Das Ende der deutschen Willkommenskultur

Two men carry a red banner reading "Refugees Welcome" through a crowd of people
Deutschlands Abkehr von der Willkommenskultur: 2015 strömten viele Menschen an die Bahnhöfe, um syrische Flüchtlinge willkommen zu heißen. Nach Jahren hoher Zuwanderungsraten ist von Willkommenskultur nicht mehr viel übrig. (Foto: Jens Meyer/AP Photo/picture alliance)

Der Angriff der Hamas auf Israel, der daraus resultierende Gaza-Krieg und ein Anstieg des Antisemitismus haben die Stimmung in Deutschland beim Thema Einwanderung weiter verhärtet.

Essay von Michael Bröning

"Es kommen zu viele”, erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz in einem Interview mit dem Wochenmagazin Der Spiegel. Der ernste Blick des Bundeskanzlers auf dem Titelbild unterstreicht die Tragweite seiner Erklärung: "Wir müssen endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben.” 

Eine derart erklärungsbedürftige Botschaft des Chefs der deutschen Ampelkoalition wird als Wendepunkt in der innenpolitischen Debatte über Migration angesehen. Doch in vielerlei Hinsicht ist Scholz' eindringliche Sprache Ausdruck eines tiefgreifenden, seit langem schwelenden Politikwechsels. 

Im Juni setzte sich Scholz über Widerstände innerhalb seiner Koalition hinweg und half bei der Durchsetzung eines umfassenden Migrationsabkommens zur Überarbeitung der Asylverfahren der Europäischen Union. Die geplanten neuen Regeln würden es der EU ermöglichen, Verfahrenszentren an ihren Außengrenzen zu errichten. In seiner Rede vor dem Bundestag erklärte Scholz, die Umstrukturierung des "völlig dysfunktionalen” europäischen Einwanderungssystems sei eine "historische“ Errungenschaft. 

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Kürzlich hat die Regierung Scholz einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der Abschiebungen erleichtern soll und zwar durch eine Verlängerung der maximalen Dauer der Abschiebehaft, eine Vereinfachung des Abschiebungsverfahrens für verurteilte Straftäter sowie durch die Einführung vorübergehender Grenzkontrollen innerhalb der europäischen Gemeinschaft zur Begrenzung der irregulären Migration. 

Darüber hinaus distanzierte sich Scholz von der Entscheidung, Nichtregierungsorganisationen, die Such- und Rettungsaktionen im Mittelmeer durchführen, finanziell zu unterstützen, und betonte, die entsprechenden Mittel seien vom Parlament und nicht von seiner Regierung genehmigt worden. 

Umschwung in der öffentlichen Meinung

Diese drastische Abkehr von der vielgerühmten Willkommenskultur des Jahres 2015, als die Deutschen in Scharen auf die Bahnhöfe strömten, um syrische Flüchtlinge willkommen zu heißen, ist vor allem auf die hohe Migration der letzten Jahre zurückzuführen. 

Deutschland ist seit langem Hauptaufnahmeland von Asylsuchenden in der EU. Die Zahl der Menschen, die in Deutschland humanitären Schutz suchen, stieg von 2021 bis 2022 um 1,14 Millionen. Dabei handelt es sich um einen der höchsten Zuwächse im Jahresvergleich seit 2007, als das Statistische Bundesamt mit der Erfassung dieser Daten begann. 

Dieser Trend setzt sich auch dieses Jahr fort und hat in Verbindung mit der drohenden Rezession und den strapazierten Ressourcen auf lokaler Ebene zu einem deutlichen Umschwung der öffentlichen Meinung in Deutschland geführt.

Die Bedenken hinsichtlich der Einwanderung erstrecken sich inzwischen quer durch alle politischen Lager: 44 Prozent der Deutschen halten das Thema für das wichtigste Problem, mit dem das Land konfrontiert ist. 

Gleichzeitig sind fast zwei Drittel der Wählerinnen und Wähler mit der Regierungskoalition unzufrieden und Umfragen zeigen, dass sich die fremdenfeindliche Alternative für Deutschland (AfD) als zweitstärkste Partei in Deutschland etabliert hat.

Deutlich wurde dies bei den jüngsten Landtagswahlen in Bayern und Hessen. Die Regierungsparteien mussten deutliche Verluste hinnehmen, während sowohl die konservativen Christdemokraten als auch die rechtsextreme AfD zulegen konnten. 

Koalition unter Druck

Scholz, der bereits von rechts unter Druck steht, sieht sich nun einer weiteren politischen Herausforderung gegenüber: Ende Oktober kündigte die ehemalige Linksaußen-Galionsfigur Sahra Wagenknecht die Gründung einer neuen Partei an. Die in Ostdeutschland geborene und aufgewachsene Wagenknecht war lange Zeit eine zentrale Figur der postkommunistischen Partei Die Linke und ist bekannt für ihre Fokussierung auf Wählerinnen und Wähler der Arbeiterschicht, ihre Kritik an der Militärhilfe für die Ukraine – und ihre lautstarken Forderungen nach einer Begrenzung der Migration. 

