Die Welt der Anderen

Shady Lewis erzählt die Geschichte eines Migranten in London, der im sozialen Dienst arbeitet, und dessen Leben durcheinander gerät. Leicht und mit schwarzem Humor beschreibt er die tragischen Folgen von Rassismus und eurozentrischem Denken. Lisa Neal hat das Buch für Qantara.de gelesen.

Von Lisa Neal

Der Nullmeridian ist die Linie, von der aus die Längengrade der Erde von Ost nach West gezählt werden. "Den Nullmeridian gibt es nicht, und doch ist er real, einfach weil irgendwelche Leute abgesprochen haben, dass es ihn gibt“, schreibt der britisch-ägyptische Autor Shady Lewis in seinem neuen Roman.

Denn genauso hätte der Nullmeridian auf der kanarischen Insel El Hierro, durch Paris oder bei den Azoren verlaufen können. Doch auf der Internationalen Meridian Konferenz von 1894 wählte eine Mehrheit der vertretenen Staaten den Greenwich-Meridian zum sogenannten Nullmeridian. Seitdem ist der Nullmeridian festgelegt und die Welt orientiert sich an ihm.

Gleichzeitig ist der Nullmeridian eine Metapher dafür, dass gelebte Wahrheiten am Ende nur Konstrukte sind und von denen festgelegt werden, die die Deutungshoheit besitzen.



Im Roman antwortet der Ich-Erzähler entnervt seinem Kollegen: "Der Nullmeridian verläuft nicht deswegen hier, weil sich irgendwelche Leute darauf verständigt haben, wie du sagst, sondern weil die einen Leute größere Kanonen hatten als die anderen und sie ihnen deshalb aufzwingen konnten, was sie wollten“. Wahrheitsfindung ist am Ende eine Frage der Machtverhältnisse.

Cover von Shady Lewis "Auf dem Nullmeridian" Verlag Hoffmann und Campe 2023; Quelle: Verlag
Shady Lewis wurde 1978 in Ägypten in eine Familie koptischer Christen geboren. 2006 kam er als Einwanderer nach London und arbeitete mehr als zehn Jahre im sozialen Dienst der Stadtverwaltung. Die Erfahrung, dass selbst die im öffentlichen Dienst arbeitenden Migranten ihren Mitmenschen oft nicht helfen können, führte zu seinem Roman. Er hat Psychologie studiert, sein Schwerpunkt liegt heute auf der Analyse der psychologischen Struktur des politischen Diskurses in der arabischen Welt.

Westliche Deutungshoheit

Aber von vorne. Die Erzählung beginnt mitten im Leben des Protagonisten, der in einer Wohnraumbehörde eines sog. Londoner Problemviertels arbeitet. Hier leben viele Menschen mit Migrationshintergrund.

Ein Freund berichtet ihm vom Tod eines Syrers, genannt Ghiyath, der nach seiner Flucht nach Großbritannien allein in seinem Londoner Zimmer gestorben ist.

Der Freund bittet ihn, sich um die Überführung des Leichnams und die Bestattung des Mannes zu kümmern. Für den Ich-Erzähler beginnt mit dieser Aufgabe nicht nur eine neue Verantwortung.

Da er einige Parallelen zwischen seiner eigenen und der Geschichte des Toten erkennt, fängt er an, über sein Leben zu reflektieren.   

Gleichzeitig entwickeln sich weitere Erzählstränge. Einer davon bietet Einblicke in die mühsame Arbeit des Protagonisten. Mit seinem Kollegen Kayode spitzt sich ein tödliches Missverständnis zu, immer wieder fließen Rückblenden in den Erzählstrang ein.  

Wer entscheiden darf, was Wahrheit ist, hat reale Konsequenzen für das Leben des Protagonisten. Dieser wurde, wie der Autor Shady Lewis selbst, in eine Familie koptischer Christen geboren und ist aus Ägypten nach England eingewandert.

Als Migrant ist er ein Außenseiter in der britischen Gesellschaft, aber als koptischer Christ gehört er auch bei den muslimischen Migranten nicht dazu.

Immer wieder erzählt der Protagonist im Roman, wie andere für ihn die Wirklichkeit deuten wollen. "Aber sagen Sie, haben Sie die Pyramiden oft besucht?“, fragt ein Mitarbeiter der Pathologie den Erzähler.

Dieser antwortet: "Nicht wirklich oft. Können wir auf mein Anliegen zurückkommen?“, doch der Mann, ein selbsternannter Ägypten-Experte, lässt nicht locker.

