Algeriens verschüttete Identitäten freilegen

Da über die Dekade des Terrors noch immer geschwiegen wird, versuchen viele Algerier, sich auf andere Weise mit ihrer leidvollen Geschichte zu beschäftigen. Zum Beispiel in Oran, wo ein Projekt praktische Stadtteilarbeit mit der Suche nach neuer Identität verbindet. Von Beat Stauffer

Da über die Dekade des Terrors noch immer offiziell geschwiegen wird, versuchen viele Algerier, sich auf andere Weise mit ihrer leidvollen Geschichte zu beschäftigen. Zum Beispiel in Oran, wo ein Projekt praktische Stadtteilarbeit mit der Suche nach neuer Identität verbindet. Von Beat Stauffer

​​Sidi El Houari ist das älteste Viertel von Oran. Hier gründeten andalusische Seeleute vor mehr als tausend Jahren eine erste Siedlung, hier machten sich Spanier und Türken während Jahrhunderten gegenseitig die Vorherrschaft streitig.

Mächtige Festungsanlagen belegen bis auf den heutigen Tag die strategisch wichtige Rolle, welche Oran während Jahrhunderten besessen hat.

Doch heute verfällt Sidi El Houari. Die Fassaden der meisten Häuser bröckeln, und ganze Straßenzüge sind vom Einsturz bedroht und verslumt.

Hoffnungsträger "Santé Sidi El Houari"

Inmitten dieses verarmten Quartiers ist ein Projekt entstanden, das wie kaum ein anderes in Oran Hoffnung vermittelt. Es ist das Projekt "Santé Sidi El Houari", das seinen Namen vom ersten französischen Militärkrankenhaus erhalten hat.

Initiator und Präsident des Projekts ist der Arzt Kamel Bereksi. Er hat das Projekt vor mehr als 15 Jahren ins Leben gerufen und ist bis heute die treibende Kraft des gleichnamigen Vereins.

In den Mauern des alten Krankenhauses, das auf den Fundamenten eines türkischen Bades aus dem 17. Jahrhundert errichtet wurde, ist seit kurzem neues Leben eingekehrt. In jahrelanger Arbeit haben Freiwilligen-Teams das vom Zerfall bedrohte Gebäude von Schutt und Abfall befreit und in den Grundzügen wieder instand gesetzt.

Dabei sahen sich die Initiatoren mit dem Problem konfrontiert, dass für die sachgerechte Restaurierung des über hundert Jahre alten Gebäudes Kenntnisse früherer Bautechniken unabdingbar waren, die jedoch in den Jahren nach der Unabhängigkeit fast vollständig verloren gingen.

So wurden Freiwillige nach Frankreich geschickt, um sich bei Handwerkern in den entsprechenden Fertigkeiten ausbilden zu lassen. Anschließend konnten sie ihr neu erworbenes Wissen bei der Renovierung praktisch umsetzen und später auch an arbeitslose Jugendliche weitergeben, welche die Schule frühzeitig verlassen hatten.

Seit wenigen Jahren können diese im Projekt "Santé Sidi El Houari" eine anerkannte Ausbildung in drei verschiedenen Bauberufen absolvieren. Gegenwärtig erhalten insgesamt 57 Jugendliche auf diese Weise eine Berufsausbildung.

Neues Bürgerbewusstsein schaffen

Mit der Renovierung des alten Krankenhauses verfolgt Bereksi aber noch andere Ziele, die über den Rahmen eines soziokulturellen Projekts hinausgehen. "Santé Sidi El Houari" soll nämlich die Menschen in Oran dazu bewegen, einen "anderen Blick" auf ihre eigene Stadt und deren reiches kulturelles Erbe zu werfen.

