"Es ist unklar, wer die Zukunft der Bruderschaft gestalten darf“

Ägypter demonstrieren gegen den Muslimbruder Mohammed Mursi.
Ägypter demonstrieren gegen Mohamed Mursi von den Muslimbrüdern, der von 2012 bis 2013 der erste frei gewählte Präsident des Landes war. (Foto: Getty Images)

Seit dem Militärputsch in Ägypten vor zehn Jahren geht die Regierung unter Abdel Fattah al-Sisi mit aller Härte gegen die Muslimbruderschaft im Land vor. Wie hat sich die Organisation seit 2013 entwickelt? Fragen an den Autor und Wissenschaftler Abdelrahman Ayyash

Interview von Hannah El-Hitami

Herr Ayyash: In Ihrem Buch über die existentielle Krise der Muslimbruderschaft schreiben Sie: "Kein Mitglied würde die Bruderschaft als bloße politische Partei, soziale Bewegung oder religiöse Sekte bezeichnen. Sie ist nichts von alledem. Sie ist alles davon." Können Sie genauer erklären, wie diese verschiedenen Aspekte zusammengehen? 

Abdelrahman Ayyash: Wer der Muslimbruderschaft (MB) beitritt, sieht darin mehr als nur eine politische Partei. Sie sehen eine ganze Gemeinschaft, eine Gesellschaft; Menschen, die ihnen bei der Job- oder Partnersuche helfen und die nach ihrem Tod zu ihrer Beerdigung kommen. Ich bin selbst in einer MB-Familie aufgewachsen. 

Mitglieder der Bruderschaft waren von klein auf Teil meines Lebens: im Kindergarten, in der Grundschule, an der Universität, bei den Ärzten, zu denen ich ging. Nachdem ich Anfang 2011 aus der MB ausgetreten war, hatte ich monatelang Zahnschmerzen, weil ich keine Zahnärzte kannte, die nicht MB-Mitglieder waren. 

Aber einen politischen Aspekt gibt es schon auch, oder? 

Ayyash: Für die meisten Mitglieder ist die MB nicht politisch. Viele von ihnen kritisieren sogar, dass die MB viel politischer geworden ist, als sie es wollte. So wie die MB gegründet wurde und wie die meisten sie sehen, ist sie eine religiöse Bewegung und eine Gemeinschaft. Mehr noch: Sie sehen sich selbst als ein eigenständiges, exklusives Volk. Ich denke, das passende Äquivalent zur MB wäre eine Kirchengemeinde. Sie umfasst viele Aspekte des Lebens, nicht nur politische.  

Protestveranstaltung von Anhängern des gestürzten ägyptischen Präsidenten Mohamed Mursi nach dessen Sturz, Amman, Dezember 2014
Protestveranstaltung von Anhängern des ägyptischen Präsidenten Mohamed Mursi nach dessen Sturz, Amman, Dezember 2014 (Foto: AFP/Getty Images/K. Mazraaw)

Eine Schule des politischen Aktivismus

Sie schreiben, dass Sie als junger Mann Hemmungen hatten, aus der MB auszutreten, weil es in Ägypten nicht viele Alternativen für politischen Aktivismus gab. Sie erwähnen in Ihrem Buch auch, dass Mohammad Adel ein ehemaliges Mitglied war, der Gründer der 6. April Bewegung, die maßgeblich zum Ausbruch der Revolution in Ägypten beigetragen hat. Außerdem war auch der ehemalige Präsident Gamal Abdel Nasser Mitglied. Ist die MB eine Schule für politischen Aktivismus in Ägypten? 

Ayyash: In gewisser Weise, ja. In Ägypten ist der öffentliche Raum für jeglichen politischen Aktivismus verschlossen. In so einer Umgebung bietet die MB eine Möglichkeit, sich im Untergrund zu organisieren. Sie erlaubt jungen Menschen, ihrer Gemeinschaft zu dienen, im Einklang mit dem Islam und dem konservativen Charakter ihrer Gesellschaft. Im Kontext von Themen wie dem Nahostkonflikt oder der US-Invasion im Irak konnte die MB schon immer sehr viele Mitglieder anwerben. Diese Themen betreffen oder interessieren zumindest jeden und die MB teilt die gleiche Position wie die Mehrheit der Ägypter. 

In Ihrem Buch erwähnen Sie, dass die MB teils sehr konservative Positionen vertrat, von denen sie eigentlich nicht überzeugt war - zum Beispiel bei der weiblichen Genitalverstümmelung -, um ihren konservativen Anhängern zu gefallen. Bedeutet das, dass die MB in Wirklichkeit weniger konservativ ist, als sie sich selbst darstellt? 

