Erdoğan - Hoffnung für die rechte Mitte

Lesen Sie ein umfangreiches Portrait des AKP-Vorsitzenden Recep Tayyip Erdoğan aus dem "Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten" (INAMO)

Recep Tayyip Erdoğan war 1975 Chef der Jugendorganisation der Nationalen Heilspartei (MSP), amtierte 1984 als Vorsitzender der Distriktorganisation Beyoğlu (Provinz Istanbul) der Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) und wurde 1985 Vorsitzender der Istanbuler RP-Provinzorganisation sowie Vorstandsmitglied der RP-Landesorganisation. Er hatte sich bis dahin in der Öffentlichkeit kaum einen Namen gemacht, war indes innerhalb der Bewegung Milli Görüş (Die Nationale Sicht) hingegen durchaus bekannt. Sein erster allgemein wahrgenommener Auftritt auf der politischen Bühne erfolgte zu den Kommunalwahlen im Jahre 1994.

Bis dahin hatte Erdoğan allerlei Niederlagen einstecken müssen: 1986 war er bei den Interimswahlen zur Nationalversammlung, 1989 bei den Kommunalwahlen und 1991 bei den Parlamentswahlen gescheitert. Seine Kandidatur für das Oberbürgermeisteramt in Istanbul lehnte der RP-Vorsitzende Erbakan trotz der regen Ermunterungen durch die Basis zunächst mit der Begründung ab, daß er „noch zu jung“ sei und es falsch sei, seinen Namen bei einer Wahl, „die nicht gewonnen werden kann, zu verschleißen“. Infolge des vom Vorstand der Istanbuler Provinzorganisation angedrohten kollektiven Rücktritts wurde Erdoğan dann doch aufgestellt und gewann die Wahlen dann auch. Damit stieg Recep Tayyip Erdoğans Popularität von Tag zu Tag, nachdem ihn die Medien mehr und mehr als Alternative zu Erbakan auf’s Schild gehoben hatten und nachdem – noch erstaunlicher – diese Ansicht auch an der Basis der Bewegung Milli Görüş ihre Befürworter gefunden hatte. Es ist anzunehmen, daß dies im Altherreninventar von Milli Görüş eine gewisse Unruhe erweckte. Diese Unruhe dürfte sich in heftigen politischen Argwohn gewandelt haben, als Erdoğan wegen eines Vortrags, den er 1997 auf einer Versammlung des Vorstandes der RP-Provinzorganisation Siirt gehalten hatte, wegen Verstoßes gegen § 312 türkischen Strafgesetzbuches („offene Aufhetzung des Volkes zu Haß und Feindschaft unter Verweis auf Unterschiede in Klasse, Rasse, Religion, Konfession oder Region“), angeklagt wurde und im Laufe dieser Affäre als „neuer politischer Akteur“ in den Vordergrund trat bzw. gedrängt wurde. Erdoğan, über den dann ein lebenslängliches Verbot der aktiven politischen Betätigung verhängt wurde, schlug mit diesem Urteil, das für ihn selbst „überhaupt keinen Kampfwert habe“ , aber viel dazu beitragen werde, ihn auf dem rechten Flügel zu einem „politischen Messias“ zu machen, den Weg ins Gefängnis ein, einen Ort, den er als „zwangsläufige Adresse eines jeden Politikers“ bezeichnete... Er trat seine Haftstrafe an, verbrachte die vier Monate mit der „Suche nach Lösungen der Probleme des Landes und des Volkes“ sowie mit der „Entwicklung neuer Projekte“ und vermied bis zum Schluß jegliche Heimlichtuerei in bezug auf seine Kontakte nach draußen.

Nach 30 Jahren Milli Görüş: Die Reformer

An dieser Stelle muß auch auf die „Reformer“ in der (damals noch nicht aufgelösten) Tugendpartei (Fazilet Partisi) eingegangen werden. Man kann die Entstehung der als Reformer bezeichneten Bewegung ungefähr auf die Zeit nach dem 28. Februar 1997 datieren. Damals begannen einige FP-Mitglieder und ehemalige Angehörige der Wohlfahrtspartei von „innerparteilicher Demokratie“ zu sprechen und unternahmen zaghafte Ansätze, die absolute Herrschaft (i.e. Erbakan) in Frage zu stellen – wohl nicht zuletzt vor dem Hintergrund, daß diesem jegliche aktive politische Betätigung verboten worden war und er sich zumindest scheinbar aus der Politik zurückgezogen hatte. Dies stellte ein Novum in der 30jährigen Geschichte von Milli Görüş dar und war deutliches Anzeichen dafür, „daß nichts mehr bleiben werde, wie es einmal war“. Denn in Milli Görüş war kein Platz für Kritik an der eigenen politischen Formation. Die Politik von Milli Görüş war ein Projekt Erbakans und entsprechend ausgeprägt und organisiert worden. Darin lag auch der Grund dafür, daß sich so etwas wie absoluter Gehorsam gegenüber Erbakan entwickeln konnte.

