Zwischen Sympathie und Ablehnung

Am 13. Oktober haben hunderttausende Iraker in Bagdad bei einer der wahrscheinlich größten pro-palästinensischen Kundgebungen demonstriert.
Am 13. Oktober haben hunderttausende Iraker in Bagdad bei einer der wahrscheinlich größten pro-palästinensischen Kundgebungen weltweit demonstriert. (Foto: Murtadha J. A. Al-sudani/AA/picture alliance)

Unter Saddam Hussein wurden die im Irak lebenden Palästinenser hofiert und nach seinem Sturz 2003 schikaniert. Seit dem 7. Oktober erfahren sie die Solidarität weiter Teile von Politik und Gesellschaft.

Von Birgit Svensson

"Ich weiß, dass die Leute im Westen von mir hören wollen, dass ich die Hamas verurteile“, sagt Rawan Al-Zaidi in Bagdad, "aber das kann ich nicht“. Die Welt hatte die Palästinenser vergessen, jetzt seien sie wieder in aller Munde. Dank Hamas. "Was immer Israel auch tut, je mehr Grausamkeiten seine Armee an unserem Volk verübt, desto stärker wird die Hamas. Sie werden sie nie ausschalten können.“ Auch der Gefangenenaustausch jetzt bringe der Hamas noch mehr Sympathien ein. 

Rawan sitzt in einem kleinen Café, das sich “Branch” nennt, im vornehmen Bagdader Viertel Dschadria, etwa 100 Meter vom teuersten Hotel der irakischen Hauptstadt entfernt, in dem viele westliche Diplomaten ein- und ausgehen. Seitdem der Gaza-Krieg vor fast acht Wochen begann und Israel Vergeltung für das Massaker der Hamas in israelischen Kibuzzim übt, kann die 27-Jährige nicht mehr schlafen. Sie hat sich in sich zurückgezogen, ist apathisch geworden.  

Die ansonsten quirlige junge Frau, der vorher die Worte nur so aus dem Mund sprudelten, die voller Energie immer neue Aufgaben übernahm, zur erfolgreichen Unternehmerin wurde, einen Mann und zwei Kinder hat, ist plötzlich verstummt. Was mit ihren Leuten im Gazastreifen und Westjordanland geschehe, könne sie kaum verkraften. Im “Branch” trifft sie Gleichgesinnte und kann sich austauschen.  

Das Café Branch in Bagdad, das zum Refugium für Rawan al Zaidi geworden ist.
Das Café Branch in Bagdad ist zum Refugium für Rawan al Zaidi geworden. Seitdem der Gaza-Krieg vor fast acht Wochen begann und Israel Vergeltung für das Massaker der Hamas in israelischen Kibuzzim übt, kann die 27-Jährige nicht mehr schlafen. Im "Branch" trifft sie Gleichgesinnte. (Foto: Birgit Svensson)

“Das ist doch keine Verteidigung mehr”

Obwohl Rawan im Irak geboren ist und die irakische Staatsbürgerschaft besitzt, fühlt sie sich momentan ganz als Palästinenserin. Ihre Familie stamme aus einem kleinen Dorf im Westjordanland, das Deir al Sudan heißt und nicht weit von Ramallah entfernt sei, erzählt sie.

Ihre Cousine habe als Ärztin im Shifa-Krankenhaus in Gaza gearbeitet. Seitdem Israel den Gazastreifen fast rund um die Uhr bombardiert und Bodentruppen für den Häuserkampf geschickt hat, habe sie von ihrer Cousine nichts mehr gehört.  

Was im Shifa passiert ist, sei unfassbar. "Netanjahu nennt das Sich Verteidigen?“ Dass Israel das Recht auf Verteidigung habe, attestiert ihm nahezu jeder europäische Staat und auch Hauptverbündeter USA.

Doch werden immer mehr Stimmen laut, die den israelischen Premier fragen, wie umfassend sein Verteidigungsbegriff eigentlich sei. "Das ist doch keine Verteidigung mehr“, sagt Rawan, "das ist ein Genozid an den Palästinensern“.  

