Die Stadt Darna: Rebellisch und vernachlässigt

Vor den katastrophalen Überschwemmungen nach dem Sturmtief "Daniel" war die Hafenstadt Darna im Osten Libyens für etwas anderes bekannt: für unabhängiges Denken, islamistische Extremisten und schöne Strände.
Vor den katastrophalen Überschwemmungen nach dem Sturmtief "Daniel" war die Hafenstadt Darna im Osten Libyens für etwas anderes bekannt: für unabhängiges Denken, islamistische Extremisten und schöne Strände.

Vor den katastrophalen Überschwemmungen nach dem Sturmtief "Daniel" war die Hafenstadt Darna im Osten Libyens für etwas anderes bekannt: für unabhängiges Denken, islamistische Extremisten und schöne Strände. Von Cathrin Schaer

Von Cathrin Schaer

Die Hafenstadt Darna im Osten Libyens wurde im Laufe ihrer Geschichte von den einen gefürchtet und den anderen verehrt. Ende des 15. Jahrhunderts auf den Überresten einer antiken griechischen Siedlung gegründet, galt Darna als ein Zentrum intellektueller Debatten und unabhängigen Denkens, als eine weltoffene Stadt der Kunst und Kultur. Die Stadt mit ihren rund 100.000 Einwohnern ist auch für ihre attraktive Umgebung berühmt, denn sie liegt direkt am Mittelmeer, flankiert von einigen der wenigen grünen Wälder im ansonsten trockenen Libyen.

Experten zufolge trugen der historische Ruf der Stadt und ihre bevorzugte Lage an der Mittelmeerküste jedoch entscheidend zu den verheerenden Verwüstungen und der hohen Zahl der Todesopfer nach den katastrophalen Überschwemmungen in dieser Woche bei. Mehr als 11.000 Menschen kamen durch die Folgen des Sturms "Daniel" ums Leben, unzählige weitere werden noch vermisst.

Stadt der Rebellion

Im Jahr 2011, während des sogenannten Arabischen Frühlings, zählten die Einwohner von Darna gemeinsam mit den Bewohnern der etwa 350 Kilometer weiter westlich gelegenen Hafenstadt Bengasi zu den ersten, die gegen die Diktatur von Muammar al-Gaddafi auf die Straße gingen.

Demonstranten skandieren Anti-Gaddafi-Proteste in der ost-libyschen Stadt Darna, 2011 (Foto: GIANLUIGI GUERCIA/AFP)
Darna, Stadt der Rebellion: Im Jahr 2011, während des sogenannten Arabischen Frühlings, zählten die Einwohner von Darna gemeinsam mit den Bewohnern der etwa 350 Kilometer weiter westlich gelegenen Hafenstadt Bengasi zu den ersten, die gegen die seit 42 Jahren bestehende Diktatur auf die Straße gingen.



In den vorangegangenen Jahrzehnten hatte sich Libyens autoritärer Herrscher eine loyale Machtbasis im Westen des Landes geschaffen, rund um die Stadt Tripolis. Dem Osten des Landes hatte er wenig Beachtung geschenkt und Städte wie Darna und Bengasi litten schon lange unter seiner Politik der wirtschaftlichen Vernachlässigung.

Das war zum Teil darauf zurückzuführen, dass die Einwohner von Darna bereits seit den 1970er Jahren ihren Widerstand gegen die Herrschaft Gaddafis zum Ausdruck brachten. Der Ruf der Stadt als Hort des Protests wurde auch durch Personen geprägt, die rigidere Formen des Islam befürworteten. Geeint durch ihre religiösen Werte würden sie schließlich gegen Gaddafi antreten. Der Diktator ließ Darna im Gegenzug seine Macht spüren und die Infrastruktur der Stadt verkommen.

In den 1990er Jahren traten Männer aus Darna der Libyschen Islamischen Kampfgruppe (LIFG) bei, die gegen Gaddafi kämpfte. Der Diktator antwortete mit brutalen Gegenmaßnahmen. Haus für Haus wurde durchsucht, um LIFG-Mitglieder aufzuspüren.



Gaddafi schreckte auch vor Kollektivstrafen nicht zurück, ließ Häuser niederreißen und die Strom- und Wasserversorgung der Stadt unterbrechen. Viele der Opfer des berüchtigten Gefängnismassakers von Tripolis im Jahr 1996 stammten aus Darna. Sicherheitskräfte sollen damals nach einer Revolte im Abu Salim-Gefängnis rund 1200 Häftlinge erschossen haben.

"Die Stadt verrottete immer mehr – es gab keine Schulen, die Krankenhäuser waren in einem erbärmlichen Zustand, die Infrastruktur vernachlässigt", so beschreibt es Hani Shennib, Präsident des National Council of US-Libya Relations, in der BBC.