Ayyash: Mir ist wichtig zu erwähnen, dass die MB keine kohärente Organisation in Bezug auf ihre sozialen und politischen Normen ist. Die MB ist eine Denkschule, die ein breites Spektrum unterschiedlicher und in einigen Fällen widersprüchlicher sozialer Normen vereint. Um die Organisation inklusiver zu machen, haben die Anführer und Theoretiker der MB die Auswirkungen sozialer und religiöser Unterschiede (z. B. in Bezug auf die islamischen Rechtsschulen) heruntergespielt. Im Laufe der Jahre gab es viele Veränderungen. Zu Beginn war die MB ein urbanes Phänomen, das von kosmopolitischen Städten wie Ismailiya und Kairo geprägt war.  

In den letzten 20 bis 30 Jahren wurde die MB immer ländlicher und das hat zu konservativeren Positionen geführt. Die ägyptische Gesellschaft insgesamt ist konservativer geworden, was auf die Arbeitsmigration in die Golfstaaten und die Einflussnahme insbesondere Saudi-Arabiens auf die religiöse Sphäre in Ägypten zurückzuführen ist. Auch der Aufstieg des Salafismus hat eine sehr wichtige Rolle bei der Gestaltung der politischen und religiösen Agenda der MB gespielt, insbesondere nach der Revolution 2011

 

Der "Vordenker" der Muslimbrüder: der Journalist Sayyid Qutb, hier während seines Prozesses Mitte der 1960er Jahre.
Der Vordenker der Muslimbrüder: der Journalist Sayyid Qutb, hier während seines Prozesses Mitte der 1960er Jahre. Unter dem Einfluss von Qutb wurde die Muslimbruderschaft zu einer verschlossenen Organisation, die die gesamte Gesellschaft als eine Bedrohung ansieht. (Foto: picture-alliance/AA/I. Yakut)

In Konkurrenz zum Salafismus

Um mit der immer populärer werdenden salafistischen Bewegung zu konkurrieren, näherte die MB sich also selbst salafistischen Positionen an? 

Ayyash: Ja, genau. Sie wollten die Anhänger der Salafisten für sich gewinnen, also wurden sie sozial konservativer. Das Gleiche passiert in Deutschland: Als die AfD auftauchte, versuchten die anderen Parteien, deren Anhänger abzuwerben, indem sie sich ihren Positionen annäherten. Auch in der Türkei gab es eine ähnliche Entwicklung in Bezug auf Ausländerfeindlichkeit. Während diese zunächst auf die rechtsextremen Parteien beschränkt war, wurde sie bei den letzten Wahlen von anderen Parteien aus dem gesamten politischen Spektrum teilweise oder vollständig übernommen.  

Lassen Sie uns über die Rolle der MB bei der ägyptischen Revolution sprechen. Sie schreiben, dass "die Muslimbruderschaft im Kern eine konterrevolutionäre Organisation" war. Aber viele junge MB-Mitglieder schlossen sich den Protesten 2011 und danach an. Hat sich die Gruppe über die Frage gespalten, ob sie sich der Revolution anschließen soll oder nicht? 

Ayyash: Ich würde nicht von massiven Spaltungen sprechen. Nur ein paar Dutzend Aktivisten in der Organisation waren von Anfang an gegen den Willen der Führungsspitze für die Teilnahme an der Revolution. Zahlenmäßig gab es relativ wenige junge Leute, die mit der Führung der Gruppe nicht einverstanden waren. Die meisten Mitglieder gehören der Mittelschicht an, sind konterrevolutionär und akzeptieren keinen radikalen Wandel.  

Selbst bei den Protesten auf dem Platz Rabaa in Kairo war die Mehrheit der MB-Mitglieder nicht anwesend. Zum Zeitpunkt des Massakers am 14. August befanden sich schätzungsweise 50.000 Demonstranten auf dem Platz, was in keiner Weise das Rekrutierungspotenzial der MB widerspiegelt. 

Mehr als fünf Millionen Menschen haben 2012 in der ersten Runde der Wahlen für den MB-Kandidaten Mohamed Mursi gestimmt. Natürlich waren nicht alle von ihnen MB-Mitglieder, aber ich denke, das zeigt das tatsächliche Mobilisierungspotenzial der MB. 

Der Autor und Wissenschaftler Abdelrahman Ayyash
In seinem Buch "Broken Bonds - The Existential Crisis of Egypt’s Muslim Brotherhood 2013-22“ schreibt Abdelrahman Ayyash über die existentielle Krise der Muslimbruderschaft seit dem Militärputsch in Ägypten 2013. (Foto: privat)

In der Identitätskrise

In Ihrem Buch beschreiben Sie, dass die MB seit 2013 drei Krisen durchläuft: eine Identitätskrise, eine Legitimationskrise und eine Mitgliederkrise. Können Sie bitte die drei Krisen kurz zusammenfassen? 