Grundlegendes Merkmal der Reformbewegung war ihr Eintreten für innerparteiliche Demokratie und „aktive politische Beteiligung“. [...] Durch seine Popularität, Beliebtheit an der Basis und als jene Figur, die den Kampf mit Erbakan aufnehmen werde, wurde Erdoğan zu jener Person, der die Führung des Reformflügels am ehesten zustand.

Nach der Haftzeit

Nach seiner Haftentlassung gab Erdoğan seine Absichten preis: Nicht allein „die Führung in der Tugendpartei, sondern die Führung in der Türkei“ strebe er an. Als die Reformer auf dem Kongreß der TP antraten, konkretisierte sich der Konflikt mit Erbakan, das Zerwürfnis zwischen Erdoğan und seinem Hodscha zeichnete sich zunehmend ab. Im Grunde waren sich alle darüber im Klaren, daß auf dem Kongreß eigentlich Tayyip Erdoğan und Erbakan gegeneinander angetreten waren. Auch wenn die Traditionalisten die Abstimmung auf dem Kongreß für sich entscheiden konnten, bedeutete die nur knappe Niederlage für die Reformer ein Erfolg.

Erdoğan knüpfte auf dem Weg zur politischen Mitte Verbindungen zu zahlreichen Personen außerhalb der Islamistenszene und der Bewegung Milli Görüş und begab sich auf Reisen ins In- und Ausland. Gespräche mit Vertretern des Arbeitgeberverbandes TÜSİAD und konservativ-liberalen Politikern gehörten zu seinen Bemühungen, sich zu legitimieren, bei Finanzkapital und Medien Bestätigung zu finden und eine breite politische Allianz für die Aufhebung des gegen ihn verhängten Verbotes der politischen Betätigung zu schmieden. Sie bildeten den Kern seiner politischen Aktivität. [...]

Im Visier: Die Gründung einer Volkspartei

Nach eigener Aussage war die rechte Mitte das politische Feld, auf dem sich Erdoğan zu positionieren gedachte. Es war bekannt, daß er das Startsignal gleichzeitig mit der Entscheidung des Verfassungsgerichts im Verfahren um die Schließung der FP geben wollte. Und obwohl die rechte Mitte die Zielgruppe darstellte, war offenkundig, daß Erdoğan darauf abzielte, seiner Basis einen großen Teil der mit der Schließung der Tugendpartei politisch Heimatlosen einzuverleiben.

Wer vorausgesehen hatte, daß mit Eingang der Schließungsverfügung das Handtuch zwischen Erdoğan und Erbakan zerschnitten sein würde, und die ungeduldig erwartete „neue Formation“ konkrete Gestalt annehmen werde, sollte Recht behalten: Erdoğans Reise zu Gesprächen mit Geschäftsleuten nach London, Treffen mit führenden TÜSİAD-Funktionären und verschiedenen Politikern ..., seine Antwort auf die Frage, wann es denn soweit sein werde – „Sobald die politischen Voraussetzungen im Lande gebeben sind“ : All dies waren Anzeichen für den bevorstehenden Bruch. So wurde schließlich Mitte August 2001 die Partei der Reformer aus der Bewegung Milli Görüş gegründet, die sich „Partei für Gerechtigkeit und wirtschaftlichen Aufschwung“ (Adalet ve Kalkınma Partisi – AKP) nannte und als Emblem eine strahlende Glühlampe wählte.
Unzweifelhaft war der Sinneswandel, das Ansinnen, ein „Zweiter Erbakan“ zu werden, aufzugeben und sich statt dessen als „Zweiter Özal“ zu entpuppen, ein wichtiger Wendepunkt in der politischen Karriere Erdoğans. Sieht es doch so aus, als habe er sehr gut verstanden, daß der Weg zur Führungsposition in der rechten Mitte über eine Referenz an Turgut Özal führt, den Gründer der kapitalistischen und wirtschaftsliberalen Türkei und dessen politische Linie, und wie wirksam gerade diese Strategie als gemeinsamer Ausgangspunkt sein würde. In diesem Zusammenhang scheint es angebracht, einen Blick auf die geänderte Rhetorik Erdoğans zu werfen, die in Widerspruch zur einst von ihm vertretenen Mission der Bewegung Milli Görüş geraten ist.Mit dem Erdoğan – der seinerzeit mit der Bemerkung „Weltliche Gerichte können uns nicht davon abhalten, dem Volk zu dienen“ auf die Gerichte im Jenseits verwiesen hatte, der offen gesagt hatte, daß „Demokratie nur ein Mittel sei“ und „Gesetze nicht in Widerspruch zu den Vorschriften des Islams geraten dürften“, der das Monopolkapital und einen „bestimmten Teil der Medien“ scharf angegriffen hatte, der den Verkauf alkoholischer Getränke in städtischen Grünanlagen verbot und mit der Begründung, „dies sei mit der nationalen Identität und Kultur unvereinbar“, selbst den Verkauf von Coca-Cola einstellen ließ – mit diesem Erdoğan also hat der neue nur noch wenig gemein. Die nun in seinen Reden verschwenderisch verwendeten Topoi von der „Globalisierung“, dem „21. Jahrhundert“ oder der „Integration unterschiedlichster gesellschaftlicher Gruppen“ zeigen deutlich, daß er sich – wie Ruşen Çakır es so treffend ausgedrückt hat – zu einem „globalistischen Konservativen“ gewandelt hat. Statements wie seine Forderung, über 65jährigen die Betätigung in der Politik zu verbieten, daß die Zeit der ideologischen Splitterparteien abgelaufen sei und daß Politik alle gesellschaftlichen Gruppen integrieren müsse, kann man als durchsichtige Manöver eines Politikers betrachten, der Anspruch auf die Führung der rechten Mitte und damit nach eigener Aussage auf 85% der Wählerstimmen erhebt.

