Polarisierung gefährdet die Demokratie 

Die Istiklal-Straße in Istanbul
Die Türkei ist tief gespalten. Hier Menschen in der Istiklal-Straße in Istanbul. (Foto: Emre Eser/DW)

Zu ihrem hundertjährigen Bestehen ist die Türkei massiv gespalten. Durch alle Lebensbereiche ziehen sich tiefe gesellschaftliche Gräben. Doch es gibt Initiativen, die Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund zusammenbringen.

Von Ceyda Nurtsch

Spätestens seit dem knappen Ausgang der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai 2023 ist es nicht mehr zu übersehen: Die Türkei ist massiv gespalten. Die gesellschaftlichen Gräben verlaufen aber nicht nur zwischen Laizisten und Säkularen, zwischen Anhängern von Staatspräsident Erdoğan und seiner AKP, die seit 20 Jahren die Geschicke des Landes bestimmt, und dessen Gegnern.  

Zum hundertjährigen Bestehen der Republik ziehen sich massive Gräben durch die ganze Gesellschaft und durch alle Lebensbereiche. Sie trennen die Menschen an den Küsten von denjenigen im Landesinneren, die Bewohner der Städte von jenen in ländlichen Gebieten. Sie verlaufen zwischen Menschen unterschiedlicher Bildungsschichten oder ethnischer, religiöser und konfessioneller Zugehörigkeit.  

Wie groß die allgemeine Ablehnung dieser Gruppen untereinander ist, belegen die Ergebnisse einer Erhebung der Bilgi-Universität. Die in den Jahren 2015, 2017 und 2020 durchgeführten Umfragen zeichnen ein trauriges Bild: Die Mehrheit der Befragten mit unterschiedlichem Hintergrund lehnt "die Anderen“ als Nachbarn oder als Spielpartner für ihre Kinder ab, fühlt sich jeweils moralisch überlegen und zieht sich in den sozialen Medien in ihre Echokammern zurück. 

Eine Frau schwenkt eine Fahne in Istanbul während einer Demonstration gegen den Austritt der Türkei aus dem Istanbuler Abkommen
Frauen in Istanbul protestieren gegen den Austritt der Türkei aus den Istanbul-Konvention. (Foto: Emrah Gurel/AP/picture alliance)

Polarisierung schadet der Demokratie 

Der Sozial- und Politikwissenschafter Emre Erdoğan hat an der Erhebung mitgearbeitet. Zusammen mit der Sozialwissenschaftlerin Pınar Uyan Semirci ist er Mitbegründer von TurkuazLab, einem Projekt, das der Polarisierung in der Gesellschaft entgegenwirken will. Als Open Source-Bibliothek mit Online-Kursen will TurkuazLab die Menschen angesichts von verbreiteter Desinformation und gesellschaftlicher Polarisierung stärken. 

"Die Reaktion, die wir 2015 noch bekamen, war: 'Es gibt doch keine Polarisierung in der Türkei'", erzählt Emre Erdoğan. "Immer wieder mussten wir betonen, dass es hier nicht um divergierende Meinungen oder ein politisches Spektrum geht. Das Problem, mit dem wir es vielmehr zu tun haben, ist, dass die Unterstützung einer politischen Partei zu einer Frage der Identität wird und dazu führt, dass Menschen einander verurteilen. Darum sprechen wir heute von politischer und emotionaler Polarisierung”, so der Sozialwissenschaftler. 

Seit einigen Jahren werde zwar allgemein akzeptiert, dass die Gesellschaft polarisiert ist und dass dies der Demokratie schade. "Was wir allerdings noch nicht erreicht haben, ist eine Veränderung in der Auffassung, Polarisierung sei etwas, das immer nur von 'den Anderen' ausgeht. Wir haben noch nicht akzeptiert, dass wir da alle gemeinsam drin sind“, so Erdoğan. 

Berührungspunkte schaffen 

Mittlerweile haben auch die Vereinten Nationen die gesellschaftliche Polarisierung als ein weltweites Problem benannt. In den letzten Jahren habe zumindest der Austausch und die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit anderen Institutionen zugenommen, sagt Erdoğan. Doch noch hat die Türkei einen langen Weg vor sich.  