Seit Wochen demonstrieren die Menschen im Nahen und Mittleren Osten gegen Israel, ob im Libanon, in Jordanien, Ägypten, im Jemen oder Irak. Dabei machen sie keinen Unterschied zwischen der Hamas und den Palästinensern, der Zivilbevölkerung im Gazastreifen. 

Hamas wird hier nicht, wie in den westlichen Ländern und in Israel als Terrororganisation gesehen, sondern als Befreiungsbewegung. Je blutiger die Bilder vom Bodenkrieg über die Bildschirme aller TV-Sender flimmern, je mehr Videos aus Gaza herausdringen, desto aufgeheizter wird die Stimmung.  

Prediger, Politiker und Populist: Muktada al-Sadr, Wahlsieger im Irak
Noch vor wenigen Wochen gab er sich als Kämpfer für den Koran, nachdem ein Iraker in Stockholm ein Exemplar des heiligen Buchs der Muslime in Brand gesetzt hatte. Jetzt streitet er für die palästinensische Sache und dafür scheint Religion plötzlich nicht mehr wichtig zu sein: der Prediger, Politiker und Populist Muktada al-Sadr. (Foto: Alaa Al-Marjani/REUTERS)

"Wir alle hier sind für die Palästinenser"

Palästinensische Fahnen und Tücher sieht man überall zur Solidaritätsbekundung. Hilfsaktionen werden koordiniert, Komitees gegründet. Bagdad lieferte eine Bäckerei in den Gazastreifen. Der Irak hat sich an die Spitze der Unterstützer für die Palästinenser gesetzt.   

Ob es tatsächlich eine Million Menschen waren, die zum Tahrir Platz in Bagdad kamen, sei dahingestellt. Es waren jedenfalls Hunderttausende. Einen Kilometer lang war die Strecke vom legendären Protestplatz im Herzen der irakischen Hauptstadt bis zum Wasserturm dahinter. Einen Kilometer lang standen Menschen dicht gedrängt und ließen gerade genug Raum zum Niederknien, als der Imam das Freitagsgebet sprach. 
 
Sie alle waren gekommen, um für die Palästinenser zu demonstrieren und gegen Israel. Es war die größte Kundgebung weltweit seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober. "Wir alle hier sind für die Palästinenser, gegen Israel, gegen Amerika und gegen alle, die Israel unterstützen“, hörte man nahezu gebetsmühlenartig aus jedem Mund. 

"Es ist nicht wichtig, ob der heldenhafte palästinensische Widerstandskämpfer ein Schiit oder ein Sunnit ist“, sagte Muktada al-Sadr, der schiitische Rebell und Kleriker, der zum "Eine-Million-Marsch“ aufgerufen hatte. "Es ist nicht einmal wichtig, ob er überhaupt ein Muslim ist, denn der Kampf gegen den zionistischen Feind ist Ehre, Stolz und Würde.“  

Nach dem Marsch rief Sadr die irakische Regierung in einem Tweet dazu auf, die Beziehungen zu den USA als uneingeschränktem Unterstützer Israels zu beenden, ihre Militärbasen und die Botschaft im Irak zu schließen. Sollte dies nicht geschehen, drohte er, selbst "geeignete Maßnahmen zu ergreifen“.  

Religion ist jetzt zweitrangig

Noch vor wenigen Wochen gab sich Sadr als Kämpfer für den Koran. Nachdem ein Iraker in Stockholm ein Exemplar des heiligen Buchs der Muslime in Brand gesetzt hatte, ließ Sadr seine Anhänger die schwedische Botschaft in Bagdad stürmen und sie in Flammen aufgehen.  

Jetzt steht er im Kampf für die palästinensische Sache und dafür scheint Religion plötzlich nicht mehr wichtig zu sein. Irgendwie hatte der Aufmarsch einen Hauch von Mobilmachung. Mitglieder von Schiitenmilizen sollen sich daraufhin an der Grenze zu Jordanien versammelt haben, bereit für die mehrheitlich sunnitischen Palästinenser zu kämpfen.  

Rawan und ihre Freunde gehen nicht zu den Demonstrationen, die Muktada al-Sadr initiiert. Sie wollen nicht vereinnahmt werden. Auch in den sozialen Medien gibt es jede Menge Kritik an der Haltung des schiitischen Klerikers. Denn die Haltung im Irak war nicht immer propalästinensisch.
 