Ayyash: Die Identitätskrise bezieht sich grob auf das eben erwähnte Thema Salafismus und Konservatismus. Die MB ist sich nicht sicher, welche Art von Organisation sie sein will und welche Art von Anhängern sie anziehen will. In ein und derselben Gruppe finden sich sehr konservative, aber auch liberale und linke Mitglieder, sowohl im wirtschaftlichen als auch im sozialen Sinn.  

Die Vorstellungen in Bezug auf Frauenrechte können unterschiedlich sein: Einige würden ihren Töchtern erlauben, allein zu reisen oder im Ausland zu studieren, andere würden das niemals akzeptieren. 

Es gibt widersprüchliche Definitionen, was ein guter Muslim ist. Und es gibt unterschiedliche Vorstellungen davon, was die MB erreichen sollte und wie. Grundlegende Fragen, zum Beispiel nach der Anwendung von Gewalt, sind unter den Anführern umstritten. Sie mögen sich einig sein, dass das ultimative Ziel Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind, wie Gründer Hassan al-Banna (1906-1949) es erklärt hat. 

Aber verschiedene hochrangige Anführer legen seine Worte unterschiedlich aus, um revolutionäre Aktionen oder Gewalt gegen die Regierung und die Sicherheitskräfte entweder zu unterstützen oder abzulehnen. 

Und wer hat das letzte Wort? 

Ayyash: Das bringt uns zur Legitimationskrise. Wer hat das Recht, die Bewegung zu führen? Diese Krise hat sich schon oft gezeigt, aber jetzt ist sie deutlicher als je zuvor. Zu verschiedenen Zeitpunkten wurde die Legitimation der Führung aus drei verschiedenen Quellen abgeleitet: Die erste ist die Legitimation der Gründungsmitglieder, der Anhänger aus dem Umfeld al-Bannas, die die Bewegung mit ihm gegründet haben. Sie führten die Bewegung bis in die 80er und 90er Jahre an. Dann verloren sie allmählich ihren Einfluss auf die Organisation. Die zweite Quelle der Legitimation besteht im erfahrenen Leid, und diese Quelle ist bis heute sehr wichtig.   

Legitimation durch Leid

Sie erwähnen das in Ihrem Buch: die Legitimation durch das Leid, welches Mitglieder im Gefängnis erfahren haben.  

Ayyash: Die Hafterfahrung ist der Weg, um die Unterstützung der Mitglieder zu gewinnen. Bis heute sprechen viele Führer darüber, wie viele Jahre sie im Gefängnis verbracht haben. Manche Leute sagen sogar, dass das ägyptische Regime jemanden zu einem Anführer innerhalb der MB machen kann, wenn es ihn nur für ein paar Jahre inhaftiert.  

Die dritte Quelle der Legitimation sind Wahlen. Bis zu einem gewissen Grad ist die MB demokratisch, theoretisch jedenfalls. Diese Instrumente werden zwar von einigen Führern manipuliert, aber es gibt sie. Seit dem Militärputsch von 2013 hat sich eine neue Quelle der Legitimation entwickelt: Legitimation durch Leistung. Sie wird denjenigen Mitgliedern zuteil, die sich mit Gewalt gegen das Regime aufgelehnt haben. Da niemand in der Führung derzeit eine Strategie hat, haben diese Leute den Mitgliedern eine Art Trost gespendet. Sie haben den Gräueltaten des Regimes zumindest etwas entgegengesetzt. 

Es gibt also einen ständigen Kampf zwischen den Anführern mit unterschiedlichen Legitimationsquellen? 

Ayyash: Genau. In den ersten Jahren standen vor allem die Legitimation durch Leid und die Legitimation der Gründungsmitglieder gegeneinander. Danach war es der Konflikt zwischen Leid und Wahlen. Und jetzt spielt die Legitimation durch Leistung eine immer wichtigere Rolle. Das hängt wiederum zusammen mit der dritten Krise, der Krise der Mitgliedschaft: Eine beträchtliche Anzahl von MB-Mitgliedern befindet sich aktuell im Gefängnis oder außerhalb Ägyptens. Nicht die Mehrheit, aber ein großer Teil. 

Es gibt verschiedene Stufen der Mitgliedschaft in der MB und einige Mitglieder hatten noch keine hohe Stufe erreicht, als sie Ägypten verließen oder verhaftet wurden. Nun stellt sich also die Frage, ob jemand mit einer niedrigen Mitgliedsstufe, der in der Türkei im Exil lebt, wählen darf. Was den Leidensweg angeht, hat er es verdient, aber was die Mitgliedsstufen angeht, ist er kein vollwertiges Mitglied. Es ist unklar, wer ein Mitspracherecht bei der Gestaltung der Zukunft der Bruderschaft haben soll.