Tayyip Light!

Erdoğan hat sich auf dem Weg in die Mitte ein neues Image und das Verhalten eines neuen Führers zugelegt. Obgleich dieses Manöver weitestgehend abgeschlossen ist, führte die Tatsache, daß er sich zunehmend von den Kreisen, die ihn hervorgebracht hatten, entfernte, eben dort zu einer gewissen Verstimmung. Diese Verstimmung ähnelt einem Topos, den wir aus türkischen Spielfilmen gut kennen: die Enttäuschung über das eigene Scheitern eines jugendlichen Helden aus Anatolien, den es nach Istanbul verschlagen hat und der dort unter die Räder kommt. Denn während sich Tayyip Erdoğan in den Sphären des Finanzkapitals, der globalisierten Politiker und der Medienmogule umhertrieb und man dort „nicht auf dem niedrigsten, sondern auf dem höchsten Level“ überein kam, büßte er an der Basis, die ihn sozialisiert hatte, ein Gutteil an Charisma ein.

Von dieser Warte aus bezieht sich der Hauptkritikpunkt gegenüber Erdoğan auf dessen Interaktion mit den Medien, die doch „die Entwicklung befördert haben, die zu seiner Verurteilung geführt hat“, und daß er sich mit dieser anderen Welt so eng eingelassen habe. Denn diese Beziehungen werden als Verrat Erdoğans an den eigenen Wurzeln interpretiert, als Entleerung „der Werte, für die er einmal eingestanden ist“ und als Loslösung seiner Bindung an den Koran. Wobei an dieser Kritik hervorzuheben ist, daß ganz offen ausgesprochen wird, Erdoğan habe seine Prinzipien und seine Mission aufgegeben, seine politische Diktion sei fast bis zur Selbstverleugnung degeneriert und er habe für seine politische Karriere einen Weg eingeschlagen, auf dem er seiner „Basis und den Werten, die ihn geprägt haben, keine Achtung mehr“ entgegenbringe. [...]

Ein Führer der rechten Mitte

In den letzten zehn Jahren hoffte man in der Türkei, daß religiös motivierte Politik, wie sie sich zur Zeit in der Partei der Glückseligkeit (Saadet Partisi, Nachfolgepartei der vom Verfassungsgericht aufgelösten Nationalen Heilspartei, Wohlfahrtspartei und Tugendpartei) manifestiert, etwa den Platz einnehmen werde, den Christdemokraten in Europa haben. Damit wäre sichergestellt worden, daß religiös motivierte Politik (wie andere Weltanschauungen auch) nicht von der jeweiligen politische Fraktion, sondern von der Mitte her determiniert wird. Aber so ganz hat man dieses Ziel wohl irgendwie nicht getroffen. Auch wenn es so aussieht, als sei die Operation, die islamische Linie in die politische Mitte zu verorten, zumindest als Operation „von oben“ erfolgreich gewesen, den rechten Geschmack haben die politischen Ingenieure daran nicht gefunden. [...]