Während Saddam Hussein die Palästinenser in seinem Land willkommen hieß, ihnen Unterschlupf gewährte und die Familien der getöteten "Märtyrer“ im Kampf gegen Israel sogar finanziell unterstützte, forderten die nach dem Sturz des Diktators 2003 regierenden Schiiten die Palästinenser auf, den Irak zu verlassen. Manche sprechen von Deportation.   

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Fragiler Aufenthaltsstatus

Wochenlang strandeten damals viele Palästinenser an der irakisch-jordanischen Grenze, bis sie in den Gazastreifen und das Westjordanland weiterreisen konnten. Von ehemals 34.000 Palästinensern im Jahr 2003 leben heute nur noch knapp 4.000 im Irak, allerdings ohne geklärten Aufenthaltsstatus. Jedes Jahr, so weiß Rawan, müssten sie zur Ausländerbehörde, um die Verlängerung ihrer Visa zu beantragen.  

Sie selbst sei eine Ausnahme. Ihre irakische Mutter habe ihr die Staatsbürgerschaft ermöglicht. Mit derartigen Vorwürfen von Doppelzüngigkeit konfrontiert, ist es mittlerweile ruhiger geworden um die Solidaritätsbekundungen von al-Sadr und seinen Anhängern. Doch sein zweites Ziel verfolgt der schiitische Kleriker nach wie vor: die Unterstützer Israels aus dem Land zu bekommen. Und es scheint, dass er einige proiranische Kräfte sowohl bei den Schiitenmilizen als auch in der Regierung dafür gewinnen konnte. 

Seit dem “Eine-Million-Marsch" am 13. Oktober gab es insgesamt 66 Angriffe auf Stützpunkte der Amerikaner und ihrer Alliierten – 34 im Irak, 32 in Syrien – so viele wie seit dem Sieg über die Terrormiliz Islamischer Staat in 2017 nicht mehr. Die Strategie der von Iran und Syrien angeführten "Achse des Widerstandes“ ist es, Israel in Konflikte mit seinen Nachbarn zu verwickeln. Die Hisbollah im Libanon und die jemenitischen Huthi-Rebellen schießen Raketen auf Israel, die Iraker arbeiten sich derweil an den amerikanischen Militärbasen im Zweistromland ab. 

Dabei geraten auch die mit den USA verbündeten Deutschen unter Druck. Ziel der Drohnenangriffe proiranischer Milizen im Irak sind vor allem die Stützpunkte am Flughafen im nordirakischen Erbil und in Al Assad östlich von Bagdad. 

Dort sind auch deutsche Soldaten stationiert. In der Kurdenmetropole unterstützen rund 75 Deutsche die Ausbildung kurdischer Streitkräfte, weitere gut zehn betreiben auf der Basis Al Assad ein Luftraumüberwachungsradar. Parallel zur "Counter Daesh“ genannten internationalen Anti-IS-Koalition baut die Nato ihre Ausbildungsmission im Irak auf. Dieser "Nato-Mission in Iraq“ gehören derzeit gut 30 Deutsche an.  

Beim Besuch der Bundeswehrsoldaten im Nordirak fällt auf, dass sich das Lager dort im Vergleich zu früheren Besuchen erheblich verändert hat. Das Camp gleicht jetzt einer Festung. Betonstehlen dominieren das Bild, Stacheldraht und Sandsäcke. Die weißen Wohncontainer für die Soldaten sind auch nach oben hin gesichert. Eine Windmühle aus Holz ist die einzige Dekoration auf dem Gelände und verrät, dass hier auch Niederländer stationiert sind. Die deutsche Bar gibt es noch und die "Oase“, wo die Mahlzeiten eingenommen werden.  

Wie der deutsche Kontingentführer Oberst Dirk Bollinger sagt, habe ein Strategiewechsel stattgefunden, der sich auf die neuen Gegebenheiten einstelle. Der Bundestag hat Ende Oktober einer Verlängerung des Mandats der Deutschen zugestimmt. Bollinger und sein Team sollen ein weiteres Jahr in Erbil bleiben. 

Birgit Svensson 

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