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In den 1960er Jahren wurden Tausende von MB-Mitgliedern inhaftiert und während dieser Zeit radikalisierte sich die Organisation. Sehen Sie die letzten zehn Jahre als eine ähnliche Phase an? In Ihrem Buch erwähnen Sie, dass es nach 2013 eine Wende hin zur Gewalt gab. 

Ayyash: Nein, diese Phase ist anders. In den 60er Jahren gab es Sayyid Qutb (1906-1966) als charismatischen Anführer, der eine ganz neue Philosophie entwickelt hatte. Sie basierte zwar zum Teil auf der Erfahrung von Haft und Folter, war aber nicht nur eine Reaktion darauf, sondern das Ergebnis intellektueller Prozesse. So etwas gibt es im Moment nicht. Niemand beschäftigt sich intellektuell mit der Frage, ob Gewalt der richtige Weg ist. Die Menschen sind einfach frustriert, sie wollen Rache und versuchen, eine religiöse Rechtfertigung dafür zu finden. Ein paar akademische Arbeiten und intellektuelle Theorien gibt es schon, aber sie haben keinen großen Einfluss. 

Wie hat die jahrzehntelange Unterdrückung die MB geprägt? 

Ayyash: Zu Hassan al-Bannas Zeiten war die MB relativ inklusiv. Jeder konnte beitreten, es gab öffentliche Debatten, Polizisten waren Mitglieder und bei Zeremonien waren Regierungsbeamte anwesend. Seit den 70er Jahren, als die Mitglieder der MB aus dem Gefängnis kamen, und unter dem Einfluss von Sayyid Qutb, wurde die MB zu einer verschlossenen Organisation, die die gesamte Gesellschaft als eine Bedrohung ansieht und die sich isoliert, um ihre Reinheit zu bewahren. 

Hat die Unterdrückung die MB zur Gewalt geführt? 

Ayyash: Viele Wissenschaftler, die sich mit der MB beschäftigen, verteidigen sie mit diesem Argument: Die staatliche Unterdrückung sei schuld am Auftauchen gewalttätiger Strömungen. Ich glaube aber, dass die MB auch selbst dafür verantwortlich ist und zwar, weil ihre Ideologie zu schwammig ist.  

Die Leute, von denen ich weiß, dass sie sich gewalttätigen Gruppierungen innerhalb der MB angeschlossen haben, kamen aus sozialen Milieus, in denen Gewalt und Rache sehr verbreitet sind. Die MB-Ideologie war nicht stark genug, um diese gesellschaftlichen Faktoren einzudämmen.  

Sie waren Mitglied der MB und kritisieren, wie wenig Einfluss Frauen und junge Menschen in der Gruppe hatten. Glauben Sie, dass sich dies seither geändert hat? Gibt es eine Chance für eine junge, progressive MB? 

Ayyash: Als ich das Buch schrieb, hatte ich diese Hoffnung tatsächlich. Die meisten unserer Interviewpartner waren junge Leute, die begonnen hatten, Führungspositionen oder einen gewissen Einfluss in der MB zu erlangen. Aber in den letzten Monaten hat sich das Blatt gewendet. Es steht zu viel auf dem Spiel: So viele Mitglieder sind im Gefängnis und ihre Familien sind auf finanzielle Unterstützung durch die MB angewiesen. 

Ohne erfahrene Führungspersönlichkeiten, ist es für die Bewegung sehr schwierig zu manövrieren und ihre Anhänger bei der Stange zu halten. Was die Rolle der jungen Mitglieder angeht, bin ich im Moment nicht so hoffnungsvoll wie früher. Aber die Legitimation der Leistung ist ein wichtiger Faktor geworden. Die Mehrheit der MB-Mitglieder, insbesondere außerhalb Ägyptens, will nicht denselben Anführern folgen, die sie in die schwache und entfremdete Position gebracht haben, in der sie sich heute befinden. 

Das Interview führte Hannah El-Hitami. 

© Qantara.de 2023   

Abdelrahman Ayyash, Amr Elafifi, Noha Ezzat, "Broken Bonds - The Existential Crisis of Egypt’s Muslim Brotherhood 2013-22“, Century Foundation Press 2023 

Abdelrahman Ayyash ist Journalist und Politikwissenschaftler und beschäftigt sich seit Jahren mit islamischen Bewegungen. Er verfasste zahlreiche Beiträge über die Muslimbrüder unter anderem für die Carnegie-Stiftung und die Arab Reform Initiative.