War vor Entstehung des Reformer-Flügels in der Tugendpartei noch abzusehen, daß Erdoğan als Thronfolger Erbakans einmal die Bewegung der „Nationalen Sicht“ würde führen können, wurde er nach Konstitution der Reformer als deren Führer akzeptiert. Natürlich betrachteten ihn manche aufgrund seines Stallgeruchs mit Argwohn. Aber gerade seine Gespräche und sein Meinungsaustausch mit Leuten aus Kreisen des Finanzkapitals, seine Auslandsreisen, die von ihm entwickelte Rhetorik der Globalisierung und Integration, seine enge Beziehung zu Amerika, die sogar in den eigenen Reihen für Unruhe sorgte, vervollständigten als Indikatoren dafür, daß er sich in Özals Fußstapfen sah und als Stationen auf dem Weg in die politische Mitte, dieses Bild. Die Tatsache, daß nach Gründung der AKP fast täglich ein Abgeordneter in die Partei übertrat und daß Necmettin Erbakan ziemlich in den Hintergrund geriet, schienen Anzeichen dafür zu sein, daß diese Rechnung aufging.

Aber ganz so, wie erhofft, lief die Sache nicht. Die AKP wurde in der Öffentlichkeit als Nachfolgerin der Tugendpartei angesehen und traf allgemein nicht auf die erwartete Gegenliebe. Der Generalstaatsanwalt der Republik am Kassationsgericht intervenierte gegen Erdoğans Befugnisse als Vorsitzender der AKP, verwarnte die Partei und klagte vor dem Verfassungsgericht auf Ausschluß Erdoğans und weiterer sechs Vertreterinnen der Pro-Kopftuch-Fraktion aus dem Gründergremium der AKP. Die AKP irrte in der Annahme, diese Klage über eine Änderung des Verfassungsartikels zur Wählbarkeit der Parlamentsabgeordneten (Art. 76 Abs. 2 TV, d.Ü.) zu Fall bringen zu können. Der Antrag erhielt nicht die erforderliche Mehrheit der Stimmen. So stellte das Verfassungsgericht der AKP eine Verwarnung in bezug auf den Ausschluß Erdoğans aus der Gründerversammlung zu.

Nach Gründung der Partei kam es zu einer deutlichen Verstimmung der Medien gegenüber Erdoğan, da dieser auf eine Vielzahl der an ihn gerichteten Fragen einsilbig antwortete oder es vorzog zu schweigen. Von Zeit zu Zeit, wenn er in der Presse mit Reden aus seiner militanten islamistischen Vergangenheit zitiert wurde, verteidigte er sich zwar mit Hinweis darauf, daß er sich geändert habe, aber sein Stern schien im Sinken begriffen. Seine Situation verschlechterte sich durch die Parteiaustritte einiger alter Weggefährten. Zu guter Letzt machten dann Vorwürfe der Vorteilsnahme bei der Auftragsvergabe die Runde, aus der Zeit, in der Erdoğan das Amt des Istanbuler Oberbürgermeisters bekleidet hatte.

Kurz, mit einem Mal fand sich Erdoğan in einer ganz anderen Situation wieder, als er sie sich beim Antritt der Reise ausgemalt hatte. Daß die AKP erst nach der Schließung der Tugendpartei gegründet wurde, zeigt, was Erdoğan unter dem rechten Zeitpunkt verstanden hat, als er immer wieder wiederholte, „wir werden uns genau zum rechten Zeitpunkt politisch formieren“. Er vertraute aber zu sehr den Medien, als sie ihn wegen seiner „Gegenposition“ zu Erbakan und der Tugendpartei zeitweise sogar lobten. Doch dann wurde die Tugendpartei aufgelöst; Erbakan verschwand von der Bildfläche; die Saadet Partisi (Partei der Glückseligkeit) wurde zu einer schnöden Allerweltspartei, die nichts gemein hatte mit der Wohlfahrtspartei in ihren Glanzzeiten. [...]

Im Fazit macht Erdoğan die Figur eines Besänftigten, der zur Vernunft gekommen ist. Aber so „artig“ er nun auch dasteht: Dazu, daß er und seine Truppe im Lande den Ton angeben, reichte es den Weichenstellern der türkischen Politik nicht aus; der Feinschliff wurde mit ungenügend bewertet. Um seine Situation noch einmal treffend zu charakterisieren beenden wir diesen Artikel mit einem Beispiel aus der Welt des Fußballs, für die sich Erdoğan in seiner Jugend so interessierte: Er ähnelt stark einem Fußballstar, den ein Verein eingekauft hat, um sich frisches Blut zu verschaffen, der einige Spiele mit Bravour besteht, dann unten durchfällt, über den man sich dann die Haare rauft und verzweifelt ausruft: „Wo habt ihr denn diesen Kerl aufgetrieben?“

Kıvanç Koçak, Auszüge aus: "Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten" (INAMO), © 2002 INAMO