Denn das polarisierte Klima bestimmt den Alltag der Menschen etwa bei Fragen wie: An wen vermiete ich meine Wohnung? Mit wem darf mein Kind spielen? Auch die Medien und die sozialen Medien profitierten vom Kulturkampf, der ihnen Clicks bringe oder Einladungen zu TV-Sendungen. "Dass Politiker das Problem angehen, ist so gut wie unmöglich, denn sie profitieren davon. Gleichzeitig haben wir ein Volk, für das das Thema Polarisierung im Allgemeinen nicht aktuell ist, das aber immer wieder instrumentalisiert wird“, so Erdoğan. 

Damit die Menschen aber ihre Verhaltens- und Denkmuster hinterfragen, müsse – neben langfristigen strukturellen Veränderungen wie der Stärkung von NGOs, Zivilgesellschaft und unabhängigen Medien – auf der gesellschaftlichen Makroebene das Zusammenkommen gefördert werden. Menschen sollten sich etwa in Bezirks- oder Schulräten oder auch in virtuellen Räumen mehr begegnen.  

"Das Wichtigste ist es, Berührungspunkte zu schaffen“, erklärt Erdoğan. "Überall in der Türkei ziehen sich die Menschen in ihre Viertel zurück. Dadurch werden die Berührungspunkte weniger, die Polarisierung nimmt zu. Erst wenn Menschen aufeinandertreffen, erkennen sie, wie ähnlich sie einander sind. Diese Gräben sind keine natürlichen Gräben. Es ist wichtig, das zu verstehen“, so Erdoğan. 

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Gemeinsamkeiten erkennen 

Eine Initiative, die konkret Menschen zusammenbringt, ist BAYETAV. Der Soziologe Ferhat Kentel ist im Vorstand der 2020 in Izmir gegründeten Stiftung für Gemeinsames Leben und Sozialwissenschaftliche Studien. 

"Wir wissen: Je mehr wir Begegnung ermöglichen, desto mehr sehen Menschen nicht nur, was sie unterscheidet. Sie erkennen, was sie verbindet, ihre gemeinsamen Sorgen, Freuden und die Möglichkeiten des Zusammenlebens“, bestätigt auch Kentel.  

Das Programm der Stiftung ist breit gefächert. Es umfasst die Arbeit an Schulen, Vortragsreihen zu aktuellen gesellschaftlichen Themen, sozialwissenschaftliche Recherchen, Sozial- und Kunstprojekte sowie Ausstellungen. 

Zusammenleben trotz Unterschieden 

Der Stiftung geht es darum, dass Menschen jenseits von bestehenden kulturellen und politischen Identitäten und der durch die Politik instrumentalisierten Unterschiede erkennen, dass sie in Bereichen wie Umwelt, Klassenzugehörigkeit, Frauenrechte oder den Interessen junger Menschen gemeinsame Themen haben und dadurch ein Potential des Zusammenlebens entwickeln. 

Auch Angst gehöre zu den Gründen, weshalb sich die Menschen zurückziehen, weiß Kentel. "Viele Menschen tragen Wunden in sich wegen Erlebnissen etwa aufgrund ihrer Ethnie, Religionszugehörigkeit, ihrer sozialen Klasse oder ihres Geschlechts. Historische, wirtschaftliche, kulturelle, politische oder im weitesten Sinne soziale Gründe hinderten sie daran, diese Angst zu überwinden und neue Wunden und Ängste kamen dann hinzu. Da ist es normal, dass diese Menschen sich unsicher fühlen, sich selbst und anderen gegenüber.“  

Mit ihren Aktivitäten will die Stiftung die Menschen daran erinnern, was sie verbindet und das Gemeinsame weiterentwickeln. So lautet eine ihrer Leitsprüche: "Zusammenleben, ohne auf unsere Unterschiede, Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit zu verzichten.“ 

Während sich die Türkei im unverändert lauten landesweiten Streitgeschrei auf die Kommunalwahlen im März 2024 zubewegt, sind die Menschen hinter der Initiative überzeugt davon, dass sich ihr Kampf lohnt. "Denn stärker als der Fokus auf Angst und Unsicherheit und der Kraft, die sich daraus speist, ist der Kampf derer, die die Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen betonen und Vertrauen fördern“, so Kentel. 

Ceyda Nurtsch

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