Mikrokredite: Kein Königsweg aus der Armut

Versammlung der Landarbeiterinnen der Bangladesh Kishani Sabha (BKS) im Distrikt Kurigram in Nordbangladesch.
Versammlung der Landarbeiterinnen der Bangladesh Kishani Sabha (BKS) im Distrikt Kurigram in Nordbangladesch. (Foto: Dominik Müller)

Während die Grameen Bank, das große Vorbild der Mikrofinanzindustrie, 2023 ihren 40. Geburtstag feiert, gehen Zehntausende von Textilarbeitern in Bangladesch auf die Straße und streiken für bessere Löhne.

Von Dominik Müller

Im Januar befragte das Bangladesh Institute of Labour Studies über 400 Textilarbeiterinnen und Textilarbeiter, die auch für westliche Modemarken produzieren. Ergebnis: Sie bekommen nicht nur zu wenig Lohn, 70 Prozent der knapp fünf Millionen Arbeiter sind auch hoch verschuldet, unter anderem über Mikrokredite. 

Weil der monatliche Mindestlohn von umgerechnet 70 Euro nicht ausreicht, um die Lebenshaltungskosten zu begleichen, müssen sich viele am Ende des Monats Geld leihen: bei Verwandten, Freunden, Kredithaien oder eben Mikrokredite bei Instituten wie der Grameen Bank. Zum Teil betragen die Schulden das Siebenfache ihres Mindestlohns. Profiteure sind unter anderem mehr als 700 Banken und Mikrofinanzinstitute.   

Folgt man den Ausführungen des Gründers der Grameen Bank, dem Wirtschaftswissenschaftler Mohammad Yunus, müssten die Mikrokredite in Bangladesch längst die Armut reduziert haben. 2006 wurde er als erster Bankier mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. “Ein dauerhafter Frieden kann nur erreicht werden, wenn große Bevölkerungsgruppen Wege finden, um aus der Armut auszubrechen“, so die Begründung der Jury damals, “Mikrokredite sind ein solches Mittel“.  

“Wir verleihen Geld an extrem arme Menschen, damit sie sich ein Einkommen schaffen können. Kleinstkredite bis 100 Dollar, mit Rückzahlung in wöchentlichen Raten“, so Yunus bei der Preisverleihung. 

“Wir verlangen keine Sicherheiten. Man braucht keine Anwälte dafür. Dennoch ist die Rückzahlungsquote sehr hoch: Sie liegt bei 98,99 Prozent.“ Die Mikrofinanzierung sei sehr wichtig, „weil sie den Menschen ermöglicht, selbst Initiative zu ergreifen, ihre eigenen Fähigkeiten zu entwickeln und sich aus der Armut zu befreien“.   

Rikha Begum und ihr Mann
“Den meisten, etwa drei Viertel, bringen die Mikrokredite überhaupt nichts. Ich bekomme das Elend mit“, sagt Rikha Begum, hier mit ihrem Mann. (Foto: Dominik Müller)

Was bei der Preisverleihung nicht erwähnt wurde, sind die hohen Zinssätze von 20 Prozent plus Gebühren. Und dass die zumeist männlichen Geldeintreiber bei Verzug der Ratenzahlung erhebliche Druckmittel anwenden – wenn nicht zuvor schon der Druck der gemeinsamen Haftungsgruppe gewirkt hat, in der sich die Kreditnehmerinnen zusammenschließen müssen. 

Denn ist eine Kreditnehmerin regelmäßig säumig bei den wöchentlichen Ratenzahlungen, erhält kein Mitglied der Gruppe mehr einen Kredit.  

“Wenn mein Kind krank ist, wage ich nicht, es meiner Nachbarin zu erzählen“, so Sufia Begum aus dem Dorf Kandha Para im Distrikt Tangail, “denn das könnte bedeuten, dass ich, statt die Rate zu bezahlen, Medikamente für mein Kind kaufe”. Und das bedeutet Ärger mit den Anderen. Sufia Begum ist nicht die Einzige, die Probleme mit den Ratenzahlungen hat.  

“Nur wenige aus unserem Dorf haben es tatsächlich geschafft, der Armut zu entkommen“, sagt sie. “Den meisten, etwa drei Viertel, bringen die Mikrokredite überhaupt nichts. Ich bekomme das Elend mit“, erzählt Rikha Begum, die im gleichen Dorf wohnt. „In den Gruppen streiten sie sich oft, die Leute haben schlaflose Nächte, wenn die Ratenzahlungen anstehen." Deshalb habe sie nie einen Kredit aufgenommen.  

 Die Frauenrechtlerin Farida Akther
Vor allem Frauen gehören seit jeher zum Klientel der Grameen Bank. "Frauen sind gefügiger und leichter kontrollierbar, dieses Frauen- und Menschenbild steckt hinter der heute gängigen Praxis, an Frauen Mikrokredite zu vergeben“, so Farida Akther, Frauenrechtlerin aus Bangladesch. (Foto: Dominik Müller)

Sie gehört allerdings auch zu den wohlhabenderen Dorfbewohnerinnen. Ihr Mann kauft Obst und Gemüse im Dorf und verkauft es auf dem nahegelegenen Großmarkt. Auch ihr eigener Acker wirft etwas ab. Andere kommen schneller in die Situation, sich verschulden zu müssen: für medizinische Behandlung, für die Ausbildung der Kinder oder einfach, um die Familie zu ernähren. 