Dr. Kamal Bereksi, Initiator des Projekts; Foto: Beat Stauffer
Der Arzt Kamel Bereksi ist Initiator und Präsident des Projekts "Santé Sidi El Houari" und bis heute die treibende Kraft des gleichnamigen Vereins

​​Er möchte, dass sich die Menschen für die Erhaltung ihrer Stadt, aber auch für die Umwelt und die Frage der Menschenrechte interessieren, sagt der engagierte Arzt. Auf solche Weise solle letztlich ein neues "Bürgerbewusstsein" gefördert werden, dessen Mangel in Algerien vielerorts beklagt wird.

"Santé Sidi El Houari" verfügt noch über eine weitere Dimension. Es geht, vereinfacht gesagt, um die Frage der algerischen Identität.

Bei der Renovierung und Instandhaltung des alten Militärkrankenhauses, so berichtet Bereksi, seien Schichten aus drei verschiedenen Bauepochen freigelegt worden: der französischen, der spanischen und der türkischen. Dies zeige deutlich, wie stark die Geschichte der Stadt Oran von den verschiedenen Völkern und Kulturen des Mittelmeerraums geprägt worden sei.

Doch in den Jahren nach Erlangung der Unabhängigkeit wollte Algerien von seiner komplexen und vielschichtigen Geschichte nichts mehr wissen und definierte sich als ausschließlich arabisches und islamisches Land.

Blick in die leidvolle algerische Geschichte

Wie ein "Bleideckel" habe diese von oben verordnete Identität über dem Land gelegen, sagt Bereksi. Doch diese Epoche sei nun definitiv zuende; die Menschen hätten instinktiv gespürt, dass diese Selbstdefinition nie der Wirklichkeit entsprochen habe.

Bereksi plädiert dafür, dass sich Algerierinnen und Algerier vermehrt auf die Suche nach ihren "authentischen Wurzeln" machen und auf diese Weise eine neue Identität finden. Dies sei dringend nötig; die Orientierungslosigkeit vieler Jugendlicher in Algerien liege nicht zuletzt darin begründet.

Um Jugendlichen aus dem Quartier einen Zugang zu den übertünchten Schichten der „Algérianité“ zu ermöglichen, haben sich Bereksi und seine Mitstreiter für eine besondere Strategie entschieden: Sie bilden eine Gruppe von Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 25 Jahren aus, die dann ihrerseits ihr Wissen an Gleichaltrige weitergeben.

Diese organisieren dann zum Beipiel Führungen durch das Viertel, spielen improvisierte Szenen mit Figuren aus der algerischen Geschichte oder lassen historische Monumente abzeichnen.

Diese "Aneignung" der leidvollen algerischen Geschichte scheint vielen Kulturschaffenden und Intellektuellen in Oran als unabdingbar für eine Weiterentwicklung der algerischen Gesellschaft.

"Immer mehr Menschen erkennen, dass Algerien nicht einen Ursprung hat, sondern mehrere Wurzeln", sagt etwa Mohamed Miliani, Professor für englische Literatur an der Universität Oran. Man könne unmöglich einen Teil dieser Vergangenheit einfach verdrängen oder gar ausradieren. Wer dies tue, begehe einen "Akt der Gewalt".

Auch Miliani plädiert dafür, auf dieser Basis zu einem neuen algerischen Selbstverständnis zu finden. So gedacht, wird das Algerien der Zukunft sich nicht gegen Europa abschotten, sondern, so Miliani, "vielfältig, mehrsprachig und multikulturell" sein.

Offen bleibt, ob solche Ansichten auch andernorts in Algerien auf Resonanz stoßen oder ob sie nur auf dem sehr spezifischen Boden von Oran gedeihen können.

So oder so: Projekte wie "Santé Sidi El Houari" zeugen von dem Wunsch nach Aufbruch und verbreiten daher so etwas wie Hoffnung. Und dies benötigt das immer noch von den Jahren des Terrors gezeichnete Land mehr als alles andere.

Beat Stauffer

© Qantara.de 2006

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Webseite des Projektes "Santé Sidi El Houari" (frz.)