 

A poet from Derna wrote it last week after attending a meeting on the sorry state of nearby dams.



His warnings went unheeded. He died in the floods.https://t.co/tqlexkx4SR pic.twitter.com/qwXHiEM6LZ

— Monica Marks (@MonicaLMarks) September 15, 2023

 

 

Ein Reporter der britischen Zeitung "The Guardian" besuchte Darna 2011 und schrieb damals: "Die Wohn- und Bürogebäude in Darna wirken im Vergleich mit den Bauten in anderen Städten im Land heruntergekommen. In den Hauptstraßen rinnt das Abwasser."

Diese Vernachlässigung setzte sich in den Folgejahren fort, klagt Hussein bin-Dish, ein Beamter der Stadt, gegenüber der Deutschen Welle (DW): "Hier funktioniert nichts, die Behörden nicht, gar nichts. Uns wird großes Unrecht getan."

Stadt des islamischen Extremismus?

Während der libyschen Revolution von 2011 wiederholte Gaddafi oft den Vorwurf, die Proteste in Darna würden von islamistischen Extremisten und Gruppierungen wie al-Qaida angestachelt. Fachleute sind jedoch der Meinung, dass die ablehnende Haltung der Stadt gegenüber dem Diktator nur in Teilen auf islamistische Hardliner zurückzuführen ist. Sie ist auch einer langen Tradition des intellektuellen Lebens und der Gegenkultur in der Stadt geschuldet.

Nach dem Sturz des Gaddafi-Regimes in 2011 fand sich Darna - wie auch der Rest Libyens - verschiedenen Milizen und kämpfenden Gruppierungen ausgeliefert. Eine der mächtigsten Gruppierungen in Darna war die Abu Salim-Märtyrer-Brigade, die von einem ehemaligen Mitglied der LIFG gegründet wurde.



2014 schworen Überläufer dieser Brigade dem "Islamischen Staat" (IS) ihre Treue und übernahmen in Darna die Kontrolle. "Ihre Herrschaft war gekennzeichnet von Enthauptungen und anderen Formen der Hinrichtung und öffentlichen Demütigung", schrieb Andrew McGregor, kanadischer Experte für Sicherheitsfragen in der islamischen Welt, 2018 in einem Bericht für die Jamestown Foundation, einer US-amerikanischen Denkfabrik.

Grafik der politischen Machtverhältnisse in Libyen (Foto: DW)
Gespaltenes Land: Seit 2014 besteht Libyen politisch aus zwei Teilen, mit rivalisierenden Regierungen im Osten und im Westen des Landes. Die von den Vereinten Nationen unterstützte "Regierung der nationalen Einheit“ hat ihren Sitz in Tripolis im Westen des Landes, während ihr Konkurrent, der Präsidialrat, in Tobruk im Osten residiert. Viele Libyer äußern die Hoffnung, dass die Flutkatastrophe in Darna zu mehr Kooperation zwischen den verfeindeten Fraktionen beiträgt.



Andere Bewohner der Stadt kämpften gegen den IS, doch es dauerte bis 2016, bis die Terrormiliz schließlich vollständig aus der Stadt vertrieben werden konnte. Für die Zivilbevölkerung von Darna bedeutete dies jedoch noch nicht das Ende der Kämpfe.

Seit 2014 ist Libyen in zwei Teile gespalten, mit rivalisierenden Regierungen im Osten und im Westen des Landes. Die von den Vereinten Nationen unterstützte "Regierung der nationalen Einheit“ hat ihren Sitz in Tripolis im Westen des Landes, während ihr Konkurrent, der Präsidialrat, in Tobruk im Osten residiert.

Der libysche Warlord Chalifa Haftar, dessen Libysch-nationale Armee, kurz LNA, einen Großteil der östlichen Landeshälfte kontrolliert, wollte auch Darna einnehmen. Während sich dort noch islamistische Gruppen gegenseitig bekämpften, belagerte er 2015 mit seinen Streitkräften die Stadt. Erst 2018 gelang es ihm, die Kontrolle zu übernehmen.

Die Kämpfe in Darna waren brutal, doch die internationale Gemeinschaft drückte die Augen zu, denn "sie hatte nichts gegen die Beseitigung einer langjährigen Brutstätte für Islamismus", so der kanadische Experte McGregor. Selbst als die Gewalt 2018 endete, wurde die weiterhin als aufsässig geltende Stadt von den Machthabern in Ostlibyen ignoriert und vernachlässigt.

"Die Libyer sind schockiert und schieben die Schuld für die Katastrophe auf die korrupte Verwaltung. Sie streitet um die Macht, anstatt zu regieren, sie unterschlägt die für den Wiederaufbau Darnas nach dem Krieg von 2018 bestimmten Gelder und hat die Warnungen über den Zustand der Dämme ignoriert", schreibt Tarek Megerisi, leitender Analyst beim Nahost- und Nordafrikaprogramm des European Council on Foreign Relations.

