteht für einen Zeitgeschichtler wie Zimmermann kein Zweifel.  

Am besten lässt sich der Charakter dieser Regierung an dem Befund festmachen, dass der 7. Oktober 2023 für sie in gewisser Weise kein Einschnitt war. Vor dem brutalen Überfall der Hamas hatte Netanjahu damit begonnen, die Demokratie durch die Ausschaltung der unabhängigen Justiz abzuschaffen.  
 
Seit Beginn des Krieges setzt seine Regierung die Abwicklung der Demokratie mit anderen Mitteln fort. Die Verteilung von Waffen an die eigenen Anhänger, die Rückendeckung für Siedler im Westjordanland, die Palästinenser drangsalieren und vertreiben, das Verbot regierungskritischer Kundgebungen bei gleichzeitiger Erlaubnis von Machtdemonstrationen nationalreligiöser Provokateure auf dem Tempelberg in Jerusalem - all dies sind Indizien undemokratischer Politik. 

Am stärksten manifestiert sich diese in dem Bestreben, den Krieg zu verlängern. Denn neben der "vollkommenen Zerschlagung der Hamas" und dem "totalen Sieg" (O-Ton Benjamin Netanjahu) dient der Krieg auch (und vielleicht vor allem) dazu, der Rechenschaft für das Versagen des 7. Oktober zu entkommen. Denn da hat "Mister Security", wie sich Netanjahu gern nannte, es versäumt, die eigenen Bürger zu schützen.   

Wohin treibt Israel?

Netanjahu lässt keinen Zweifel daran, dass er an der Macht bleiben will. Er sei "gewählt" und habe ein "Mandat", wies er in der Pressekonferenz am 2. Dezember Rücktrittsforderungen zurück. Netanjahu verweist auf seine demokratische Legitimierung. Demgegenüber regt sich ein zunehmend beunruhigender Verdacht: Der Premierminister könnte den permanenten Ausnahmezustand anstreben, um seine Macht und die seiner politischen Strömung auch unabhängig demokratischer Legitimierung zu festigen.  

Der israelische Journalist Zvi Bar'el charakterisiert die Situation in einem Ton, der aufhorchen lässt: mit Selbstmitleid, das er zum Sarkasmus sublimiert: "In Gaza können die Menschen noch auf eine Wendung zum Positiven nach dem Ende des Krieges hoffen," schreibt er in der regierungskritischen Zeitung Ha'aretz. "Wir Israelis hingegen werden in den stinkenden Schoß jener Regierung zurückkehren, welche die Katastrophe über uns gebracht hat."  

Und Scholz und Baerbock? Sie sind weit davon entfernt, sich die Frage zu stellen, wie mit einer Regierung umzugehen ist, die zwar demokratisch gewählt wurde, die aber erkennbar undemokratischen Idealen folgt. Das Gerede vom "Wertepartner", von der "Zweistaatenlösung" und vom "Völkerrecht" hat die Bundesregierung den Anschluss an die Realität verlieren lassen.  

Stefan Buchen

© Qantara.de 2023 

Der Autor studierte 1993-95 Arabische Sprache und Literatur an der Universität Tel Aviv und arbeitete dann bis 1999 als Journalist in Israel und den Palästinensergebieten. Er spricht fließend Hebräisch und Arabisch. Er ist heute als Fernsehjournalist für das ARD-Magazin Panorama tätig.