Im Jahr 2021 veröffentlichte die oft und wortgewandt in deutschen Talkshows auftretende Wagenknecht einen in Buchform gegossenen Rundumschlag gegen die von ihr als „selbstgerecht“ bezeichneten Linksliberalen, der sofort zu einem Bestseller wurde. Aktuellen Umfragen zufolge würden erstaunliche 27 Prozent der deutschen Wählerinnen und Wähler eine Unterstützung ihrer neuen Partei in Erwägung ziehen. 

Vor diesem Hintergrund gleicht Scholz' sprachlicher Kurswechsel in Sachen Zuwanderung einer verzweifelten Suche nach der Notbremse. Untätigkeit käme ihm zwar teuer zu stehen, doch Gleiches gilt auch für aktive Maßnahmen. So wird er mit seiner harschen Wortwahl wohl mit ziemlicher Sicherheit die Grünen verärgern, einen Koalitionspartner, der sich rühmt, Migranten willkommen zu heißen. 

Außerdem sieht sich Scholz auch wachsender Kritik aus den eigenen Reihen gegenüber. Die SPD-Jugend hat sich gegen die Verschärfung der Einwanderungsgesetze ausgesprochen und erklärt, es hätte „keinen Sinn, in das Lied der Rechten einzustimmen.“ Darüber hinaus hat der Widerstand von Zivilgesellschaft, religiösen Führern und progressiven Medien in der Vergangenheit dazu geführt, dass es politisch riskant war, eine schärfere Haltung zur Migration einzunehmen. 

Polarisierung statt politischem Konsens

Vorerst hat jedoch der eskalierende Konflikt im Nahen Osten die Voraussetzungen für diese Debatte verschoben. Durch ein komplexes Wechselspiel von Ereignissen hat der Krieg in Gaza viele Deutsche dazu bewogen, die zuvor sakrosankte Einwanderungspolitik zu hinterfragen. In der Folge ist die Polarisierung einem politischen Konsens gewichen. 

Die Ermordung von über 1.000 israelischen Zivilisten durch die Hamas hat große Teile der deutschen Öffentlichkeit zutiefst entsetzt. Allerdings war es für viele auch ein Schock, als sie sehen mussten, dass ihre Empfindung bei weitem nicht von allen geteilt wurde. 

Ein beträchtlicher Teil der Zugewanderten in Deutschland – vielfach mit familiären Verbindungen in den Nahen Osten und in benachteiligten Stadtvierteln wohnhaft – kam zu radikal anderen Einschätzungen und Mitgefühlsbekundungen.    

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Seit dem Massaker vom 7. Oktober hat der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus in Deutschland mehr als 200 antisemitische Vorfälle registriert, darunter auch einen Brandanschlag auf eine Synagoge. Und im Berliner Stadtteil Neukölln erlangte eine islamische Gruppe traurige Berühmtheit, als sie auf der Straße Süßigkeiten verteilte, um die Brutalität der Hamas zu feiern. 

Für viele Deutsche trifft der Anstieg des Antisemitismus den Kern ihrer Identität nach dem Holocaust: nämlich die Idee des "Nie wieder“. Gleichzeitig dient dieser Antisemitismus als offenbar unwiderlegbarer Beweis für die Herausforderungen der Integration. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gab die allgemeine Stimmung wieder, als er die Öffentlichkeit daran erinnerte, dass "jeder, der hier lebt, Auschwitz kennen und die Verantwortung begreifen muss, die daraus für unser Land erwächst” 

So hat die Empörung über das Verhalten einiger weniger auf überraschende - und nicht unbedingt nuancierte - Weise eine Kehrtwende in der Migrationspolitik legitimiert, die tausende weitere Menschen betreffen könnte. 

Es ist unklar, ob dieser Konsens Bestand haben wird oder ob dieser drastische Wandel in Rhetorik und Maßnahmen ausreichen wird, um die besorgte Öffentlichkeit zu beschwichtigen. Klar ist im Moment, dass Deutschlands Willkommenskultur zum unerwarteten Opfer des Krieges zwischen Israel und der Hamas geworden ist. 

Michael Bröning

Übersetzung: Helga Klinger-Groier 

© Project Syndicate 2023

Michael Bröning ist Politikwissenschaftler und Publizist. Zuletzt ist sein Buch "Vom Ende der Freiheit (Dietz, 2021) erschienen. Er ist Mitglied der Grundwertekommission der SPD.