Eine Einkommen schaffende Tätigkeit bauen nur wenige mit einem Mikrokredit auf, und die Geldverleiher der Grameen Bank und anderer Institute interessiert das auch nicht. Hauptsache, die Raten werden zurückgezahlt.    

Vor allem Frauen gehören seit jeher zum Klientel der Grameen Bank. "Frauen sind gefügiger und leichter kontrollierbar, dieses Frauen- und Menschenbild steckt hinter der heute gängigen Praxis, an Frauen Mikrokredite zu vergeben“, so Farida Akther, Frauenrechtlerin aus Bangladesch. 

"Das geschieht nicht, weil die Grameen Bank und andere Mikrofinanzinstitute den Frauen besonders helfen wollten, sondern weil sie die Raten zuverlässiger zahlen als Männer.“  

Seit der Preisverleihung ist die Grameen-Bank weltweit zum Modell für viele Mikrofinanzinstitute geworden, gefördert von zahlreichen Entwicklungsministerien des Westens, die wie die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) finanziell von den Mikrokrediten profitieren. 

Es ist ein boomendes Geschäftsfeld, in dem heute 150 Milliarden Dollar weltweit im Umlauf sind, 2010 waren es noch 70 Milliarden. Und die Aussichten für Investoren sind gut: Bis 2026 könnte sich der Betrag erneut verdoppeln, schätzen Experten.  

 

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Der Wohlfahrtsstaat als Monster

Mikrokredite sind ein gigantisches Programm der Umverteilung, auf nationaler wie internationaler Ebene: Die Grameen Bank bietet zum Beispiel Sparprogramme und Bonds an, die sie verzinst. Vor allem die kleine wohlhabende Schicht in Bangladesch legt so ihr Geld an. Das wird dann als Mikrokredit an arme Familien weitergegeben. 

Oder ausländische Investoren kassieren bis zu neun Prozent Zinsen für Geld, das sie den Mikrofinanzinstituten ausleihen. Auch sogenannte ethische Investoren aus Europa und den USA kassieren ähnlich hohe Zinsen von Mikrofinanzinstituten, obwohl sie ihren Anlegern nur bis zu zwei Prozent Dividende ausschütten.  

Fest steht: Die Kreditnehmerinnen in den Ländern des globalen Südens müssen mit ihren Ratenzahlungen die Zinsen der Anleger erwirtschaften.  

“In den Vereinigten Staaten sah ich, dass die Marktwirtschaft das Individuum befreit und ihm gestattet, seine persönliche Wahl zu treffen“, schreibt Muhammad Yunus in seiner Autobiografie über seine Studienzeitin den USA Anfang der 1970er Jahre.

Öffentliche Verwaltung ist ihm ein Dorn im Auge. Sie habe, da nicht profitorientiert, “kein Interesse daran, ihre eigene Effizienz zu steigern. Ein weiterer Nachteil: Die Regierung kann Sozialhilfe unter keinen Umständen reduzieren, ohne gewaltige Proteste seitens der Bevölkerung zu riskieren. Auf diese Weise verewigt sich die Ineffizienz des Monsters“.  

Der Wohlfahrtsstaat als “Monster“ – damit stellt der “Bankier der Armen“ die einzigen Strukturen in Frage, die den Armen im Kapitalismus Linderung und Hilfe verschaffen. “Alle staatlichen Wohlfahrtsorganisationen würden nicht mehr gebraucht und könnten abgeschafft werden“, behauptet er in seiner Autobiographie. Der Geldkreislauf würde alle Lebensverhältnisse durchdringen – ”Financial inclusion“ heißt das in der modernen Entwicklungspolitik.  

In Bangladesch, verkündete Yunus vor nicht einmal zwanzig Jahren, könne man mit Hilfe von Kleinstkrediten und Unternehmertum bis 2030 sogar die “Armut ins Museum“ verbannen. Die Realität sieht anders aus: Die Regierung Bangladeschs hat am 7. November den neuen Mindestlohn auf 106 Euro festgelegt. Die Gewerkschaften haben das Doppelte gefordert, das braucht es Studien zufolge für ein menschenwürdiges Leben in Bangladesch. 

Bei den wochenlangen Protesten gab es drei Tote und unzählige Verletzte, viele Arbeiterinnen und Arbeiter wurden wegen ihrer Teilnahme an Demonstrationen und Streiks verklagt. Für die Beschäftigten bedeutet der neue Mindestlohn: Sie müssen weiter um ihr Überleben kämpfen. Sie sind gezwungen, exzessive Überstunden zu machen, Mahlzeiten ausfallen zu lassen oder ihre Kinder statt in die Schule zur Arbeit zu schicken. Und immer wieder neue Kredite aufzunehmen. Ein Teufelskreis. 

Dominik Müller 

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