"Das ist aber seltsam. Warum denn nicht wirklich oft?“ "Keine Ahnung, in Ägypten fahren wir nicht dauernd zu den Pyramiden. Verzeihen Sie, ich suche eine Leiche, die am Montag hier eingetroffen sein müsste“, versucht der Erzähler durchzudringen. Vergebens. "Aber Sie sind Ägypter, ja?“ Der Erzähler gibt nach. "Ja.“ Und so geht es weiter. "Das ist ja das Seltsamste, was ich je gehört habe. Wie oft waren Sie denn bei den Pyramiden?“, heißt es weiter.  

Präzise Alltagsbeobachtungen

Der Autor vermittelt ein Gefühl für die Lebensgeschichten von Menschen, die sich an den Rändern der Gesellschaft bewegen. In einer klassischen Reportage würden solche Geschichten untergehen, weil sie vermutlich zu undramatisch wären. Aber ihre Geschichten zeugen von einer weitverbreiteten, häufig unbeleuchteten Realität.

Shady Lewis überzeugt durch präzise Alltagsbeobachtungen. Sein Roman führt vor Augen, wie absurd verschiedene Gesellschaften mit ihren Mitgliedern umgehen, und wie sie entscheiden, wer Chancen auf ein würdiges Leben bekommt und wer nicht. Das zeigt sich besonders bei der Fluchtgeschichte des toten Syrers Ghiyath.  

Die Worte sind bedacht und gut gewählt, so entstehen lebendige Bilder. "Pepsi war besessen davon, alles zu färben. Zum Beispiel fiel jedem auf, der sie sah, dass sie eine dicke Schicht Puder auf ihrer Haut trug," heißt es an einer Stelle.

In London demonstrierten nach dem Tod von George Floyd Tausende gegen Rassismus in Großbritannien; Foto: picture-alliance/AA/I. Tayfun Salci
Unterschwelliger Rassismus: Shady Lewis überzeugt durch präzise Alltagsbeobachtungen von Menschen, die nach Großbritannien eingewandert sind und am Rande der Gesellschaft leben. Sein Roman führt vor Augen, wie absurd verschiedene Gesellschaften mit ihren Mitgliedern umgehen, und wie sie entscheiden, wer Chancen auf ein würdiges Leben bekommt und wer nicht. Das zeigt sich besonders bei der Fluchtgeschichte des Syrers Ghiyath, dessen Tod den Verlauf von Shady Lewis’ Geschichte entscheidend prägt.  



Dann geht es weiter: "Ach, mein Freund! Vielleicht hältst du mich für völlig verrückt, und es sei dir nachgesehen, denn du weißt nicht, was es heißt, als Schwarze unter Weißen zu leben. Man hat die Wahl: Entweder man färbt sich die Haut weiß und wird dafür von allen verlacht, sodass man sich immer weißer färbt, bis es einem alle abnehmen. Oder alles ist einem egal und man spottet über beide Hautfarben. Eines davon ist schlimmer als das andere, und deshalb mache ich beides. Ich passe mich an und spotte zugleich über die Welt der anderen.“

Wer die Macht hat, besitzt auch die Wahrheit

Die meisten seiner Figuren gelingen dem Autor gut, manche tauchen nur kurz auf und bleiben skizzenhaft. Dem Lesefluss jedoch hätte eine Zuspitzung des Plots gutgetan. Zuweilen sind die Innenwelt und die Passivität des Protagonisten für den Leser schwer auszuhalten, wenn dieser bei den von ihm betreuten Sozialfällen immer wieder an der eignen Machtlosigkeit verzweifelt.



Das, was nach dem Lesen besonders in Erinnerung bleibt, sind all die kleinen Einblicke in die dunklen Ecken der Gesellschaft.  

Die einzelnen, ineinander verwobenen Geschichten zeigen, dass Wahrheit stets auch eine Frage der Macht ist. Unsere Diskurse sind nicht frei von Herrschaft, damit hat der Ich-Erzähler recht, als er die Bestimmung des Nullmeridians kritisiert.

Zu einem herrschaftsfreien Diskurs, einem Begriff des Philosophen Jürgen Habermas, gehören die prinzipielle Gleichheit der Teilnehmenden, die prinzipielle Problematisierbarkeit aller Themen und Meinungen und die prinzipielle Unausgeschlossenheit des Publikums. All dies fehlt nicht nur bei der Bestimmung des Nullmeridians, sondern auch bei den vielen Entscheidungen über das Schicksal derer am Rande der Gesellschaft, die im Roman vorkommen.  

Trotz dieser Einsicht verkündet das Buch nicht Hoffnungslosigkeit. Indem es das Tragische in Leichtigkeit verpackt, regt es auf unterhaltsame Art dazu an, besser zuzuhören und lieber einmal nachzufragen, wenn wir Dinge nicht verstehen oder einordnen können. 

Lisa Neal

© Qantara.de 2023

Shady Lewis, "Auf dem Nullmeridian", aus dem Arabischen übersetzt von Günther Orth, Verlag Hoffmann und Campe 2023