Vor dem Bau der Staudämme in den 1970er Jahren gab es häufige Überschwemmungen in Darna (Foto: ZUMA Press/IMAGO)
1963 – black and white picture looking over the sun-baked roofs of the town of Derna, on the North African coast of Libya



Fachleuten zufolge traut Haftar den Bewohnern von Darna noch immer nicht und befürchtet, dass in der Stadt die Saat für eine weitere Revolution vorhanden sei. Tatsächlich wurden Anfang des Monats die Kommunalwahlen in der Stadt abgesagt, was es Haftars Libysch-nationaler Armee ermöglicht hat, dort an der Macht zu bleiben, erklärt Anas el-Gomati, Direktor der libyschen Denkfabrik Sadeq Institute, der DW.



"Vor einigen Wochen hätten in Darna Kommunalwahlen stattfinden sollen, doch die wurden zugunsten des Militärs abgesagt, das so weitere fünf Jahre an der Macht bleiben kann", führt el-Gomati aus. "Aber was haben sie in den vergangenen fünf Jahren getan, außer die Wirtschaft zu plündern, die Stadt zu zerstören und für eine Milliarde Dollar Altmetall zu verhökern?", fragt er und bezieht sich auf einen Bericht von 2019, in dem die Global Initiative Against Transnational Crime untersucht hat, wie sich die Armee des Warlords finanziert.

Malerische Landschaft

Auch Darnas viel gepriesener Standort am Mittelmeer trug zu der Flutkatastrophe bei, die die Stadt verwüstet hat. Die Stadt mit ihren alten Kirchen und Moscheen, die von Stränden gesäumt und für ihre Landwirtschaft berühmt ist, wurde auf einem sogenannten Schwemmkegel erbaut, also auf Land, das sich durch Sedimente bildet, die von Flüssen und Bächen in Richtung Meer geschwemmt werden. Ein Fluss - beziehungsweise ein Wadi, ein Flussbett, das die meiste Zeit des Jahres trocken ist - teilt die Stadt in zwei Hälften.



Ein derartiges geologisches Gelände wird häufig überflutet und Darna hat über die Jahre viele Überschwemmungen erlebt. 1941, während des Zweiten Weltkrieges, trug eine Flut deutsche Panzer und Soldaten, die in den Außenbezirken Darnas stationiert waren, davon. Weitere große Überschwemmungen gab es in den Jahren 1956, 1959, 1968 und 1986, wobei die Überschwemmung von 1959 die bisher schlimmste war.

       

— Oz Hassan - FHEA FRSA (@ozhassan) September 13, 2023

 

Aufgrund dieser regelmäßigen Überschwemmungen wurden in den Jahren 1973 bis 1977 von Hidrotehnika-Hidroenergetika, einem Unternehmen aus dem ehemaligen Jugoslawien, zwei Dämme errichtet, Darna und Mansour. Sie dienten laut Unternehmen sowohl dem Schutz vor Hochwasser und Bodenerosion als auch zur Bewässerung des umliegenden Ackerlands.

2011 erlebte Darna eine Überschwemmung, als die Behörden erfolglos versuchten, Wasser aus den Staubecken abzulassen. Doch schon zuvor war den Bewohnern klar, dass die Dämme schon seit Jahren nicht mehr ordentlich gewartet worden waren. Wie lange die jüngste Wartung zurück liegt, weiß niemand. Sie könnte 2002 stattgefunden haben, wie Bewohner vor Ort Journalisten berichteten, oder auch bereits 1983.

Ein Mann klagte gegenüber der DW: "Seit Wochen, nein, seit Jahren warnen wir die Behörden, dass der Damm Risse hat und gewartet werden muss. Wir haben darauf hingewiesen, aber niemand hört uns zu. Jetzt ist ganz Darna überflutet."

Trotzdem gaben die Dämme einigen Bewohnern Darnas ein trügerisches Gefühl der Sicherheit. Die Stadt ist planlos und ungeordnet gewachsen. Gebäude wurden in Gebieten errichtet oder erweitert, die zuvor regelmäßig überschwemmt worden sind.

Doch die Flut, die jetzt über Darna hereingebrochen ist, geht nicht nur auf mangelhafte Wartung zurück. Hydrologen weisen darauf hin, dass die Dämme schlicht nicht für die Niederschlagsmengen ausgelegt waren, die auf Darna niedergingen. Sie wurden errichtet, bevor sich der Klimawandel bemerkbar gemacht hat.

Cathrin Schaer

© Deutsche Welle 2023

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo